07 - Wie man sich verläuft.

Beginne am Anfang
                                    

Schließlich wendet er sich wieder mir zu. Ich sitze immer noch wartend vor ihm - nicht wissend, ob mein letztes Stündlein geschlagen hatte oder nicht. Ich habe Angst in der Dunkelheit.

"Es ist viel zu dunkel für ein Mädchen wie dich, um am Fluss zu sein. Hier treiben sich manchmal komische Gestalten herum." So wie du? Ich nicke nur. Wieder ein Lächeln. "Ich bin Flo. Und du bist ...?" Ich schlucke. Soll ich ihn anlügen? Aber er wirkt eigentlich ganz nett? Ja, Emma. Alle Serienmörder wirken ganz nett, ansonsten wären die Frauen ja wohl nie mit ihnen mitgegangen? Manchmal bist du echt nicht der hellste Stern am Firmament. Ich zwinge meinen Kopf zur Ruhe und beschließe, mich mit meinem richtigen Namen vorzustellen. Was habe ich zu verlieren?  So hat er wenigstens den Namen im Kopf - falls er ein Serienmörder ist.

"Emma" antworte ich ihm und erhebe mich zeitgleich von der Bank. Mir ist kalt. Ich weiß nicht, ob es an der Kälte des Winters liegt, die mich vollends einhüllt oder, ob es an der Angst liegt, die sich langsam durch meine Blutbahnen frisst. "Danke für den Tipp. Ich muss jetzt gehen." Ja, an ihm vorbei. Du hättest keine Chance, Emma.

Er tut so, als hätte er den zweiten Satz nicht gehört und bietet mir eine Zigarette an. Rauchst du schon wieder eine? Du hast doch gerade geraucht? Ich schüttle den Kopf und wende mich ab. "Emma. Willst du mir nicht noch ein bisschen Gesellschaft leisten?" Seine Stimme klingt nett und hüllt mich ein. Sein Feuerzeug klickt, eine kleine Flamme durchbricht die Dunkelheit und die Zigarette brennt. Er atmet den Rauch aus und sieht mich an. Seine Augen sind durch die Schatten um uns herum dunkel. Wahrscheinlich braun, aber nicht annähernd so warm wie Elias'. Ich bin wie festgefroren und verstehe nicht, warum ich nicht einfach verschwinden kann. Bist du jetzt in Schockstarre, Emma? Denkst du, das funktioniert? Denkst du, dass, wenn du dich nicht mehr bewegst, er dich nicht mehr sieht und erkennt? Es funktioniert nicht. Er kommt mir näher. Auch, wenn er nicht groß ist, er überragt mich um mindestens einen halben Kopf. Seine Zigarette ist gefährlich nah an meinem Gesicht, er grinst süffisant und ich habe plötzlich ziemlich Angst. Weit und breit ist niemand. Wenn ich schreien würde, würde mich niemand hören.

Ich kann mich plötzlich aus der Schockstarre lösen, drehe mich auf dem Absatz um und laufe. Ich habe keine Ahnung, wohin, denn den Weg zu Papas Haus will ich nicht laufen. Dumm. Dumm. Dumm. Dumm. Dumm. Dumm. Du bist einfach nur dumm, Emma. Verdammt. Ich laufe. Und mein Herz schlägt mir gegen den Brustkorb.

"Emma!" Ruft er, seine Stimme ein Singsang. Aber kein schöner Singsang wie der eines Vogels. Eher wie etwas wirklich Gefährliches. Ich höre Schritte und sie kommen näher. Ich war noch nie eine der schnellsten im Sprinten und ich merke, wie mir auch schon langsam die Luft ausgeht. Das Herz pocht schmerzhaft gegen den Brustkorb, als säße dort drin jemand am Schlagzeug und spielte sein großes Solo. Ich habe Seitenstechen, meine Hand liegt auf meiner rechten Lunge. Seine Schritte kommen näher und ich bekomme vor lauter Angst immer weniger Luft. Great. Ich konnte mich nicht einmal von Papa verabschieden.

Als ich um die Ecke biege, beschließe ich, mich hinter dem nächsten Busch zu verkriechen.

Ich warte und versuche, die Luft anzuhalten. Das ist gar nicht so einfach, wenn man vorher um sein Leben gelaufen ist. Hach, Emma. Du hättest doch mehr Sport machen sollen. Ich lausche. Schritte. Ein Lachen.

"Komm schon, Emma. Ich will doch nur spielen. Man trifft hier so selten so hübsche Mädchen wie dich. Ich tue dir schon nichts. Vertrau mir! Komm raus! Oder soll ich dich suchen? Können wir auch machen."

Seine Stimme hallt durch die leeren Straßen. Nur die dunklen Fenster der Häuser sind stumme Zeugen des Schauspiels vor den Häusern. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter und ich schüttle mich. Ich habe Angst und zittere. Seine Schritte entfernen sich und ich wäge mich kurz in Sicherheit.

Ich weiß nicht, was in den nächsten Minuten passiert, aber ich sehe Sebastian vor mir. Klavierspielend. Ich erinnere mich an den Herzschlag, den ich damals gespürt habe. Mir schnürt es vor Angst die Kehle zu. Ich will nur einmal noch in seinen Augen versinken. Ich will ihn noch einmal sehen. Ich will noch einmal seine Stimme hören. Ich will mich noch von Papa verabschieden. Papa. Ich will nicht, dass es jetzt vorbei ist. Ich halte die Luft an.

Schritte. Ganz in der Nähe. Er ruft nach mir. Mein Namen hallt von den Hauswänden wider und ich bekomme Gänsehaut. Hör auf zu schreien, verdammt! Ich habe Angst, zu laut zu atmen, mich durch irgendetwas bemerkbar zu machen. Meine Hände zittern und ich kann sie kaum noch ruhig halten. Ich habe das Gefühl, der ganze Busch wackelt mit mir. Ich habe das Gefühl, er weiß längst, wo ich bin. Er will nur ein dummes Spiel spielen und mich nur noch mehr ängstigen. Er weiß, dass ich keine Chance habe. Ich kann ihm nicht mehr entkommen.

"Ich finde dich, Emma. Ich finde dich. Komm' schon, ich will wirklich nur mit dir reden und vielleicht ein bisschen Spaß haben. Dass ihr Mädchen immer so prüde sein müsst. Ich tue euch doch nichts!"

Er lacht. Ich kann seine Schuhe sehen, sie zeigen in meine Richtung. Kalter Angstschweiß läuft an meinen Schläfen herab und gleichzeitig ist mir so kalt. So kalt. So kalt. Ich wusste gar nicht, dass mein Herz so schnell schlagen kann.

Und dann eine eiskalte Hand auf meinem Arm, die andere in meinen Haaren. Er zieht mich aus dem Busch und ich versuche zu verhindern, dass er eines meiner Haare ausreißt. Nicht meine Haare, bitte. Mama, ich habe Angst. Mama. Komisch, wie man vorher noch kurzzeitig über den eigenen Tod nachgedacht hat und wenn es einem dann plötzlich an den Kragen geht, hat man Angst. Der Schrei bleibt mir im Halse stecken. Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln, er zieht zu stark an meiner Kopfhaut. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um das Ziehen etwas auszugleichen.

"Hallo, Emma. Hab ich dich!" Er grinst.

Mir wird schlecht und ich übergebe mich auf seinen Lederschuhen. Er flucht und stößt mich von sich. Ich nutze die Gelegenheit und laufe.

Schneller. Schneller. Schneller. Schneller. Komm' schon, Emma. Nur dieses eine verfluchte Mal. Komm schon!

Ich laufe, so schnell wie noch nie in meinem Leben. Und dann laufe ich gegen eine Wand.

Some of us are human | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt