1 | Zauber der Nacht

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Der Schatten der sprießenden Hecken zeichnete sich erstaunlich stark auf den großen Steinplatten des Weges ab

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Der Schatten der sprießenden Hecken zeichnete sich erstaunlich stark auf den großen Steinplatten des Weges ab. Mit einem Lächeln blieb Lucy stehen und drehte sich um, damit sie zum Vollmond hinaufschauen konnte. Sie liebte diese Zeit in der Nacht. Ende März war es dieses Jahr schon warm genug, dass sie mit einer leichten Jacke auch um Mitternacht nicht fror, und dank des hell erleuchteten Mondes waren die stillen Straßen ihrer Stadt nicht so dunkel, dass sie sich alleine draußen fürchten musste.

Sie streckte ihre Arme aus und sog tief die frische Frühlingsluft ein. Obwohl nur wenige hundert Meter von hier eine der größeren Durchgangsstraßen der Stadt lag, war es in diesem kleinen Wohngebiet ruhig und die Luft frei vom penetranten Gestank der Abgase. Das war eine der ersten Dinge, die ihr aufgefallen war, als sie nach dem Tod ihrer Großeltern in deren Haus gezogen war.

Lautlos formten ihre Lippen den Liedtext von Schandmaul nach, der aus ihren Kopfhörern drang, während sie mit langsamen Schritten weiterging. »Geh bei Vollmond in den Garten, brich dort rote Rosen«, sang sie im Geiste mit, den Blick auf den Gehweg gerichtet. Mit jeder Zeile des Liedes spürte sie mehr den Drang, sich zur Melodie zu bewegen.

Ein selbstbewusstes Grinsen huschte ihr über die Lippen. Es war mitten in der Nacht, hier lebten nur alte Leute, wer sollte sie schon sehen? Mit ihrem nächsten Schritt machte sie einen großen Satz und wiegte sich theatralisch zum Refrain. »Gehe, eile, sei schneller als der Wind!«, flüsterte sie beinahe unhörbar mit, während ihr Körper sich zum Takt der emotionalen Musik bewegte.

Kichernd und ganz in ihre Musik versunken sprang sie von Fuge zu Fuge, balancierte nur auf ihren Fußballen und machte mit dem Beginn jeder neuen Zeile einen kleinen Satz vorwärts oder rückwärts. An manchen Tagen empfand sie das Lied als melancholisch, wenn sie es hörte, doch heute gab es ihr Hoffnung und Zuversicht. Als würde irgendwo da draußen ein Liebster auf sie warten, wenn sie ebenfalls Rosen und Lilien pflückte.

Pünktlich zum Ende des Liedes erreichte sie den Anfang der Hecke, die den kleinen Vorgarten ihres Hauses umgab. Seufzend blieb sie stehen. Auch nach all den Monaten fühlte es sich immer wieder unwirklich an, dass sie mit gerade mal sechsundzwanzig schon Hausbesitzerin war. Kopfschüttelnd griff sie in eine der großen Taschen ihres Anoraks, um ihren Schlüssel hervorzuziehen.

Als sie wieder aufblickte, erstarrte sie. Auf dem schmalen, gepflasterten Weg, der durch die Hecke zu ihrer Haustür führte, lag eine menschliche Gestalt im dunklen Schatten. Für mehrere Herzschläge konnte Lucy nur wie angewurzelt auf den Menschen starren. So hell der Mondschein auch war, so pechschwarz waren die Schatten, die ihre sprießende Hecke warf. Wer war das? Was wollte der ausgerechnet hier bei ihr?

Mit einem Ruck riss sie sich die Kopfhörer runter und ließ sie um ihren Hals baumeln, während sie gleichzeitig näher auf die Gestalt zuging. War sie tot?

Entsetzt hielt sie wieder inne. Warum waren ihre Gedanken ausgerechnet zu dieser Frage gewandert? Sie lebte in einer Großstadt, in der Gewalt nicht unüblich war, sicher, aber hier in ihrem kleinen Wohngebiet, umgeben von alten Häusern, in denen alte Menschen lebten? Hier gab es sowas nicht.

Sie schluckte schwer und überwand sich, neben dem leblosen Körper auf die Knie zu gehen. Jetzt konnte sie sehen, dass es sich um einen Mann handelte. Seine dunklen Haare lagen wild über seinem Gesicht, aber sie konnte deutlich Bartstoppeln an seinem Kinn ausmachen. Er lag der Länge nach auf dem Bauch, einen Arm über den Kopf gestreckt, als hätte er versucht, sich auf allen Vieren über den Weg zu ziehen.

Mit klopfendem Herzen streckte Lucy eine Hand aus. Sie wusste, sie sollte eigentlich die Polizei rufen. Oder vielleicht einen Rettungswagen. Aber etwas in ihr sträubte sich dagegen. Vielleicht war es die seltsam hoffnungsvolle Stimmung, in der das Lied von Schandmaul sie versetzt hatte. Vielleicht war dies ihr Liebster, den sie mit dem Zauber der Nacht heraufbeschworen hatte. Und es war ja auch sinnvoll, dass sie sich erstmal vergewisserte, ob dieser Mann noch lebte oder verletzt war, ehe sie den Notruf wählte.

Vorsichtig berührte sie ihn an der Schulter – und schreckte sofort zurück. Die Lederjacke fühlte sich nass an, obwohl es den ganzen Tag nicht geregnet hatte. Sie schaute auf ihre Hand. Das war eindeutig Blut. Blut von diesem fremden Mann. Auf ihrer Hand. Sie war zu entsetzt, um zu schreien. Sie konnte nur paralysiert auf ihre Hand starren, von der ihr frisches, rotes Blut entgegenschien.

Alle Gedanken an eine romantische Begegnung im Mondschein waren verschwunden. Hektisch atmend wanderten ihre Gedanken hin und her. Dieser Mann brauchte Hilfe. Dieser Mann war gefährlich. Auf dem Fleck festgefroren schwankte Lucy von der einen Überzeugung zur anderen. Was sollte sie tun?

Nervös leckte sie sich über die Lippen. Wenn er verletzt war, war er vermutlich harmlos. Vielleicht konnte sie ihn aufwecken und fragen, was passiert war. Und dann würde sie einen Krankenwagen rufen. Sie blinzelte mehrmals. Das klang logisch. Das klang nach etwas, was man in so einer Situation tun würde.

Sie holte tief Luft und packte ihn noch einmal mit ihrer blutbesudelten Hand an die Schulter. Vorsichtig rüttelte sie an ihm, doch es kam keine Reaktion. Schweiß trat ihr in den Nacken, während ihr gleichzeitig bewusst wurde, wie kühl diese Nacht doch war. Als hätte sich der Frühling plötzlich wieder zurückgezogen, kroch eisige Kälte wie im tiefsten Winter in ihre Knochen.

»Hallo?«, flüsterte sie leise und rüttelte erneut an ihm.

Endlich schien Leben in den Mann zu kommen. Sie hörte ein unterdrücktes Stöhnen, dann bewegte sich der ausgestreckte Arm, eine Hand ballte sich zur Faust. Erleichtert zog Lucy ihre Hand zurück. Zumindest lebte er noch und war wieder bei Bewusstsein. Das würde alles einfacher machen.

Im nächsten Atemzug schien die Welt zu kippen. Plötzlich fand Lucy sich auf dem Rücken liegend, während ihr Gesichtsfeld von dem gerade noch so schwach wirkenden Mann eingenommen wurde. Eine Hand legte sich um ihren Hals, während seine Beine ihren Körper auf beiden Seiten einklemmten. Selbst in der Dunkelheit des Schattens, den der Mann auf sie warf, konnte sie sehen, dass er sie voller Hass und Misstrauen anstarrte.

»Wer bist du?«, zischte er ihr entgegen.




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