22. Zu kompliziert

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Lucas P.o.V.:

Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich schon bei Vincent verbracht hatte. Direkt nach der anstrengendsten Schicht, die ich bisher in diesem Job gehabt hatte, war ich hier her gefahren - sehr zu Pauls Leidwesen. 

Gefühlt hundert Nachrichten waren eingegangen, seit ich hier war, die ich alle nur kurzbündig beantwortete. Ich wusste ganz genau, dass ich dafür später noch eine Ansage bekommen würde.

Mir lief der Schweiß vor Anstrengung über die Stirn, trotzdem hielt ich den dampfenden Kaffee fest in der Hand, beobachtete mein Spiegelbild in der braunen Flüssigkeit. 

"Also, hab ich das jetzt richtig verstanden? Du bringst Dag und seinem besten Freund jeden Tag Essen und Medikamente und all sowas, denkst aber gleichzeitig, dass du nicht mit Dag reden kannst?", geräuschvoll atmete ich aus, nahm einen Schluck von meinem Kaffee, "Vincent, warum machst du dir alles so unnötig kompliziert?"

Mit großen, glitzernden Augen sah mich mein Gegenüber an, seufzte leise. 

Ich hatte wirklich das Gefühl, dass er gleich wieder in Tränen ausbrechen würde. Das war er seit ich hier war mindestens fünf Mal passiert, danach hatte ich nicht mehr mitgezählt.

Er tat mir wirklich leid, aber kam nicht drum herum zu denken, dass es auch irgendwie seine Schuld war. Wenn er einfach zu seinen Gefühlen gestanden hätte, wäre das alles bei weitem nicht so, wie es jetzt war. 

Nur würde ich ihm das so niemals sagen, weil es die Wunde noch mehr aufreißen würde. Und das brachte ich einfach nicht übers Herz. 

Vincent schwieg betreten, während ich immer wieder an dem Kaffee nippte, um nicht einzuschlafen. Die Arbeit kostete mich echt den letzten Nerv. 

"Ich will ihm nicht noch mehr weh tun", er sackte leicht zusammen, knetete nervös seine Hände. 

"Und denkst nicht, dass er sich vielleicht freut, wenn du seine Gefühle erwiderst?", fragend schaute ich ihn an, zog die Augenbrauen hoch, "Weil er einfach total in dich verliebt ist?"

Mit schmerzenden Gliedern stand ich auf, um mir mehr Kaffee einzugießen. Ohne das Koffein wäre ich vermutlich jeden Moment am Tisch eingeschlafen. 

"Ich glaube, er ist schon zu verletzt, als dass ich das wieder gerade biegen kann", er seufzte leicht, schaute auf seinen eigenen Kaffee, den er nicht anrührte, "Deswegen versuche ich es erst gar nicht."

"Du machst es dir viel zu kompliziert, Vince. Echt", murmelte ich, lehnte mich gegen die Arbeitsfläche und nippte an der Tasse, sah gleichzeitig auf mein Handy, sah die neuen Nachrichten von Paul und die Uhrzeit. Ich war nicht einmal so lange hier - aber es fühlte sich länger an.

Eine Antwort bekam ich wieder nicht, nur betretendes Schweigen. Aber auch dabei leistete ich ihm gerne Gesellschaft. 

Ich mochte Vincent - auch wenn er ein Idiot war - und ich bekam auch immer mehr das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Ein Gefühl, das ich schon wirklich lange nicht mehr hatte, aber es war ziemlich angenehm. 

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn etwas, wie er sich etwas abwesend auf der Unterlippe herumkaute und scheinbar so sehr in Gedanken versunken zu sein, dass er meine Anwesenheit komplett verdrängt hatte. 

Ich zupfte leicht an dem kratzigen Arbeitsshirt, schüttelte mich leicht - vielleicht versuchte ich auch einfach die Müdigkeit abzuschütteln. 

"Unter Umständen hast du Recht", murmelte er irgendwann fast nicht hörbar, "Aber ich kann das trotzdem nicht."

"Immerhin siehst du es ein", seufzte ich leicht, trank die nächste Tasse Kaffee aus und stellte mit einem leichten Grummeln fest, dass die Kanne leer war. 

Da wir wieder in Schweigen endeten und Vincent schon wieder kurz davor war, zu weinen, versuchte ich das Thema irgendwie zu wechseln. "Wie oft besuchst du deine Eltern?"

"Nicht so oft, wie ich sollte. Zu viel Arbeit", er schien erst etwas irritiert, musterte mich dann aber aufmerksam, als versuchte er in meinem Verhalten zu erkennen, worauf ich hinauswollte. 

"Arbeit, hm", murmelte ich, senkte den Blick auf die Tischplatte, "Ich denke, du solltest Arbeit mal Arbeit sein lassen und deine Eltern besuchen. Wenn du doch irgendwann mit Dag redest, brauchst du für ihn schließlich auch genug Zeit."

Ich sah seine Reaktion nicht, konzentrierte mich nur auf das Muster des Tisches und spürte ein leichtes Ziehen im Herzen. Ich schluckte leicht, knetete etwas meine Hände.

Vorsichtig sah ich wieder zu ihm hoch, spürte wieder dieses Vertrauen und murmelte leise: "Ich vermisse meine Eltern. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis zueinander."

Etwas überrascht sah er mich an, nickte dann aber leicht und ich war froh. Froh, dass er einfach nur zu hörte und nichts sagte. 

"Ich wünschte manchmal, ich könnte wieder nach Bremen gehen. Klar, Berlin ist schön und so, aber es ist eben nicht meine Heimat, hier sind nicht meine Familie und meine Freunde", ich seufzte leicht, "Aber ich glaube nicht, dass ich mich je wieder traue, zurück zu gehen."

"Das kann ich verstehen", murmelte er leise, nahm meine Hand und drückte sie leicht - und dass ich sie nicht sofort zurückzog, war der größte Beweis, dass ich ihm vertraute. 

Wieder musste ich schlucken und sah ihn etwas nervös an. Mir kam ein Gedanke und ich hatte etwas Angst, dass ich es sehr schnell bereuen würde. 

Paul würde sicherlich sauer werden, wenn ich ihn zu uns nach Hause einlud und ihm damit unsere Adresse gab. Aber es war mir egal, früher oder später würde er es verstehen.

"Vince, du bist echt der erste, dem ich seitdem wieder vertraue und ich-", ich verstummte, als ich mein Handy auf dem Tisch aufleuchten sah. Es fühlte sich an, als würde das Blut in meinen Adern gefrieren. 

Ich fing leicht an zu zittern, fuhr mir durch die Haare, nahm mit zitternden Händen mein Handy. 

Der Bildschirm war noch immer an, zeigte mir deutlich, dass mir eine unbekannte Nummer geschrieben hatte. 

+49368********; 21:56 Uhr
Wir sollten reden. Über Vincent und Dag. 

"Luca, was ist los? Du wolltest etwas sagen", fragte Vincent vorsichtig, während ich mich auf dem Stuhl leicht zurücklehnte und immer blasser wurde. 

Woher hatte irgendjemand, den ich nicht kannte, meine Nummer? Woher hatte jemand meine Nummer, der über Vincent reden wollte?

Mit traurigem Blick sah ich ihn an und mein erstes Gefühl war einfach nur unfassbare Enttäuschung. Das Vertrauen zerbrach langsam. 

"Du hast meine Nummer weitergegeben?", flüsterte ich leise, biss mir stark auf die Lippe, versuchte das Zittern meiner Stimme zu unterdrücken. Aber das klappte nicht wirklich. 

Vincent erstarrte und das machte mich einfach nur wütend. Die Enttäuschung mischte sich langsam mit Wut und drohte, mich zum Explodieren zu bringen. 

Das Zittern wurde stärker. 

Und ich begann zu bereuen, dass ich so etwas wie Vertrauen zu ihm gehabt hatte. 

Die kleine Geschichte von Vincent und dem Lieferboten - SDP FanFictionWhere stories live. Discover now