26 | Genug ist genug

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Kalte Panik erfasste Lucy

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Kalte Panik erfasste Lucy. Nicht länger darum bemüht, keine Geräusche zu verursachen, rannte sie an der Seite von Arvid den Gang entlang zurück zur Lagerhalle. Maria war knapp hinter ihnen, die Waffe in beiden Händen, den Blick abwechselnd hinter sie gerichtet und nach vorne. Sie selbst wagte es nicht, sich umzudrehen. Sie hörte das Trampeln von mindestens drei Paar schweren Stiefeln und das sagte ihr genug.

Mit einem langen Satz sprang sie über die Steinhaufen, der vor dem Wanddurchbruch lag. Zurück in der Lagerhalle ging ihr auf, wie eng sich die Schlinge um sie zugezogen hatte. Die riesige Glasfront, die über die gesamte Länge der gegenüberliegenden Seite lief, bot ebenso wenig Ausweg wie die beiden Türen an den anderen beiden Seiten. Sie waren von Geröll und umgekippten alten Gerätschaften versperrt.

»Was jetzt?«, fragte sie hektisch.

Arvids Blick fuhr wild durch den Raum, während Maria am Loch in der Wand Position bezog. Die erfahrene Frau wirkte beunruhigt, aber immer noch so, als hätte sie einen Plan. »Mit etwas Glück erwische ich alle, ehe sie hier sind. Seid ruhig und versteckt euch!«

Panisch sah Lucy sich um. Die Lagerhalle war voll mit Kisten und Eimern und Regalen und schwerem Gerät. So viele Optionen, sich zu verbergen, aber keine schien ihr sicher. Während sie noch mit rasendem Herz die Möglichkeiten sondierte, packte Arvid sie und zog sie mit sich unter einen alten Gabelstapler, der noch eine Palette Ziegelsteine geladen hatte.

Nur wenige Meter von Maria entfernt kauerten sie halb liegend, halb hockend hinter den Steinen und spähten vorsichtig zu ihr. Ein Schuss löste sich aus ihrer Waffe und hallte ohrenbetäubend von den hohen Wänden wider. Adrenalin pumpte durch ihre Adern. Sie musste sich festhalten, um nicht sogar in der Hocke umzukippen.

»Alles okay?«, kam es kaum hörbar von Arvid.

Sie nickte, auch wenn sie alles andere als okay war. Die Lebensgefahr, in der sie schwebten, war viel zu schnell viel zu real geworden. Dass sie nur hier sitzen und abwarten konnte, machte sie wahnsinnig.

Mehrere Schüsse erklangen, einige aus dem Gang, einige von Maria. Mit jedem Schuss zuckte Lucy zusammen, mit jedem Schuss befürchtete sie, dass es Maria erwischte. Hilfesuchend schaute sie zu Arvid. »Was machen wir jetzt? Wir können doch nicht einfach nur hier sitzen!«

Sie las in seinen Augen dieselbe Hilflosigkeit und Frustration, die sie selbst spürte. Sie war ihm so nah, dass sie das Pochen seines Herzes gegen ihren Oberarm spüren konnte. Es raste mindestens ebenso wie ihres. Sekundenlang starrten sie sich nur an, gefangen in der Machtlosigkeit der Situation. Dann brach etwas in seinen Augen.

Er legte ihr eine Hand in den Nacken und schaute sie ernst an. »Ich hol dich hier raus, Lucy. Ich verspreche dir, dir wird nichts passieren.«

Sie wollte erwidern, dass das ein sehr leeres Versprechen war, doch sie schluckte die Worte runter. Seine Aussage diente vermutlich dazu, ihm ebenso viel Mut zu machen wie ihr. Stattdessen lächelte sie zaghaft.

Bevor sie verstand, was er vorhatte, war er in geduckter Haltung aufgesprungen und lief zu der Fensterfront. Sie waren im ersten Stock eines Gebäudes mit sehr hohen Decken, Lucy wusste, dass es Irrsinn wäre, auf diesem Weg zu versuchen zu fliehen. Doch sie teilte seine Verzweiflung und so huschte sie ihm hinterher.

»Da, schau!« Arvid deutete auf eine Ansammlung von Büschen genau unter ihnen. »Wenn wir die Fenster hier aufbrechen oder zerschlagen können, haben wir vielleicht eine Chance. Die Büsche könnten unseren Fall abfedern.«

Lucy verkniff es sich, ihm zu sagen, wie verrückt diese Idee war, insbesondere für ihn mit seiner immer noch frischen Schusswunde. Sie brauchten Hoffnungen und einen Ausweg. Also konzentrierte sie sich darauf, die Fenster zu untersuchen. Die Rahmen waren alt und rott. Sie aufzubekommen, wäre das Leichteste an der Sache.

Ein markerschütternder Schrei hinter ihnen beendete alle Gedanken an Flucht. Zeitgleich wirbelten sie herum und sahen, wie Maria zu Boden stürzte. Ohne darüber nachzudenken, was sie da tat, setzte Lucy sich in Bewegung. Auch wenn sie Maria seit Jahren nicht gesehen hatte, sie war immer wie eine Tante für sie gewesen. Der Gedanke, dass sie wegen ihr jetzt verletzt wurde, war unerträglich.

»Lucy! Stopp, was zum Teufel machst du da?« Sie hörte Arvid hinter sich, seine Stimme schrill und panisch, doch sie kümmerte sich nicht um ihn.

Mit einem letzten Satz war sie bei Maria, die reglos am Boden lag. Blut quoll aus einer Schusswunde in der Mitte ihres Brustkorbs. Noch bevor sie nach einem Puls tastete, wusste Lucy, was geschehen war. Maria war tot.

Für einen Moment konnte sie nur erstarrt zu der Freundin ihrer Eltern hinabschauen. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Das war nicht Teil des Plans gewesen. Maria zu kontaktieren, hätte Sicherheit bedeuten sollen. Nicht ihren Tod. Ihr Blick fiel auf die Waffe, die die ältere Frau noch immer locker in einer Hand hielt. Mit zitternden Fingern griff sie danach.

»Scheiße, bist du wahnsinnig geworden?« Plötzlich war Arvid bei ihr und packte sie mit beiden Händen.

Mit einem Ruck kam Lucy zurück in die Realität. Die Zeit lief weiter. Ein Schuss ertönte und im selben Moment riss Arvid sie zu Boden. Knapp über ihnen schlug eine Kugel ein. Jetzt war keine Zeit für Trauer und Reue, sie mussten verschwinden. Die Waffe in der Hand stemmte Lucy sich hoch und nickte Arvid grimmig zu.

»Durchs Fenster!«, erklärte sie entschieden.

Sie kamen nur drei Schritte weit, da tauchten zwei bewaffnete Männer im Wanddurchbruch auf und schossen. Mit einem Fluch ging Arvid neben ihr zu Boden. Eine Kugel hatte seine Wade gestreift.

»Lauf weiter!«, schrie er ihr zu, während er darum kämpfte, wieder auf die Beine zu kommen.

Erneut schien die Zeit sich zu verlangsamen, als wäre alles um sie herum in Zeitlupe gefangen. Lucy sah, wie die beiden schwarz vermummten Männer ihre Waffen auf Arvid richteten. Wie sein Kopf herumschnellte, als er einen hektischen Blick nach hintern riskierte. Wie seine Augen riesig wurden vor Panik. Er hatte keine Chance, dass der nächste Schuss ihn nicht traf.

Eiskalte Entschlossenheit ergriff Lucy. Genug war genug. Das konnte sie nicht zulassen. Ohne zu zögern packte sie die Waffe mit beiden Händen.

Und schoss.



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