15 | Lügen über Lügen

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Aufgewühlt stieß Lucy ihren Stuhl zurück und stand auf

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Aufgewühlt stieß Lucy ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie hatte in der Situation instinktiv gespürt, dass sie sich unter keinen Umständen dem Schützen ausliefern durfte, auch wenn er zu der Familie gehörte, die einst sie und ihre Großeltern beschützt hatten. Jetzt, wo sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, kam ihr Verstand auch hinterher. Man wollte sie tot sehen.

»Shit.« Sie konnte glasklar sehen, wohin das führen würde. »Shit, shit, shit, shit!«

Ohne dass sie es richtig wahrnahm, begann sie, in der kleinen Hütte auf und ab zu laufen. Wenn sie nur irgendein zufälliger Beobachter gewesen wäre, der gutmütig einen angeschossenen Mann bei sich aufgenommen hatte, wäre sie den von Thulens vermutlich egal. Aber sie war eben die Tochter ihrer Eltern und wusste damit deutlich mehr, als sie sollte.

»Geht dir langsam auf, was für verlogene Ärsche das sind?« Arvids Stimme klang kühl, während er sie mit vor der Brust verschränkten Armen anschaute.

Hitzig wirbelte sie zu ihm herum. »Das alles hier ist verdammt noch mal deine Schuld! Ich hätte dich direkt der Polizei ausliefern sollen, als die nach dir gefragt haben!«

Er lachte höhnisch. »Ich werde angeschossen, aber bin der Schuldige hier, ist klar.«

Lucy baute sich grimmig vor ihm auf und starrte ihn von oben herab an. »Ich bin nun wahrlich die letzte, die Mord befürwortet, aber ich habe von meinen Eltern früh genug gelernt, dass es manchmal besser ist, einen Täter auszuschalten, bevor er noch hunderte Unschuldige umbringt. Gerade wenn das Gesetz eine Verhaftung und Schuldigsprechung verhindert.«

Bevor Lucy wusste, wie ihr geschah, war Arvid vom Stuhl aufgesprungen, hatte das Handgelenk ihres rechten Arms umklammert und sie beide herumgewirbelt. Gefangen zwischen dem Tisch hinter ihr und seinem riesigen Körper schrumpfte sie in sich zusammen, doch sie hielt seinem lodernden Blick stand.

»Ich hätte nicht gedacht, dass dieselbe Frau, die mich hilfsbereit und mit scharfem Verstand vor meinen Verfolgern beschützt, sich als eiskalte Idiotin entpuppt, die einen anderen Menschen zum Tode verurteilen würde, nur weil sie als Kind Märchen über ihn gehört hat.« Seine Stimme triefte vor Spott, doch Lucinda konnte sehen, dass da noch mehr war. In seinen Augen stand nicht nur die Flamme der Wut, sondern auch Enttäuschung. Er schien ehrlich überrascht von ihren Worten.

Sie spürte Unsicherheit in sich aufsteigen, aber kämpfte sie sofort nieder. »Ich war hilfsbereit, weil du Hilfe gebraucht hast. Du hast mich von Anfang an belogen und dich als harmlos ausgegeben. Was hast du erwartet? Dass ich stumm und unterwürfig bleibe, nachdem ich weiß, wer du bist?«

Der Griff um ihr Handgelenk wurde fester. »Ich habe dich nie angelogen.«

Lucy zog eine Augenbraue hoch. »Oh, dein Name ist also John? Komisch, ich hätte schwören können, dass du eben zugegeben hast, dass du Arvid heißt. Oder war das die Lüge? Und der Mordvorwurf? Du hast mir gesagt, die Polizei erzählt Schwachsinn. Was ist damit, hm?«

»Okay, okay, ich gebe zu, der Name war gelogen. Aber das war auch dir zuliebe. Je weniger du über mich wusstest, desto besser. Und das mit dem Mord stimmt. Der Vorwurf ist Schwachsinn. Ich habe noch nie einen anderen Menschen getötet. Deswegen bin ich doch überhaupt erst in dieser Scheiße!«

Mit jedem Wort war Arvid lauter geworden und hatte sich weiter über sie gebeugt. Lucinda konnte die Hitze seines Körpers und seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust, gefangen zwischen Panik und Wut. Noch immer hielt er ihr Handgelenk fest. Sie standen sich so nah, dass ihre Handfläche sich unwillkürlich auf seine Brust presste. Unter ihren Fingern konnte sie spüren, dass sein Herz mindestens ebenso raste wie ihres.

Unter all ihrem Zorn und ihrer Angst grub sich ein anderes Gefühl nach oben. Sie schluckte. »Ich dachte, ich tue was Gutes«, flüsterte sie leise.

Als hätten ihre Worte die Flammen seiner Wut ausgeblasen, wurde Arvids Blick weicher. »Das hast du, Lucinda. Das hast du.«

Sie musste noch einmal schlucken. Tränen wollten sich ihren Weg bahnen, doch das konnte sie nicht zulassen, Sie würde nicht vor diesem Mann, diesem Monster mit Weinen anfangen. »Du warst immer das Lehrbeispiel für meine Eltern. Nur weil ich eine Freundin in der Schule habe, die ich mag, heißt das nicht, dass ihre Eltern oder ihre Geschwister auch gute Menschen sind. Nur weil sie mit meinen Eltern verwandt sind, heißt das nicht, dass meine Onkel und Tanten oder Cousins und Cousinen auch vertrauenswürdig sind. Seit meine Eltern mich in das Geheimnis ihrer Arbeit eingeweiht haben, warst du das abschreckende Beispiel. Und ich hab dir geholfen.«

Arvid ließ endlich ihren Arm los und legte ihr stattdessen beide Hände auf die Wangen, um ihren Blick festzuhalten. »Hey, hey. Lucinda. Lucy. Ich weiß, dass es schwer ist, das zu glauben, aber nichts davon ist wahr. Ich bin mir sicher, deine Eltern waren überzeugt, dass es die Wahrheit ist, aber ich schwöre, nichts davon stimmt.«

Lucy zog die Augenbrauen zusammen und presste ihre Kiefer aufeinander. Der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Tränen an, während sie versuchte, in Arvids Augen irgendein Zeichen zu finden, dass er log. Er musste lügen. Es konnte nicht sein, dass ihre Eltern, die so klug und gerissen und weitsichtig waren, über so viele Jahre eine Lüge geglaubt haben. Das war unmöglich. Ihre Eltern waren die besten Agenten Deutschlands.

Zitternd stieß sie die Luft aus. Sie kannte diese Gedanken, diese Gefühle. Diese Stimme in ihr. Es war das verängstigte, verlassene Kind in ihr, das in den Eltern immer noch die Helden sah, die keine Fehler machen konnten. Sie war lange genug in Therapie gewesen nach dem Tod ihrer Eltern, um zu wissen, dass sie diesem Teil von ihr nicht die Verantwortung aufbürden durfte, Entscheidungen über ihr Erwachsenenleben zu treffen. Das war unfair.

Sie schluckte erneut, dann stählte sie ihren Blick und verbannte die Tränen, die in ihren Augen schwammen, endgültig. »Okay. Ich gebe dir eine Chance, deine Seite der Geschichte zu erzählen. Ich hoffe für dich, dass du dir ein gutes Märchen überlegt hast, denn ich bin immer noch nicht wirklich überzeugt, dass ich dir jemals glauben kann.«

Traurigkeit wusch wie eine Welle über Lucinda, doch sie schob das Gefühl beiseite. Sie würde sich nachher um ihre verletzten kindlichen Gefühle kümmern. Wenn sie Zeit und Ruhe hatte. Aber jetzt musste sie als erwachsene Frau handeln. Nur so hatte sie eine Chance, lebend aus diesem Schlamassel rauszukommen. Je mehr sie über Arvids Situation und seine Lügen wusste, umso besser konnte sie einschätzen, wie tief sie in der Scheiße steckte.




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