Soziale Not

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Die Industrielle Revolution des 18./19. Jahrhunderts wurde durch die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt eingeleitet. Die Gesellschaft, die bisher auf Handwerker und Bauern basierte, wurde in eine moderne Industriegesellschaft umgewandelt. Die Massen strömten auf der Suche nach Arbeit in die Städte. Dort bildeten sich Slums ohne Wasserversorgung und Kanalisation mit vielen Obdachlosen. Der Lohn in den Fabriken und Bergwerken war niedrig, die Arbeitsbedingungen katastrophal. Die tägliche Arbeitszeit betrug oft 16 Stunden bei einer 7-Tage-Woche. Häufig kam es mangels Sicherheitsmaßnahmen zu Unfällen. Auch Kinder mussten mitschuften, um die Familie zu ernähren. Sie wurden bevorzugt in den engen Kohlenschächten eingesetzt.

Den einzigen Ausweg aus diesem Elend sahen viele in der Auswanderung nach Amerika. Andere probten den Aufstand gegen ihre Ausbeuter. Im schlesischen Weberaufstand von 1844 etwa zerstörten ca. 3.000 Weber die Fabriken und Maschinen der Unternehmer. Der Aufstand wurde jedoch von preußischen Truppen blutig niedergeschlagen.

Die Kirche versagte auch hier. Sie stellte sich auf die Seite des Staates und ließ die Menschen in ihrer Not allein. Letzlich ging der Arbeiterstand für die Kirche verloren. Das Elend der damaligen Zeit wurde zur Geburtsstunde des Kommunismus, wo Religion nur noch als Seufzer der bedrängten Kreatur und als Opium des Volkes gesehen wurde.

Nur wenige Menschen nahmen sich der Not der Menschen an und praktizierten wahre Nächsenliebe. So etwa der evangelische Theologe Johann Hinrich Wichern (1808 - 1881), der sich um die verwahrloste Hamburger Großstadtjugend kümmerte. Er nahm die besonders gefährdeten Jungen in sein „Rauhes Haus" auf. 1848/49 gründete Wichern die Innere Mission, den Vorläufer des Diakonischen Werks.

Sehr engagiert in der sozialen Frage zeigte sich auch Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811 - 1877), der katholische Bischof von Mainz. Er war auch Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Ketteler forderte in seinen mutigen Predigten eine Einmischung der Kirche in die Not des Arbeiterstandes und eine gewaltlose Reform der Verhältnisse. Auf dem 1. Vatikanischen Konzil lehnte Ketteler als einer der 88 Bischöfe das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ab.

In England herrschte unter den Arbeitern eine besonders schlimme Not. Hier nahmen sich vor allem die Glaubensgemeinschaft der Methodisten und der Prediger William Booth (1829 - 1912) der leidenden Bevölkerung an. Dieser gründete im Osten Londons, wo Armut, Prostitution und Trunksucht an der Tagesordnung waren, die „Christliche Mission", aus der 1878 die militärähnlich organisierte Heilsarmee hervorging. Der als impulsiv bekannte Booth stammte selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Er schuf Aufnahmezentren für Prostituierte, gründete Kinderhilfseinrichtungen und half mit, die Auswanderung nach Übersee zu organisieren. Gleichzeitig betrieb Booth eine weitreichende Volksmission in Form von Straßenliedern und -predigten. Von vielen wurde seine Arbeit verspottet. Selbst Schriftsteller wie George Bernard Shaw oder Bertolt Brecht machten das Wirken des Predigers in ihren Theaterstücken lächerlich. Hinzu kam ein Schicksalsschlag, als seine Frau Catherine, Mutter von acht Kindern, an einem Krebsleiden dahinsiechte, bis sie schließlich starb. In der Nacht vor ihrem Tod schrieb William Booth in sein Tagebuch: „Große Dunkelheit und Depressionen sind in mir." Allmählich konnte er sich im Vertrauen auf seinen Gott wieder fassen und sein Werk fortsetzen.

Auf kirchliche Bräuche legt die Heilsarmee keinen Wert. Im Vordergrund stehen vorbildhaft praktizierte Nächstenliebe und die Verkündigung der Erlösung durch Jesus Christus. Das heutige Einsatzgebiet der weltweit ca. 1,7 Millionen Mitglieder sind immer noch die Großstädte, wo man für die Obdachlosen Suppenküchen und Nachtasyle eingerichtet hat.

Die katholische Kirche nahm leider erst 1891, mehr als 100 Jahre nach dem Beginn der Industriellen Revolution, Stellung zur sozialen Frage. In der berühmten Sozialenzyklika „Rerum novarum" wandte sich Papst Leo XIII. gegen die Geldgier und die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter. Der Papst billigte dem Arbeiterstand das Recht auf einen angemessenen Lohn und gewerkschaftlichen Zusammenschluss zu. Auf dieser Grundlage entstand die katholische Soziallehre.

Bei aller Kritik an der Kirche muss man ihr jedoch zugestehen, dass sie sich in ihrer Geschichte um unzählige Arme, Hungernde und Kranke gekümmert hat. Auch auf dem Gebiet der Bildung war die Kirche äußerst aktiv. Sie ist mit Abstand das größte Sozialwerk, das jemals auf Erden existiert hat. Durch christliche Mission wurden barbarische Kulturen zivilisiert, Animisten von ihren Ängsten befreit und Kannibalenstämme friedlich. Aufgrund des Einflusses der christlichen Botschaft wurden Ehen gerettet, Verbrecher bekehrt und verkrachte Existenzen zu einem sinnvollen Leben geführt. Der christliche Glaube hatte und hat unheimlichen Sprengstoff in sich und kann die völlige Wandlung eines Menschen bewirken. Deshalb war das Christentum von den Mächtigen stets gefürchtet, von den römischen Kaisern genauso wie von den kommunistischen Regimes.

Was steckt hinter allem?Where stories live. Discover now