11 Jahre zuvor Teil 2

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11 Jahre zuvor

Meine Augen öffneten sich erst wieder, als ich die schwieligen und mit Blut beschmierten Hände meines Bruders spürte. Keine Ahnung woher er die Kraft genommen hatte, sich zu mir herüber zu schleppen, doch da war er. Sein Gesicht war genauso blutverschmiert, wie auch seine Hände und es war stark geschwollen. Er hatte einen Schmerz und eine Angst in den Augen, die mich trotz meiner Schockstarre erbeben ließen. Seine Arme schlossen sich um mich, er zog mich mit schmerzenden Lauten an sich heran und beschwichtigte sich und mich, dass alles wieder gut werden würde, dass wir das schaffen würden. Nur langsam ebbte der Schock ab und ich spürte die klaffende Wunde unterhalb meines Bauches immer mehr, bis sie mir die Luft abschnürte und mich unter Kälteschauern erzittern ließ. Alles begann sich zu drehen, zu verschwimmen. Die Ecken wurden dunkel und schienen mich zu erdrücken, bis ich endgültig wieder in der Dunkelheit versank.

Ich erwachte erst wieder, als mir gellend weißes Licht durch die Augenlieder stach. Es dauerte eine Weile, bis ich die Orientierung wiederfand und die so vertrauten Räume des Krankenhauses wiedererkannte. Wie oft waren wir doch wegen Sebastians „Unfällen" hier gewesen. Mein Körper fühlte sich immer noch wie betäubt an, ich war versucht zu glauben, ich hätte das Ganze nur geträumt, doch die vielen Geräte an denen ich angeschlossen war, behaupteten das Gegenteil.

Sebastian hatte mir später an diesem Morgen erzählt, wie er mich unter den schlimmsten Schmerzen, die er je verspürt hatte, zur Hauptstraße gezogen hatte. Mehrere Male hatte er gedacht, er würde auch ohnmächtig werden, oder seine Kräfte würde nicht ausreichen, aber er hatte weitergemacht. Es waren zwei Frauen, die zu ihrer Nachtschicht unterwegs waren, die uns schlussendlich entdeckten und den Krankenwagen riefen.

Die Ärzte hatten uns beide retten können. Bei mir war es nur das Glück, dass das Messer meinen Knochen getroffen hatte und so keinen großen Schaden angerichtet hatte, was mich vor dem Tod bewahrt hatte. Natürlich kam es zu den Fragen, was passiert war. Sebastian erzählte ihnen alles haargenau, nur das Illegale ließ er dabei weg. Es schien niemanden zu verwundern, dass wir um die Uhrzeit alleine unterwegs gewesen waren und auch von solchen Schlägertruppen schien jeder zu wissen. Es gab nur eine Krankenschwester, die tiefer grub. Eine junge, sehr liebe Frau, der Sebastian sich schließlich doch ehrlich anvertraute. Als sie fragte, warum er so etwas Illegales machte, erklärte er unsere Situation. Nach diesem Gespräch kannte sie unsere häusliche Lage. Es war kein Wunder, dass sie mehr als besorgt war, als Richard uns schließlich, ganz der besorgte Stiefvater, abholte. Richard war sauer, mehr als sauer, er kochte vor Wut. Sebastian und er schrien sich in ohrenbetäubender Lautstärke an und Richards Faust landete bald darauf, in dem eh schon beschädigten Gesicht von Sebastian. Da rastete ich das erste mal richtig aus. Die Nähte meiner Wunde platzten auf, als ich mich auf ihn stürzte und ihm eine Pfanne entgegenschlug. Das passte ihm natürlich gar nicht, dass ich jetzt auch nicht mehr gefügig war und er wollte zum Gegenschlag ausholen, doch Sebastian hielt ihn auf.

Genau in diesem Moment wurde die Tür aufgebrochen und zwei Polizisten stürmten hinein. Die Krankenschwester hatte uns nicht vergessen. Hinter den Polizisten, die Richard bald in ihrer Gewalt hatten, stolzierte eine ältere, besorgt dreinblickende Dame in die Wohnung und sah uns zwei ganz mitfühlend an. Sie war vom Jugendamt gewesen. Während die Polizisten Richard aus der Wohnung schleppten und dabei auf unsere total verwirrte und geistig abwesende Mutter stießen, sprach die ältere Dame leise und einfühlsam mit uns. Sie ließ uns unsere Sachen zusammenpacken, nachdem sie sichergegangen war, dass meine Wunde wieder versorgt war, bevor sie uns mit sich nahm.

Es verging eine Woche, bis der Prozess gegen Richard und unsere Mutter startete. Sebastian und ich kamen solange bei der älteren Dame im Jugendheim unter. Der Prozess war eindeutig, auch wenn keiner verstand, wie es sein konnte, dass das schon so lange ging, ohne das es jemand gemerkt hatte. Richard bekam eine gewaltige Haftstrafe wegen Kindesmisshandlung und unsere Mutter wurde in eine Entzugsklinik verfrachtet, nach der sie wahrscheinlich in eine Psychiatrische Anstalt kommen würde. Unser Anwalt war ein sehr netter Mann, der sich natürlich sofort dafür einsetzte, dass Sebastian mein Sorgerecht bekommen würde, nachdem er unsere Geschichte gehört hatte. Da wir keine wirklich guten Beziehungen zu Verwandten hatten, eigentlich niemanden davon kannten und das Heim für mich nur der letzte Ausweg sein sollte, bekam Sebastian es tatsächlich. Er wurde mein Vormund. Dieser Tag, der Tag des erfolgreichen Prozesses, war der erste, an dem ich mal wieder richtig durchatmen konnte. Es war vorbei. Nach schrecklichen 11 Jahren, war es endlich vorbei.

An Island awayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt