14 | Schauergeschichten

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Lucy holte tief Luft und ließ sie dann langsam durch ihre Nase wieder entweichen

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Lucy holte tief Luft und ließ sie dann langsam durch ihre Nase wieder entweichen. So attraktiv sie John – nein, Arvid – auch heute Morgen noch gefunden hatte, so genervt war sie jetzt von ihm. Genervt und ein kleines Bisschen verängstigt. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass die von Thulens es auf sie abgesehen hatte, weil sie Arvid geholfen hatte, wäre sie ihm ganz sicher nie tief in den Wald gefolgt.

Sie faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch und erwiderte Arvids Blick mit gleicher Intensität. »Hi. Ich bin Lucinda, sechsundzwanzig Jahre alt und gerade in Ausbildung zur Tiermedizinischen Fachangestellten.«

Arvid rollte mit den Augen. »Bullshit. Wer bist du wirklich?«

Sie lächelte ihn süßlich an. »Ich bin genau das, was ich beschrieben habe. Die richtige Frage, die du mir eigentlich stellen solltest, ist: Wer waren meine Eltern?«

Sie konnte sehen, wie ihr Tonfall Ärger in Arvid anstachelte. Ein Teil von ihr wollte schreiend die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil sie so fahrlässig in der Gegenwart dieses gefährlichen Mannes war. Doch trotz der sehr rationalen Angst, die sie verspürte, war sie viel mehr genervt und am Ende ihrer Geduld. Sie würde es ihm nicht leichter machen als er ihr.

Genau wie sie zuvor atmete Arvid tief ein und langsam wieder aus. »Okay. Wer waren deine Eltern«

Schon als ihr in der Hitze des Augenblicks rausgerutscht war, dass sie seine Identität erraten hatte, wusste Lucy, dass sie ihm mehr über sich verraten musste, als vermutlich gesund war. Auf dem Weg zu dieser Hütte, den sie schweigend verbracht hatten, hatte sie sich entsprechend sorgfältige Worte überlegt.

»Meine Eltern waren darauf spezialisiert, Bedrohungen für die Öffentlichkeit zu neutralisieren, wenn die offiziellen, legalen Wege ausgeschöpft waren.«

Arvids Augen weiteten sich unmerklich. »Kopfgeldjäger?«

»Natürlich ist das das Erste, woran du denkst«, gab sie ironisch zurück. »Nein. Meine Eltern waren keine gemeinen Kriminellen. Sie waren einfach nur kleine Rädchen in dem riesigen Apparat, der Deutschland am Laufen hält.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kopfgeldjäger mit offiziellem Ausweis also, ist am Ende des Tages dasselbe.«

Energisch beugte Lucy sich vor. »Nur weil du Kopfgeldjäger bist, heißt das nicht, dass alle, die andere Menschen aufspüren und zur Rechenschaft ziehen, es auch sind. Sie hatten immer offizielle Aufträge und haben nur dann gehandelt, wenn der Rechtsweg aussichtlos war. Und sie hätten nie unschuldige Menschen verfolgt und getötet, nur weil es Geld als Belohnung gab. Anders als du, wie man so hört.«

»Wie man so hört, hm?« Arvids Stimme klang ähnlich wütend, wie Lucy sich fühlte. »Und wo hat man das so gehört? Woher weißt du, wer ich bin?«

Sie rang kurz mit sich, doch auch dieses Detail konnte sie nach ihrem Ausrutscher nicht verbergen, das wusste sie nur zu gut. »Die von Thulens haben den Geheimausgang für uns gebaut. Als meine Eltern gespürt haben, dass ihre Zeit auslief, haben sie mich bei meinen Großeltern untergebracht und dann den Tunnel in Auftrag gegeben, falls ihre Feinde es jemals auf mich oder die Großeltern abgesehen haben sollten. Niemand außer mir und deinem Onkel weiß, dass dieser Tunnel existiert und dass der spezielle Gully der Ausstieg ist.«

Arvid begann zu nicken. »Und weil man offensichtlich auf uns beide am Ausgang gewartet hat, war dir klar, dass jemand aus meiner Familie hinter mir her ist. Verstehe. Aber woher wusstest, dass ich ich bin?«

Sie grinste schief. »Kontext. Die Art, wie du über deine Verfolger gesprochen hast, hat den Eindruck erweckt, dass du sehr gut über sie Bescheid weißt. Du hast dich absolut bedeckt gehalten und mir einen falschen Namen gegeben. Du hast dunkle Haare und bist irgendwas um die dreißig, genau wie Arvid von Thulen.«

Lucy hielt kurz inne, ehe sie mit stählerner Härte in der Stimme fortfuhr: »Und ich habe als Jugendliche genug Schauergeschichten gehört über den jungen Arvid von Thulen, der seiner Familie Schande bereitet, weil er gewissenlos als Kopfgeldjäger für jeden arbeitete, der genug zahlt. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis deine Familie sich dazu entschließt, dass sie genug von dir haben.«

Zu ihrer Überraschung fing Arvid an zu lachen. Es klang wenig amüsiert und er schüttelte immer wieder den Kopf, ehe er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich bin der gewissenlose Kopfgeldjäger? Das ist wirklich eine großartige Geschichte. Aber klar, wenn man weiter mit Polizei und Justiz zusammenarbeiten will, dann braucht man natürlich einen Buhmann. Mein Onkel muss deine Eltern richtig gut eingesponnen haben, dass sie ausgerechnet ihm die Sicherheit ihrer Tochter anvertraut haben. Unfassbar.«

»Du willst mir weißmachen, dass das nicht stimmt? Dass meine Eltern jahrelang jemandem vertraut haben, der in Wirklichkeit der große böse Mann im Schatten ist? Dass sie mit all ihrer Erfahrung und all dem Vertrauen, das der ganze Sicherheitsapparat unseres Landes in sie hatte, so naiv waren, sich hinters Licht führen zu lassen?« Lucy konnte nur ungläubig lachen. »Spar dir die Lügen. Ich mag bloß Helferin beim Tierarzt sein, aber meine Eltern haben mir genug beigebracht, als dass ich auf so einen offensichtlichen Versuch, mich auf deine Seite zu ziehen, reinfallen würde.«

Arvid wurde schlagartig wieder ernst und beugte sich erneut weiter übe den Tisch. »Und doch bist du hier, mit mir, anstatt dich meiner Familie auszuliefern und ihnen zu helfen, mich zu fangen.«

Lucy schluckte. Er hatte verdammt noch mal recht mit dieser Aussage und sie verstand es selbst nicht ganz. In der Hitze des Augenblicks war es ihr wie die richtige Entscheidung vorgekommen, also war sie ihm gefolgt. Man hatte auf sie geschossen und das war eine so reale, akute Bedrohung gewesen, dass sie sich sogar an der Seite eines berüchtigten Mörders wie Arvid sicherer gefühlt hatte.

Aber warum?

Langsam ließ sie sich in ihrem Stuhl zurücksinken und schloss die Augen. Etwas an der Situation in der Sackgasse hatte ein ungutes Gefühl in ihr ausgelöst. Es war nicht nur die reine Panik, dass jemand auf sie geschossen hatte. Sie hatte sich innerlich dafür gewappnet, dass es gefährlich sein könnte, in Arvids Nähe zu sein, weil irgendjemand ihn offensichtlich umbringen wollte.

Schlagartig wurde ihr klar, warum die Entscheidung, ihm zu folgen, so glasklar und richtig erschienen war. Sie schlug die Augen wieder auf. Der Schütze auf dem Dach hatte nie direkt auf Arvid gezielt.

Alle Schüsse waren auf sie gerichtet gewesen.




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