17 | Frische Erinnerungen

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Lucindas Augenbrauen zogen sich zusammen, doch zu Arvids Überraschung blieb sie stumm und ließ ihn mit seiner Geschichte fortfahren

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Lucindas Augenbrauen zogen sich zusammen, doch zu Arvids Überraschung blieb sie stumm und ließ ihn mit seiner Geschichte fortfahren. Er war dankbar dafür. Es war so schon schwer genug, die nächsten Worte rauszubringen. Die Art, wie sie zuhörte, mit kritischen Nachfragen, aber ernsthaftem, offenem Interesse, bewegte ihn. Es war der Grund, warum er überhaupt so tief einsteigen konnte. Aber er spürte auch, wenn er es nicht jetzt sagte, würde er es nie tun.

»Mein Onkel hat mich abgeholt und mit zu der großen Lagerhalle genommen. Ich hab die schon oft von außen gesehen, aber ich durfte nie rein. Nur, wer bereit war und beim Geschäft mitmachte, durfte rein. Mein Großvater hat mit ein paar meiner älteren Cousins dort auf mich gewartet. Und da war ein Typ, der aufm Boden gehockt hat. Arme hinter dem Rücken gefesselt.«

Arvid schluckte. Obwohl es siebzehn Jahre her war, hatte der die Szene immer noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Er hätte vermutlich zur Therapie gehen sollen, nachdem er sich von seiner Familie gelöst hatte, aber wer machte das schon? Er jedenfalls kannte niemanden, der ernsthaft einen Therapeuten hatte. Er schüttelte den Kopf über sich selbst und fuhr fort.

»Das war irgendein freier Mitarbeiter, wie mein Vater sie nannte. Nicht alles kann von der Familie gemacht werden, also heuern wir Fremde an. Selten, aber es passiert. Der hier war dabei erwischt worden, wie er Infos über uns gesammelt hat. Mein Großvater hatte Angst, dass er damit zur Polizei geht oder zu irgendjemand anderem im System. Dass seine ganze bequeme Operation auffliegt und die mitbekommen, wie viel Dreck am Stecken wir eigentlich haben.«

Lucindas Blick lag auf ihm. Ihr Teebecher vergessen in ihren Händen, der Mund leicht geöffnet, starrte sie ihn mit einer Intensivität an, die Arvids Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Sie hörte ihm wirklich zu. Er konnte in ihrem Gesicht die gleichen Emotionen lesen, die er selbst fühlte. Damals gefühlt hat. Ungläubiges Entsetzen und Resignation im Angesicht der Tatsachen. Die Luft in der kleinen Hütte schien plötzlich zum Schneiden dick.

Arvid räusperte sich und versuchte, die Stimmung wieder aufzuhellen. »War nicht der cleverste Gedanke von dem Kerl, heh. Er wurde erwischt und wie das eben so ist, mein Großvater ist da nicht großzügig. Er hat mir eine Pistole in die Hand gedrückt und gesagt, dass ich ihn erschießen soll. Dass das mein letzter Test ist, bevor ich bei den echten Dingern mitmachen durfte. Alle haben mich angeschaut, mein Onkel, mein Großvater, meine Cousins. Der Mann.« Er würde nie vergessen, wie der Mann ihn angeschaut hatte.

»Also hab ich geschossen. Aber ich hab nicht getroffen. Ich hab zu sehr gezittert, obwohl ich beim Training wirklich gut war. Aber auf einen Menschen zu schießen, ist halt was anders. Ich war erleichtert. Ich dachte, weil ich geschossen und nicht getroffen hab, heißt das, der Mann kann leben. Absolut naiv, natürlich. Aber mit fünfzehn ist man halt noch nicht so schlau. Mein Onkel hat gewartet, dass ich noch einmal schieße, aber das hab ich nicht. Das war nicht mal eine bewusste Entscheidung. Ich dachte einfach, einmal schießen reicht, egal, ob ich treffe oder nicht.«

Er griff nach dem Becher auf dem Tisch neben sich. Seine Hände zitterten, als sie sich um das warme Keramik schlossen. Es war lächerlich, wie sehr er auch heute noch fühlen konnte, was er damals gefühlt hatte. Als ob er genau wieder in der Situation war. Die Gefühle waren frisch und beängstigend und raumeinnehmend. Er zwang sich dazu, einen langsamen Schluck von dem Früchtetee zu nehmen, ehe er weitersprach.

»Mein Onkel hat ihn dann erschossen. Wie aus dem Nichts. Hat seine Waffe gezogen und abgedrückt, ehe ich wusste, was passiert. Und dann hat er sie wieder weggesteckt, als wäre das normal. Meine Cousins haben den Leichnam weggeschleppt, als hätten sie das schon tausendmal gemacht. Haben sie vermutlich auch. Und mein Großvater hat enttäuscht den Kopf geschüttelt.«

Er schaute Lucinda in die Augen, als könnte er sich an ihrem Blick festhalten. So viel Hass sie ihm gerade noch entgegengebracht hatte, jetzt sah er nur noch Offenheit und Wärme und Interesse. Er lächelte vorsichtig und zu seiner Überraschung erwiderte sie es.

»Was ist dann passiert?« Ihre Frage war leise, vorsichtig, aber immer noch voller Interesse.

Arvid zuckte mit den Schultern. »Ich wurde zum Training zurückgeschickt. Aber ich hab gemerkt, dass mein Onkel und mein Großvater mich beobachten. Als hätten sie geahnt, dass ich anders bin. Ich glaube, ich hab an dem Tag innerlich die Entscheidung getroffen, nicht ins Familiengeschäft einzusteigen. Nicht bewusst oder so. Aber als ich mit achtzehn von zu Hause weggelaufen bin, hat es sich so angefühlt, als hätte ich das schon Jahre geplant.«

Lucinda stand vom Bett auf und stellte ihren Becher auf dem Tisch ab. Dann zog sie sich den anderen Stuhl ran, setzte sich und legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. »Danke. Dass du so offen warst. Dass du mir davon erzählt hast. Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass die von Thulens eine Familie von Verbrechern sind. Aber ich glaube dir deine Geschichte. Das meine ich ernst. Ich kann spüren, dass sie wahr ist. Ich kann spüren, wie ... ach, ich weiß auch nicht. Das klingt vielleicht blöd, aber ich kann spüren, wie weh dir das tut.«

Arvids Lächeln wurde ohne sein Zutun breiter. Es tat gut, das zu hören. Es hieß immer, dass Mitleid schlecht ist, aber ihm ging es gerade ganz anders. Dass ein anderer Mensch anerkannte, wie beschissen seine Vergangenheit war, tat gut. Das Mitleid fühlte sich gut an.

Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre. »Danke, dass du zugehört hast. Das hätte ich nicht erwartet nach allem, was du vorher gesagt hast.«

Sie zog ihre Hand nicht weg. Ob er wollte oder nicht, alle seine Sinne schienen sich auf ihre Hand zu fokussieren. Wie ein Anker, der ihn festhielt. Er hörte kaum, als sie antwortete: »Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich wirklich glaube, dass deine Familie Verbrecher sind. Erinnerungen können täuschen. Vielleicht war der Mann, den du erschießen solltest, einer, der auf er offiziellen Abschussliste stand, und du hast das nur nicht verstanden. Meine Eltern haben schließlich auch Menschen getötet. Mit offiziellem Auftrag. Ich kann nicht einfach so alles, was ich jemals über deinen Onkel und deine Familie gelernt habe, aus dem Fenster werfen.«

Ihre Hand bewegte sich und kurz fürchtete Arvid, dass sie sie ihm entziehen wollte. Doch stattdessen fühlte er, wie sie die Handfläche nach oben drehte und ihre Finger um seine Hand schloss. Warm und sicher drückte sie zu. »Aber ich glaube dir, dass du kein Mörder bist. Ich weiß nicht, woher die Schauergeschichten über dich kamen, aber ich kann sehen, dass du nicht der Typ für sowas bist.«

Er erwiderte den Druck ihrer Hand. Erleichterung machte sich in ihm breit. Sie hielt ihn nicht mehr für einen Mörder. Das war gut. Das bedeutete, dass von ihr vorerst keine Gefahr mehr ausging. Ob sie ihm den Rest auch glauben würde, war noch unsicher. Aber das konnte warten. Vielleicht musste sie ihm auch gar nicht glauben. Vielleicht konnten sie ein paar Tage hier untertauchen, während er überlegte, wie er den zweiten Teil seines Plans in die Tat umsetzen konnte. Davon musste sie nichts wissen. Er konnte das ausarbeiten, ohne dass sie es mitbekam.

Und dann würde er endgültig mit seiner ganzen verdammten Familie abrechnen.


***

Das nächste Kapitel erscheint am 15. März um 20 Uhr.


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