3 | Keine Polizei

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Sie hatte den Fremden auf einem Stuhl in der Küche abgesetzt, wo sein Blut zumindest leicht wieder aufzuwischen war

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Sie hatte den Fremden auf einem Stuhl in der Küche abgesetzt, wo sein Blut zumindest leicht wieder aufzuwischen war. Während langsam Bluttropfen eine Lache auf den Fliesen bildeten, durchsuchte Lucy hektisch ihren Medizinschrank. Sie wusste nicht, ob sie noch Desinfektionsmittel hatte, aber zumindest genügend Mullbinden und andere Verbände hatte sie gelagert. Sie schnappte sich alles, was sie an hilfreichen Materialien finden konnte, und eilte dann in die Küche zurück.

Der Mann hatte inzwischen seine Lederjacke ausgezogen und den Ärmel seines Shirts so weit hochgeschoben, dass die Wunde frei lag. Als Lucys Blick darauf fiel, stockte ihr der Atem. »Ist das eine Schussverletzung?«

Er nickte langsam. »Macht mich vermutlich nicht vertrauenswürdiger. Ich erzähl dir gerne mehr, nachdem wir die Blutung gestoppt haben.«

Erneut konnte sie nur über sich selbst den Kopf schütteln, doch sie fragte nicht weiter nach. Einen Mann in ihrer Küche ausbluten zu lassen, kam noch weniger in Frage, als draußen in ihrem Vorgarten. Mit geübten Händen zog sie sich Latexhandschuhe über, ehe sie sich die Wunde genauer anschaute. Sie tastete kurz am Oberarm, dann drückte sie mit mehreren Fingern fest zu. Der Blutfluss wurde langsamer. »Okay, du musst das jetzt für mich übernehmen. Genau da, wo ich meine Finger hab, drück bitte mit deiner anderen Hand drauf.«

Er zog eine Augenbraue hoch, aber tat, was sie ihm sagte. Sie griff nach einer steril verpackten Wundauflage und presste sie zielstrebig auf die nur noch langsam blutende Wunde. Fester als sie es normalerweise tun würde, wickelte Lucy dann einen Mullverband um den Oberarm. Wo sie sonst darauf bedacht gewesen wäre, die Blutzufuhr nicht zu behindern, ging es ihr jetzt erstmal nur darum, dass die Wunde aufhörte zu bluten. Nachdem sie den elastischen Verband fixiert hatte, wickelte sie noch einen weiteren, dickeren um die Wunde. Dann nickte sie zufrieden.

»Du kannst gleich wieder loslassen, aber es wäre am besten, wenn du dich hinlegst. Das verringert den Blutfluss auch ein bisschen.« Sie deutete mit einer Hand durch die Küchentür zum Wohnzimmer, wo ein großes Sofa stand.

Offensichtlich überfordert von ihrer Selbstsicherheit folgte der Fremde ihrer Anweisung ohne Gegenworte. Er erhob sich vorsichtig, griff nach seiner Jacke und schleppte sich mit schweren Füßen in den anderen Raum, wo er die Lederjacke über die Sitzfläche platzierte, eher er sich hinlegte.

Seufzend sammelte Lucy den Verpackungsmüll ein und beförderte ihn in den Mülleimer. Jetzt erst bemerkte sie, wie sehr ihr Herz klopfte. Erschöpft wischte sie sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht. So geübt sie auch generell darin war, Wunden zu versorgen, es war das erste Mal, dass sie eine Schussverletzung gesehen hatte.

Beide Hände auf den Küchentisch abgestützt starrte sie auf die kleine Blutlache am Boden. Was sollte sie jetzt tun? Einen Krankenwagen rufen? Oder eher die Polizei? Die Tatsache, dass er eine Schussverletzung hatte, deutete stark darauf hin, dass er Opfer eines Verbrechens geworden war. Dass er selbst den Notruf noch nicht gewählt hatte, lag vermutlich nur daran, dass er so viel Blut verloren hatte. Da konnten offensichtliche Dinge schon mal übersehen werden.

Mit einem Stöhnen stieß sie sich von der Tischplatte ab. Ein logischer nächster Schritt war auf jeden Fall, das Blut in ihrer Küche wegzuwischen. Sie hatte immer noch die Einmalhandschuhe an, da konnte sie das genauso gut gleich machen. Sie griff nach ihrem Küchenpapier und wischte es vorsichtig auf, so gut sie konnte. Danach wischte sie mit einem feuchten Lappen über die Fliesen. Damit war das Blut zumindest nicht mehr sichtbar, auch wenn die Überreste vermutlich erst mit einer Runde intensiven Feudelns verschwinden würden.

Nachdem sie in der Küche wieder Ordnung gemacht und die Handschuhe weggeworfen hatte, begab sie sich mit einem Glas Leitungswasser in der Hand ins Wohnzimmer. Der Mann lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, beinahe regungslos. Nur das ganz leichte Heben und Senken seiner Brust zeugte davon, dass er noch lebte.

»Ich hab hier ein Glas Wasser«, erklärte sie, während sie das Glas auf dem Couchtisch abstellte und sich auf einen Sessel setzte.

Er öffnete seine Augen einen Spalt. »Danke.«

Sie zuckte als Antwort nur mit den Schultern und sprach stattdessen ein anderes Thema an. »Wie geht es jetzt weiter?«

Sein Blick wanderte vom Wasserglas zu ihr. »Vielleicht solltest du das Blut vor deiner Haustür aufwischen? Wenn das bis morgen Früh dableibt, trocknet es vermutlich fest und ist das deutlich schwerer zu entfernen.«

Das war nicht die Antwort, mit der Lucy gerechnet hatte, doch sie musste zugeben, dass er recht hatte. Blut auf dem Pflasterweg zu ihrer Tür sah vermutlich nicht gut aus. Genervt warf sie einen Blick auf ihr Handy. »Es ist ein Uhr morgens. Ich sollte längst schlafen.«

Hustend richtete der Mann sich ein Stück auf, um nach dem Wasserglas zu greifen. »Ich kann mich nur wiederholen. Es tut mir leid, dass ich dir Umstände bereite.«

Sie beobachtete, wie er mehrere kleine Schlucke nahm und das Glas dann wieder auf den Tisch stellte, ehe er zurück aufs Sofa sank. Sie lächelte schief. »Weißt du, du könntest mir wenigstens deinen Namen verraten.«

Sein Blick schnappte mit einer Intensität zu ihr, die ihr augenblicklich Gänsehaut bereitete. Für einen Moment musterte er sie wieder genauso misstrauisch wie zuvor draußen, doch dann entspannte er sich wieder. »Mein Name ist ... du kannst mich John nennen.«

»John«, wiederholte sie skeptisch.

»Ich meinte das mit dem Blut übrigens ernst. Du solltest das lieber früher als später wegmachen.« Etwas an der Beiläufigkeit, wie er diese Worte sagte, wie er sie dabei nicht ansah und stattdessen unbeeindruckt an die Decke starrte, ließ Lucy stutzig werden.

Sie nahm ihr Handy vom Tisch und stand auf. »Ich glaube, was ich wirklich tun sollte, ist, die Polizei zu rufen. Du wurdest Opfer eines Gewaltverbrechens. Das sollten wir melden.«

Augenblicklich schoss er vom Sofa hoch und packte ihre Hand, in der sie das Handy hielt. Er schwankte leicht, doch sein Griff war unnachgiebig. »Nein. Keine Polizei. Kein Krankenwagen.«

Ein kalter Schauer rann Lucy den Rücken hinunter, während sie in seine braunen Augen hinaufstarrte. Es lag eine Härte darin, die ihr Angst machte. Wenn sie doch bloß auf ihre Instinkte gehört hätte. Einfach die Polizei gerufen hätte, statt ihn vom Gehweg aufzuklauben. Jetzt hatte sie einen großen, muskelbepackten Mann in ihrem Haus, der ganz offensichtlich in illegale Aktivitäten verwickelt war.

Ihre Gedanken rasten. Was tat man in so einer Situation? Sie standen sich so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte, während er offensichtlich angespannt ihre Antwort abwartete. Sie schluckte. Zunächst musste sie die Lage entschärfen.

»Okay«, flüsterte sie schließlich. »Keine Polizei.«



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Mitternachtsspaziergang | ONC 2024Où les histoires vivent. Découvrez maintenant