𝟜𝟛 - Abendessen bei den Simmons

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Ich starrte seit einer guten Stunde in die tiefen Weiten meines Kleiderschrankes und konnte einfach nichts passendes zum anziehen finden. Wohlmöglich lag es eher an dem Fakt, dass ich eine Heidenangst vor diesem Abend hatte, als dass ich wirklich etwas brauchbares finden würde. Schließlich würden meine Eltern heute den Thiels offenbaren, dass ihr verschollen geglaubter Sohn gar nicht so verschollen war. Eher wohnte er direkt neben seiner ehemaligen besten Freundin und das auch noch ganz in der Nähe von seinem Elternhaus. Verschollen war demnach kein passender Ausdruck, eher versteckt. Auch wenn ich mich noch immer fragte, wie es so weit kommen konnte, so lag die Lösung eigentlich auf der Hand. Gabriel hatte sich, laut Dani und unseren gemeinsamen Freunden zumindest, mehr als nur abgeschottet nach meiner Abreise. Der Strudel nach unten, in die Abwege von Einsamkeit, Wut und der daraus resultierenden Isolierung erfolgte schnell und unnachgiebig. Während ich versucht hatte, mich trotz des Abstandes an jeden Strohhalm zu klammern, hatte er alles von sich gestoßen. Letztendlich hatte ich dies selbst getan, zumindest mit den Thiels. Aus diesem Grund war der heutige Abend so entscheidend: Mom hatte Gab vorgewarnt, seine Eltern nicht weiter anlügen zu wollen. Entweder er würde von allein wieder auf sie zugehen, oder sie würde beim nächsten Abendessen die Bombe platzen lassen. Natürlich wäre es um einiges schöner, wenn er selbst anwesend wäre und Dani und Chris ihn nach der langen Zeit endlich zu Gesicht bekommen könnten. Auch wenn es sie sicherlich beruhigen würde, allgemein wieder etwas von ihrem Sohn zu hören, so wäre ein Wiedersehen natürlich um einiges erfreulicher. Automatisch sprang mir das überraschende Treffen zwischen Gabriel und meiner Mutter in den Kopf, wie wir uns im Wohnzimmer unterhalten und diese sich schlussendlich versöhnt hatten. Schon beim Aufeinandertreffen mit einem Teil meiner Familie war er überfordert und nervös gewesen, was ich ihm nicht verübeln konnte - schließlich ging es mir bei Daniela und Christoff genauso. Dennoch war mir bewusst, dass die Hürde, seinen eigenen Eltern zu begegnen, um einiges höher war. Wie ich Gabriel inzwischen kannte, würde er die Mauer um sich herum noch weiter ausbauen und gar nicht zum Abendessen erscheinen, auch wenn Mom von ihm berichten würde. Vielleicht auch gerade deswegen, da er einfach noch nicht bereit dafür war. Doch was hatte er schon zu verlieren? Die Angst, sie könnten wütend sein und ihn final von sich stoßen, wäre absurd und unbegründet - ich hatte noch nie so liebevolle Menschen wie die beiden kennenlernen dürfen. Sie liebten Gabriel über alles und würden ihn mit offenen Armen empfangen. Möglicherweise schämte er sich auch, sich so verhalten zu haben. Wäre dies der Fall, wäre der Entschluss sich ihnen zu stellen umso schwieriger.

Seufzend zog ich eine dunkle Jeans und eine hübsche Bluse aus dem Schrank, um mich endlich ausgehfertig zu machen. Mom und Dad hatten das Essen zu 19:00 Uhr angesetzt, doch ich wollte etwas früher da sein. Einerseits, um ihnen bei den letzten Handgriffen zu helfen und andererseits bestand noch immer die leise Hoffnung, dass Gab auftauchen würde. Ich fühlte mich hin- und hergerissen: Auch wenn ich mir wünschen würde, dass er sich endlich wieder mit seiner Familie vertrug, so standen unsere persönlichen Differenzen noch immer im Weg. Eigentlich war ich noch nicht bereit für ein Wiedersehen, beziehungsweise eher einem Gespräch. Ich vermisste ihn dennoch.

Es waren zwar nur ein paar Tage vergangen, doch ich fühlte mich bereits einsam ohne seine Nähe. Es war wie damals in London, nur dass wir jetzt die Möglichkeit besaßen, den Streit zur Seite zu legen und persönlich darüber zu sprechen. Doch sobald ich ihn sah, spukte der fatale Kuss in meinem Kopf herum und hinterließ nur schwitzige Hände und heftiges Herzklopfen. Ich wurde nervös wie noch nie in seiner Gegenwart. Aus diesem Grund hatte ich gestern auch die Flucht ergriffen, als ich ihn vor unserem Wohnblock stehen sah. Mike hatte mich netterweise nach dem Feierabend nach Hause gefahren, sodass ich schneller als sonst Zuhause ankam. Das Aufeinandertreffen mit Gabriel und das kurze Verhaken unserer Blicke brachten mich sofort aus dem Konzept. Am liebsten hätte ich die Autotür aufgerissen, wäre auf ihn zu gerannt und hätte mich in seine Arme geschmissen. Ich hätte mich für mein albernes Verhalten entschuldigt und mit ihm erwachsen und nüchtern über die Situation geredet.

Damals wie HeuteWhere stories live. Discover now