11 Jahre zuvor Teil 1

7 0 0
                                    

11 Jahre zuvor

Er wollte schon wieder aufbrechen. Wir hatten 23:00 Uhr und mein Bruder war schon wieder auf dem Sprung. Er wusste nicht, dass ich noch wach war und seinen leisen Schritten lauschte. Diesmal würde ich ihm folgen. Diesmal würde ich mich trauen. In letzter Zeit brauchte er immer länger, bis er nach Hause kam und war immer noch später weg. Er war kurz angebunden, gereizt und hatte des öfteren ein blaues Auge oder verstauchte Finger. Ich musste wissen was da vor sich ging. Ich musste wissen, mit was für komischen Typen er da verhandelte.

Er hatte mir zwar immer wieder versichert, dass es nur noch ein paar Tage wären, dann würden wir abhauen, aber genau das war es, was mich so nervös machte. Sebastian, würde in nur drei Tagen volljährig sein, dann war er an nichts mehr gebunden. Er war frei, konnte das alles hinter sich lassen. Ich hingegen war immer noch viel zu jung. Er wollte mich mitnehmen, natürlich, aber es bestand die Gefahr, dass ich ihm wieder entrissen werden würde und sie mich in dieses Irrenhaus zurückbrachten. Alleine, ohne Sebastian in dieser Wohnung, mit den zwei Menschen, die ich am meisten verabscheute. Das wollte ich mir nicht mal vorstellen.

Als er die Tür geschlossen hatte, war ich aus dem Bett aufgesprungen, die Klamotten schon angezogen. Denn ich wusste, dass dafür keine Zeit mehr wäre, wenn es soweit war. Sebastians Schritte waren schnell und mit seinen schwarzen Klamotten, musste ich mich verdammt konzentrieren ihn nicht in den Schatten aus den Augen zu verlieren. Mit Stuttgart war ich nie wirklich warm geworden, auch jetzt erschienen mir die leeren, dämmerigen Gassen einfach nur fremd und unheimlich. Die schwüle, stickige Luft wurde in den Betonwänden gespeichert und trieb mir den Schweiß auf die Haut. Es war eine verdammt heiße Sommernacht und trotzdem fühlte es sich nicht wirklich nach Sommer an. Es fehlten die weiten Grünflächen, der kühle See und die Brise die einem dort entgegenwehte. In diesen Momenten sehnte ich mich so sehr nach unserer Heimat, dass mir das Herz schmerzte. Dort war meine Familie auch verkorkst gewesen, doch alles war besser als dieses Leben hier.

Sebastian hielt kurz vor einer dunklen Gasse inne und zog die stickige Luft ein. Ich schätze, dass sie ihm nicht viel Erleichterung bescherte, sondern sich bleischwer auf seine Lunge legte. Er wirkte gefasst, wenn auch seine Hände leicht zitterten, bevor er tiefer in die Gasse hineinlief. Ich folgte ihm im Schatten und stellte mich in eine Einbuchtung an der Seite. Es stank, es war kaum auszuhalten. An dieser Stelle musste sich ein Obdachloser erst entledigt haben. Doch ich kniff die Augen zusammen, versuchte durch den Mund zu atmen und mich so wenig wie möglich zu bewegen. Ich würde das schon aushalten, nur zehn Minuten, länger würden sie doch nicht brauchen? Es waren nur schwarze Silhouetten, die sich nach ein paar Minuten langsam näherten. Erst als sie die Laterne am Rand der Gasse entlang schritten, konnte ich etwas erkennen. Im dämmrigen Licht leuchteten ihre Gesichter leicht aus den schwarzen Pullis heraus. Mich durchfuhr es ganz kalt. Die Angst schwoll stetig an. Das waren keine netten Typen, das sah man auf den ersten Blick. Sie waren gut gebaut, eindeutig stärker als mein Bruder. Doch was mich ängstlich zurückzucken ließ, war das streitlustige, überlegene Grinsen in ihren Gesichtern. Sie warteten nur darauf meinen Bruder zur Katz zu machen, sich an seiner Angst zu weiden. Ich konnte nicht unterdrücken, dass meine Knie zu schlottern begonnen und mir noch mehr Schweiß auf die Stirn trat. Mein Bruder wurde angespannter und trat nervös auf der Stelle, auch wenn seine aufrechte Haltung und sein hochgerecktes Kinn, Stärke ausstrahlen sollten.

Die Typen blieben direkt vor ihm stehen und musterten ihn herablassend, bevor einer vortrat und ihm die alles entscheidende Frage stellte. „Hast du deinen Auftrag erledigt?" Sebastians Hände zitterten nun auffallend stark an seinen Seiten und mein Magen begann sich ganz leer und unwohl anzufühlen. So sah niemand aus, bei dem der Auftrag glatt gelaufen war. Ich schluckte schwer den Kloss herunter, der sich in meiner Kehle gebildet hatte. War das das Ende?

Mein Bruder antwortete ihnen beschwichtigend und nach Verständnis suchend, dass er nicht alles losgeworden war. Doch Verständnis gab es bei solchen Leuten nicht. Dieses Wort tauchte nicht in ihrem Vokabular auf. Der größte unter ihnen, bauschte sich auf und ließ die Gelenke knacken, während er näher auf meinen Bruder zukam. Die Furcht hatte von mir Besitz genommen, ich konnte meine Beine kaum noch spüren und nahm nicht wahr, wie sie mich aus meinen Versteck führten. Das war das Idiotischste, was ich hätte machen können. Doch Sebastian war das Einzige, was mir noch geblieben war und ich wollte nicht mehr feige sein, ich wollte kämpfen. Ich wollte uns hier rausholen. Sie lachten freudig mit einem bösen Unterton, als sie mich aus der Ecke stolpern sahen. Ein 14-jähriger Junge, gegen fünf große, starke, unberechenbare Typen. Das gefiel ihnen natürlich. Sebastian erstarrte vor Schock. So lange schon versuchte er mich zu beschützen und er schaffte es immer. Doch jetzt wo es wirklich darauf ankam, konnte er nichts ausrichten. Er stellte sich zwar blitzschnell vor mich und drohte ihnen, dass sie mich ja nicht anrühren sollten. Doch das stachelte diese Leute doch nur noch mehr an. Sie zogen ihn von mir weg, so gewalttätig, dass es mir den Atem verschlug. Ich wurde brutal gegen die Wand gedrückt und von starken Armen daran festgenagelt. Zwei von ihnen hatten Sebastian fest im Griff, während der Große ihm die Faust ins Gesicht rammte. Das Blut schoss aus seiner Nase, sein T-Shirt färbte sich noch dunkler an der Stelle wo es sich darüber ergoss. Mir wurde schlecht, ich spürte wie sich das trockene Brot vom Abendessen wieder seinen Weg nach oben bahnte. Ich schrie sie an, flehte sie an, damit aufzuhören. Natürlich brachte das alles nichts. Jeder Wehrversuch meines Bruders war nutzlos, sie waren zu stark und zu viele. Sie hörten nicht auf, ein weiterer Schlag landete in seiner Magengrube, der nächste in seiner Seite. Seine schmerzenden Laute erfüllten die Gasse, doch in diesem Viertel würde ihn um diese Zeit niemand mehr hören. Mein Bruder lag fast komplett reglos auf dem Boden in seiner eigenen Blutlache, als sie zu mir herüberkamen. Mein Körper war komplett erstarrt, durch den Schock, den Schmerz und die schreckliche Angst. Nur die Arme, die mich an die Wand gepresst hielten, sorgten dafür, dass ich nicht in mich zusammensackte. Trotzdem schrie ich wieder, ich beschimpfte meine Peiniger aufs Übelste und versuchte nicht an meinen halbtoten Bruder zu denken, der dort immer noch in der gleichen Position auf dem Boden lag.

Der Gleiche, der auch schon meinen Bruder zusammengeschlagen hatte, baute sich nun vor mir auf. Seine dunklen Augen lagen tief in seinem gebräunten Gesicht und starrten mich unverwandt an. Bevor er mir aber zu nah kam, wandte er sich nochmal an den vor Schmerz keuchenden Sebastian. „Na das war ja ein Spaß, aber jetzt geht die Party erst richtig los." Seine Stimme war markant, für einen Jungen seines Alter eher zu hoch, sie jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Er zog etwas aus seiner Tasche, ich wusste erst was es war, als sich die schwach glänzende Klinge in meinen vor Angst und Wut strampelten Körper drängte. Sie traf auf meinen Beckenknochen und glitt leicht nach oben an ihm ab. Nun war es soweit, ich erbrach mich. Der Schock, das schrecklich komische Gefühl, der abrutschenden Klinge und der mir bis ins Mark gehende, verstörende Schrei meines Bruder, trieben mir alles aus dem Magen. Die Typen wichen angeekelt von mir zurück und ließen mich zu Boden gehen. Mein Atem ging so schnell, so ruckartig und das Blut durchtränkte auch mein Shirt. Ich schloss die Augen und legte mein Gesicht auf den immer noch warmen Teerboden. Das wars. Mein einziger Gedanke. Das wars.

An Island awayDove le storie prendono vita. Scoprilo ora