Havria

703 35 47
                                    

,,Herrin ... " Die Frau lief langsam auf mich zu. Ihre schneeweißen Füße berührten nur leicht den Boden, sodass es aussah, als würde sie knapp über dem Boden schweben. Ihre Bewegungen waren elegant und völlig ruhig, ganz ohne Hektik.

Panisch drückte ich mich mit dem Rücken eng an das Sofa. ,,Entschuldigung, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln." Meine Stimme war zittrig.
Die Frau schüttelte mit dem Kopf. Ihr langes weißes Haar fiel ihr ins Gesicht. ,,Ihr seid es, ganz sicher."
Verwirrt verzog ich mich weiter in die Decke hinein. ,,Wer bin ich?" Meine Worte waren nicht mehr als ein verzweifeltes Hauchen. Doch langsam wurde die Verzweiflung in mir zur Wut. Was soll das? Erst Zhongli und Childe, jetzt auch noch ein Geist!

Urplötzlich verschwand meine Furcht. Ich warf die Decke weg, erhob mich und ging auf die Frau zu. ,,Sag es. Wer bin ich?" Sie zuckte bei meinem scharfen Tonfall zusammen und wich meinem Blick aus. ,,Warum seid Ihr wütend?"
Empört neigte ich meinen Kopf zu ihr, da sie ein wenig kleiner war als ich. ,,Warum ich wütend bin? Hör mal ... Ich erinnere mich an nichts, GAR NICHTS! Ich habe keine Ahnung wer ich bin und was ich früher gemacht habe! Zhongli kennt mich ... Childe kennt mich ... Ja, sogar ein Geist kennt mich! Warum nur kenne ich selbst mich nicht?! ES MACHT MICH FERTIG, OKAY?! Es macht mich fertig ..." Langsam fühlte ich mich seltsam. Ich fühlte mich ganz anders als zuvor, so voller Energie. Ich fühlte mich ... stark.
Die Frau schaute mich überrascht an. ,,Ihr scheint noch mächtiger zu sein als ich dachte."
Wenn Blicke töten könnten, wäre der Geist nun zum zweiten Mal gestorben. Sie ist total irre!

Mein Körper begann zu beben und es sah aus, als würde sich Staub von meiner Haut lösen. Doch das interessierte mich nicht. Mein Blick haftete nur an der Frau. ,,Was soll das?! Sie kommen ohne Vorwarnung in dieses Haus und nennen mich Ihre Herrin?! Wenn ich wirklich so hochrangig bin, hätten Sie doch wenigstens anklopfen und um Einlass bitten können!" Meine Stimme wurde zunehmend lauter. Die Frau wirkte ziemlich eingeschüchtert und senkte ihren Kopf immer tiefer. ,,Entschuldigung ..."

Ihre Entschuldigung machte mich noch wütender. ,,Entschuldigen Sie sich nicht, wenn ich wütend auf mich selbst bin!"
Nun schaute mich der Geist überrascht an. ,,Ihr seid nicht auf mich wütend?" Ihre Stimme war leise und zittrig.
Ich schüttelte mit dem Kopf. ,,Wie könnte ich? Sie sehen nicht wie jemand aus, der böse Absichten hat." Erschöpft schloss ich meine Augen, der Staub und die seltsame Kraft verschwanden und ich fuhr fort: ,,Warum ich? Warum musste ich meine Erinnerungen verlieren? Ich bin verwirrt und verloren. Im Moment bin ich nichts weiter als der Körper einer Person, die ich nicht kenne. Wer sind Sie? Wer bin ich? Kann ich Ihnen vertrauen? Und noch wichtiger: Kann ich mir selbst vertrauen?" Tränen liefen über meine Wangen. Statt der Wut, war nur noch Verzweiflung in mir. ,,Darum bin ich wütend. Verzeiht mir bitte, dass ich so unhöflich war und alles an Ihnen ausgelassen habe." Ich verbeugte mich leicht, während meine Tränen auf den Boden fielen.

Die Frau fuchtelte mit den Armen und wollte etwas sagen, als plötzlich die Wohnzimmertür mit einem lauten Knall aufgerissen wurde. ,,Y/N!"
Erschrocken wirbelte ich herum und sah Childe, Zhongli dicht hinter ihm. Sobald Childe mich weinen sah, kam er zu mir gerannt. ,,Y/N, was ist los?" Er legte einen Arm um mich und führte mich zum Sofa hin, damit ich mich setzen konnte. Dort drückte Childe meinen Kopf an seine Brust und strich mir beruhigend über den Rücken. ,,Alles ist gut ..." Während er mich umarmte, befeuchteten meine Tränen sein T-Shirt, doch das störte ihn keineswegs. Den hell leuchtenden Geist schien er vollständig auszublenden.

Zhongli hingegen, der noch versteinert im Türrahmen stand, traute seinen Augen nicht. Er schenkte dem Geist mehr Aufmerksamkeit als mir.

,,Havria?"

Wie vom Donner gerührt lief er an uns vorbei auf die Frau zu. Diese war ebenfalls überrascht. ,,Mo-", fing sie an, doch Zhongli unterbrach sie. ,,Wie ist das möglich?"

Erst jetzt löste ich mich aus Childe's Umarmung und schaute verheult zu Zhongli und der Frau. ,,Ihr kennt euch?" Ich war kurz davor, wieder mit dem Weinen anzufangen. Das ist alles so verwirrend!
Childe schien meine Lage zu verstehen, da er mir tröstend eine Hand auf die Schulter legte. ,,Ich kenne sie auch nicht, daher bin ich auch etwas verwirrt." Er hat ja keine Ahnung, was gerade passiert ist.

Zhongli drehte sich zu uns und stellte die Frau vor. ,,Das ist Havria. Sie ist die Göttin des Salzes, die vor vielen vielen Jahren im Archontenkrieg ums Leben gekommen ist." Dann wandte er sich wieder der Frau, Havria, zu. ,,Es ist mir eine Ehre, dass du mich besuchen kommst. Allerdings scheint es mir, als wärst du nicht wegen mir hier." Dabei warf er einen flüchtigen Blick auf mich.
Havria nickte. ,,Ich bin hier, weil ich mit Y/N sprechen muss." Meine Nackenhaare sträubten sich, als ich meinen Namen aus ihrem Mund hörte. Was kommt jetzt?
Zhongli war überhaupt nicht überrascht. ,,Verstehe, du hast es also auch gemerkt?"
Wieder nickte Havria.
Das machte mich wieder ein wenig wütend. ,,Könnt ihr mir mal bitte sagen, worum es geht? Ihr mögt euch vielleicht super verstehen, aber ich stehe immernoch auf dem Schlauch."

Auch Childe wurde langsam ungeduldig. ,,Warum will eine gefallene Göttin mit meiner Y/N sprechen? Wenn du hier bist, um sie mitzunehmen, musst du erst an mir vorbei!" Childe drückte fest meine Hand, bevor er sich vom Sofa erhob und sich schützend und kampfbereit vor mich stellte. Ein wirklich amüsanter Anblick, da Childe in seinen Schlafsachen und mit zerzausten Haaren nicht sonderlich furchteinflößend aussah.

Aber Havria trat ein paar Schritte zurück und wedelte mit den Armen. ,,Nein, nein! Ich möchte ihr nichts Böses tun! Ich möchte ihr helfen, ihre Identität herauszufinden."
Das weckte meine Neugier. Ich stand auf, drängte mich an Childe vorbei und trat näher an sie heran. ,,Wie? Was muss ich tun?"
Havria freute sich, dass ich mich ihr gegenüber nicht mehr feindselig verhielt. Sie lächelte kurz, dann wurde sie ernst. ,,Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Als Geist ist es mir nicht möglich, so lange hierzubleiben. Ich muss weg, noch bevor die Sonne aufgeht. Lasst es mich also kurzfassen:
Ich habe den Leichnam des Geo-Archons verlegt. Er ist an einem sicheren Ort. Allerdings stimmt da etwas nicht. Da kommt Y/N ins Spiel. Wir müssen schleunigst zu diesem Ort reisen, damit wir herausfinden können, wer oder was Y/N ist. Dort wartet auch eine gute Freundin von mir, die ihr helfen kann, ihre Erinnerungen zurückzubekommen."

Childe und ich starrten lauter Fragezeichen in die Luft, während Zhongli angestrengt nachdachte. ,,Kann deine Freundin nicht nach Liyue kommen?"
Havria schaute ihn traurig an. ,,Sie ist tot, genau wie ich."
Ohne die Miene zu verziehen, stellte Zhongli weitere Fragen: ,,Warum hast du den Leichnam verlegt? Wohin hast du ihn verlegt? Was weißt du über Y/N? Wie hast du von ihr erfahren? Worüber habt ihr vorhin gesprochen, dass Y/N so aufgewühlt war?-"
Ich unterbrach ihn mit einem Handzeichen. ,,Du solltest ihr schon Zeit zum Antworten lassen, Zhongli." Dieser nickte entschuldigend und ich wandte mich an Havria: ,,Brechen wir so schnell wie möglich auf. Wie weit ist es?" Ich war fest entschlossen, mehr über mich herauszufinden.

Ich konnte froh sein, dass diese Göttin überhaupt noch hier war und mir helfen wollte, obwohl ich mich so bei ihr beschwert hatte. Wenn ich so daran dachte, kam es mir so vor, als hätte in diesem Moment die Wut Kontrolle über meinen Körper gehabt. Was war das eigentlich für ein Staub?

Die Frau schaute aus dem Fenster. Die Sonne würde schon bald aufgehen. ,,Wir sollten in zwei Nächten dort sein. Da ich am Tage verschwinde, können wir nur nachts reisen. Es ist ein relativ weiter Fußweg, allerdings sollte es keine Probleme geben. Brechen wir in der nächsten Nacht auf."
Zhongli, Childe und ich stimmten ihr zu und sie erklärte weiter: ,,Auf dem Weg wird ein Gasthaus sein, bei dem ihr Pause machen und die Zeit totschlagen könnt, während die Sonne scheint und ich nicht da bin."
Wieder schaute sie zum Fenster. ,,Ich muss gehen. Wir treffen uns bei der Statue der Sieben vor Liyue, nachdem die Sonne untergegangen ist." Ohne länger zu warten, verbeugte sie sich. Mit einem Mal kam uns ein kräftiger Windzug entgegen, der Havria mitzog und sie verschwand genau so, wie sie auch gekommen war.

Fortsetzung folgt ...

Memories | Zhongli x ReaderWhere stories live. Discover now