27 - Wie man das Meer begrüßt.

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✦ BOY - Drive Darling ✦


Am nächsten Morgen gehe ich mit Papa, Elias und Basti auf das Revier und gebe meine Anzeige gegen Malte auf. Es tut mir nur kurz leid, denn schon bald flackern wieder Bilder der letzten Monate vor meinen Augen. Die Polizistin ist nett, was vielleicht auch an Papas Position liegt. Aber es fühlt sich gut an, so viele Menschen hinter einem zu wissen. Er braucht Hilfe. Und vielleicht ist diese Anzeige gut um ihn in die richtige Richtung zu schubsten. Du hast es überstanden. Malte lässt dich jetzt hoffentlich in Ruhe. Ich hoffe es, dass er mich in Ruhe lässt. Dir stehen sechs Wochen Italien bevor. Italien, Emma. Da kannst du am Meer sitzen und lesen. Oder dir einfach nur das Meer ansehen.


Die letzten Tage in der Schule, vor den Sommerferien, vergehen wie im Flug und ziemlich ereignislos. Malte sehe ich die ganzen Tage nicht mehr. Kurz meldet sich mein schlechtes Gewissen und ich frage mich, ob ihm was passiert ist. Aber das schlechte Gewissen flackert nur kurz auf. Es ist, als wäre ich neu geboren. Als wäre ich ein Schmetterling der seinem beengenden Kokon entschlüft ist und sich nun am Licht der Sonne stärkt.


Elias hat mir die Route ungefähr aufgeschrieben. Wir werden fast zehn Stunden unterwegs sein, aber eine Stunde davon sind wir auf der Fähre. Und ich freue mich schon so sehr auf den Moment, in dem ich das Meer das erste Mal wieder sehe. Das Meer. Ich vermisse es so. Den meisten Teil der Fahrt verbringen wir allerdings auf der Autobahn. Du musst Elias wachhalten und ihr müsst in regelmäßigen Abständen Pausen machen. Ich verfluche mich, immer noch keinen Führerschein gemacht zu haben. Dann hätten wir uns wenigstens abwechseln können. In Piombino werden wir uns auf die Fähre begeben und in Portoferraio anlegen. Das Haus von Elias' Tante befindet sich in der Nähe des Lido di Capoliveri, einem wunderschönen Strand. Mein Bauch kribbelt vor Vorfreude. Ich liebe kleine Roadtrips, Musik, Snacks, Gespräche und vorbeirauschende Landschaften. Die kurzen Pausen auf den Rastplätzen, die Anonymität, die anderen Reisenden mit ihren Autos. Diese Momente, in denen man ein kleiner Teil vom Leben fremder Menschen ist.


Und dann ist es plötzlich Freitag und der letzte Schultag ist vorbei und ich stehe mit Nina in meinem Zimmer. Elias und ich wollen am Sonntagmorgen fahren und ich verbringe Freitag und Samstag mit Packen und Gesprächen mit Nina. Unschlüssig stehen wir vor dem Kleiderschrank. Nina hat sich sozusagen selbst eingeladen mir Tipps für die Kleiderordnung zu geben. Zu meinem Leidwesen hat sie mir eigenartige Klamotten ausgesucht. Viele Kleider, aber ich hätte gerne meine Hosen und meine Shirts. Davon darf ich allerdings nur ein paar einpacken. Mann, ist das mein Koffer oder ihrer?  Es klopft und Papa steht in der Tür. Als Nina wegsieht, verstecke ich heimlich drei Hosen und drei Shirts im Koffer und werfe dafür zwei Kleider in den Schrank.


"Alles gut bei euch? Ich fahre einkaufen, brauchst du noch was, Emma?"

"Vielleicht ein paar Flaschen Wasser? Den Rest kaufen wir morgen." Dankbar lächle ich ihn an und er zwinkert mir zu bevor er die Türe schließt.


Als ich mich wieder Nina zuwende, hat sie die zwei Kleider in der Hand, die ich heimlich in den Schrank geworfen habe. Sie hebt eine Augenbraue und schüttelt grinsend den Kopf.

"Du musst unbedingt Kleider mitnehmen, Emma. Es wird dort so warm sein. Glaub mir." Sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich rolle mit den Augen. Mein Koffer ist voll, aber ich bin froh, dass wir im Auto fahren.

"Aber ich habe doch schon so viele Kleider dabei. Das reicht."

Nina sieht mich lange ernst an, grinst dann aber doch und wirft die zwei Kleider wieder auf den Klamottenhaufen in meinem Schrank. Nach dem Urlaub räume ich auf.

Some of us are human | ✓Where stories live. Discover now