30 Kapitel

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Lucas P.o.V.

Und schon waren wir wieder im Flugzeug Richtung Zuhause. Auch die letzten Tage waren nun vorbei. Nach unser ersten Schwimmstunde, hatte Samantha mich erstrecht gemieden. Aus diesem Mädchen sollte man mal schlau werden.

Gut, ich gab zu, früher war ich nicht gerade nett zu ihr, aber ich hatte mich geändert. Gut, auch nur wegen diesem Zettel aber je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto mehr tat es mir Leid, was ich ihr je angetan und zu ihr gesagt hatte. Die Regenwürmer in ihrer Federtasche, die Dusche aus Schlamm im Klassenzimmer, die tausendmal gestellten Beine, die Beleidigungen. Einfach alles tat mir Leid. Wenn ich doch nur wüsste, warum ich das getan hatte? Anfangs ging es mir nur um Ihre Aufmerksamkeit, doch irgendwann war dies ausgeartet. Ich wollte cool sein, doch zu welchem Preis? Das war mir irgendwie erst jetzt klar geworden. War ich Schuld an ihren Mordgedanken?

Wütend kniff ich die Lippen aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Neben mir schlief Leon tief und fest. Hannah hatte mit ihm mal wieder Schluss gemacht, am Gate. Vor einer halben Stunde. Also hatte er sich statt einer gleich drei Beruhigungstabletten reingehauen und schlief nun wie ein Baby. Ich vertand dieses Mädel einfach nicht. Sobald sie zusammen waren, sah sie aus wie die Nutte höchstpersönlich und sobald sie sich trennten, war sie wieder ein liebes kleines Mädchen, was niemals was schlimmes tun würde. Leon hatte eindeutig eine bessere verdient, aber das kapierte er leider nicht. In diesem Fall war er stur wie sonst was.

Das war auch der Grund für unsere Prügelei vor ein paar Wochen gewesen. Ich hatte ihm mal wieder, wenn auch nicht ganz so nett, erzählt, was ich von seiner Freundin hielt. Das Ganze lief nicht so gut wie erhofft und wir mussten beide zu den Fäusten greifen. Vielleicht hätte ich Hannah nicht "Dummes Klappergestell", "Olles Saufhuhn" oder "Geistesgestörtes Individum, was nur durch einen Fehler ihrer Eltern entstanden ist" nennen sollen. Und das waren noch die netten Beleidigungen gewesen.

Ich lehnte den Kopf nach hinten, sortierte meine langen Beine und schloss die Augen. Ich hasste Flugzeuge. Diese kleinen Kinder nervten sowas von. Genau vier Reihen vor mir saß ein kleiner Junge mit seiner noch kleineren Schwester. Dem Geschrei nach zu urteilen, hatte er sich jetzt dazu entschlossen ein bisschen Spaß zu haben. Dies hieß so viel, dass er sie jetzt ärgerte und an ihren kleinen Zöpfen zog, bis sie ihn schlug woraufhin er zurück trat und beide anfingen zu schreien. Die arme Mutter. Wenn ich diese beiden Hosenscheißer sah, nahm ich mir vor in Zukunft noch besser zu verhüten. Sicher ist sicher. Ich wollte echt keine Kinder haben, die nach mir kommen würden! Gott, bewahre die Welt nur vor solchen Kindern, flehte ich in Gedanken.

Meine Gedanken begannen sich nun um ein blondes Mädchen zu kreisen, welches rein zufällig mit mir hier im Flugzeug saß. Ihr Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge und ich musste wie blöd lächeln. Hoffentlich sah mich keiner. Ihre langen blonden Haare, ihre blauen Augen, die einem direkt in die Seele zu blicken schienen und in die man sich so hoffnungsvoll verlieren konnte. Wenn sie mich anblickte, überkam mich immer ein Schauer. Wie konnte nur so ein kleines Wesen einen so traurig anschauen? Früher dachte ich immer, sie schaute einen emotionslos an, doch seit ich Zeit mit ihr verbrachte, habe ich bemerkt, das dies nicht der Fall war. Ihre Augen wurden von einer unendlichen Traurigkeit regiert. Wie gerne ich doch nur wüsste wieso. War ich daran Schuld? Wer war daran Schuld? So viele Fragen. Die machten einen echt schläfrig. Mit den Gedanken bei Sam schlief ich ein.

Die Landung verlief reibungslos. Das schwere war eher Leon zu wecken. Am Ende trug ich ihn raus. Die komischen Blicke waren mir egal. Ich würde meinen besten Freund ganz bestimmt nicht im Flugzeug lassen. Unsere Lehrer kriegten einen letzten Wutanfall. Ich vermutete, sie würden sich jetzt allesamt einweisen lassen. Ihre Nerven waren alle aufgebraucht. Leons Familie bekam einen Schreikrampf, als ich ihn auch aus dem Bus auf den Schulhof trug. Die Schüler, die noch da waren, begannen sofort alles zu filmen. Wenn sie Glück hatten entdeckte irgendein Filmproduzent oder Preisverleiher das Video im Internet und sie bekamen einen Preis für die beste Tragödie. Es war sehr amüsant.

Leons Mutter bekam ein Schreikrampf. Sein Vater meckerte sofort mit den Lehrern, welche wiederum zurück schrieen. Elli bekam von ihrer Mutter richtig Ärger. Daraufhin flippte Elli aus, dass sie nicht das Kindermädchen von ihm sei. Dann mischte sich auch noch Diego ein, woraufhin Elli ihm eine Ohrfeige verpasste. Das sorgte dafür, dass Diego sich auf sie stürzen wollte. Dies hatte zur Folge, dass Grac wutendbrannt ihre Zigarette zu Boden schmiss und sich zwischen die beiden stellte. Ihr Vater, unser Direktor, kam kreidebleich angerannt und fragte überfordert, was los sei. Daraufhin explodierte eine unserer Lehrerin und meinte, wir seien ein hoffnungsloser Haufen voller Versager und sie würde gerne kündigen wollen. Und dann fing der Spaß erst richtig an. Jeder beleidigte jeden und am Ende brach eine riesige Prügelei zwischen den beiden Klassen aus, da so manche düsteren Geheimnisse ausgeplaudert wurden. Die Wachmänner der Schule trennten sie.
Und ich stand immer noch mit Leon in meinem Arm neben meinen Eltern und sah verwirrt zu. Die Wachmänner ordneten Drogen- und Alkoholtests an, doch die Antwort war eindeutig. Peinlich berührt zogen die Eltern mit ihren Kindern ab, Leons Vater trug seinen Sohn ganz selbstverständlich zum Auto.

Mein Blick fiel auf Samantha, welche wie erstarrt beim Bus stand. Ihr Vater war nirgendwo zu sehen. "Komme gleich", nuschelte ich und huschte zu ihr rüber. "Sollen wir dich mitnehmen", fragte ich und trat unruhig von einen Fuß auf den anderen. Hastig raffte sie sich zusammen, lächelte leicht und schüttelte ihren Kopf: "Alles gut, ich fahre alleine!" Wie zum Beweis schwenkte sie einen Schlüsselbund und huschte dann mit einem leisen "Bye" davon. Nicht mal ihren großen Koffer ließ sie mich tragen.
Ich erwachte aus meine Starre erst, als mein Vater einen Arm um mich legte und meine neunjährige Schwester schief anfing zu singen: "Liebespaar, küsst euch mal, morgen ist das Baby da!"
Meine Mutter ergriff lachend meinen Koffer. "Wer war denn die Kleine", fragte sie, sobald wir im Auto saßen. "Samantha", nuschelte ich und gab meiner singenden Schwester einen Klaps auf den Kopf. "Und die geht in deine Klasse", fragte nun auch mein Vater interessiert, während er das Auto geschickt in den Verkehr einfädelte. Anscheinend hatte er beschlossen, sich mal wieder für mich zu interessieren.
Typisch meine Familie. Es war ein hin und her mit ihnen und sie waren immer am neusten Tratsch und Klatsch interessiert. "Ja, sie ist halt nur sehr klein", erklärte ich ausweichend. "Allerdings", meinte meine Mutter nur. Sally hüpfte neben mir immer wieder auf ihrem Sitz auf und ab. Für ihre neun Jahre war sie noch sehr überdreht und unschuldig. Ihre braunen Zöpfchen sprangen auf und ab, während sie mit glänzenden braunen Augen schief vor sich her sang. Das Gesangstalent meiner Mutter war offenbar lachend und winkend an ihr vorbei gerauscht.

"Wie läuft es mit der Firma", fragte ich meinen Vater und lehnte mich etwas weiter nach vorne. Manchmal interessierte mich der Bumms tatsächlich. "Ganz gut. Ich hatte letzte Woche ein Geschäftsessen mit Mr. Duncan", erzhälte er und schaute mich kurz flüchtig an. "Er hat wohl auch eine Tochter in deinem Alter. Soweit ich weiß, geht sie auf deine Schule." Geschickt bog er ab und gab Gas. Er liebte das Autofahren einfach. Je schneller desto besser. Früher war er sogar Rennfahrer gewesen, doch er hatte dies zur Liebe meiner Mutter aufgegeben und eine Firma gegründet, welche irgendwas verkaufte. So genau konnte ich mir das nicht merken.

"Das ist Samantha", entgegnete ich steif und ließ mich zurück fallen. Jetzt redete Mum wieder los. "Das arme Mädchen." Auf meinen Blick hin redete sie weiter. "Ihr Vater hat uns erzählt, dass seine Frau vor Jahren gestorben ist. Es muss schrecklich sein ohne Mutter aufzuwachsen." In ihrer Stimme lag Mitgefühl. Auch Sally schwieg außnahmsweise. Nachdenklich schaute ich raus. Ihre Mutter war also tot. War das der Grund für ihre Abneigung gegen alles und jeden?

I'm not living, I'm just survivingWhere stories live. Discover now