Gewidmet: Aaalinn und traumtanzerin
✦ Coldplay - The Scientist ✦
Konzentriert halte ich den Buntstift in meinen kleinen Händen und versuche, nicht über den Rand zu malen. Es ist Pocahontas, die ich gerade ausmale. Und obwohl ich eigentlich wie ein Kind denken sollte, tue ich es nicht. Ich weiß, dass es ein Traum ist. Oder besser gesagt eine Erinnerung, Emma. Aber warum träumst du? Ist das dein Abspann? Ist dein Leben jetzt vorbei und du siehst alles noch einmal von vorne? Mein Kinder-Ich wirft einen Blick auf Papa und Mama. Ein kurzer Stich durchfährt mein Herz. Ich wünschte, es wäre auch heute noch so. Meine beiden Elternteile vereint unter einem Dach. Und der Raum gefüllt mit Liebe.
Papa drückt mir einen Kuss auf den Kopf bevor er hoch in das Badezimmer geht. Pocahontas' Haare sind türkisblau und sie hält einen roten Maiskolben in der Hand. Der kleine Waschbär ist grün und grinst frech hinter der alten Weide hervor. Ich habe dieses Malbuch geliebt. Es war ein Geschenk zum Geburtstag. Es ist Herbst, die Sonne taucht alles in goldenes Licht und die Bäume verlieren nach und nach ihre kunterbuntgefärbten Blätter. Mein Kinder-Ich sieht aus dem Fenster und das kleine Herz hüpft. Ein kleiner Vogel fliegt hektisch durch die Luft. Und plötzlich weiß ich, was für eine Erinnerung das ist. Es ist der Tag, an dem ich Elias kennenlerne. Seine Familie zog vor einigen Tagen in das Nachbarhaus. Elias' Mutter war bereits zu diesem Zeitpunkt schon so oft auf Geschäftsreisen, dass ich sie kaum zu Gesicht bekam. Aber er liebt sie auch heute immer noch genauso, auch wenn sie sich sehr selten sehen. Ich habe Elias immer von meinem Fenster aus beobachtet, mich aber nie getraut, ihn anzusprechen.
Es klingelt und vor Schreck fällt mir der lilane Buntstift aus der Hand und auf den Boden.
"Emma? Kannst du die Tür aufmachen? Ich habe gerade die Hände voll", sagt Mama und tritt mit weißen Händen voller Mehl aus der Küche. Ich muss lachen und das Zimmer wird von Kinderlachen gefüllt. Schnell springe ich auf und öffne die Tür.
Vor mir steht ein großer Mann, hinter dessen Beine sich ein Junge versteckt, der ein bisschen größer ist als ich.
"Hallo", die Stimme des Mannes ist tief und die kleine Emma hat ein bisschen Angst. Aber er sieht eigentlich nett aus, wie er in die Knie geht und mich nett anlächelt. Er hat Grübchen und seine Haare sind dunkelbraun und trägt noch keinerlei graue Spuren. "Sind deine Eltern da? Wir würden gerne 'Hallo' sagen."
Ich strecke ihm eine kleine Hand hin. "Hallo. Ich bin Emma", sage ich fest. Der Mann lacht leise und schüttelt sie sanft. "Ich bin Lutz. Und das ist Elias." Elias steckt seinen Kopf vorsichtig hinter Lutz' Rücken hervor und lächelt schüchtern.
"Hallo Elias."
"Hallo." Und ich weiß noch heute, dass seine Augen schokoladenbraun funkelten und ich mir plötzlich nichts mehr wünschte, als dass wir Freunde werden.
Das Bild verändert sich und ich sitze wieder malend am Tisch. Es klingelt und ich bin schneller an der Tür als Mama. Denn ich weiß, dass Elias vor der Tür steht. Wir wollen heute an den Inn und Treibholz suchen, aus dem wir Schwerter basteln werden. Ich öffne die Tür und ziehe mir schnell meine quietschgelben Turnschuhe mit Klettverschluss an. Du solltest nicht hier sein. Das ist die Vergangenheit. Aber warum bin ich hier? Was mache ich hier?
Wir stehen am Innufer und beobachten die reißende Strömung des Inns. Es ist kalt, der Winter kündigt sich langsam an. Aber noch hat der Herbst die Vormacht. Ich recke der Sonne mein kaltes Gesicht entgegen, welches sie schon bald wärmt und in gelbes Licht taucht. Wir hören Schritte hinter uns und drehen uns zeitgleich um. Ein Junge mit tiefblauen Augen steht uns gegenüber und beobachtet uns neugierig, aber vorsichtig.
"Hi", sagt Elias und die kleine Emma durchfährt ein kurzer Stich. Ich wollte Elias nicht teilen müssen.
"Hi. Ich bin Sebastian." Der Junge kommt langsam näher und mustert und neugierig.
"Das ist Emma", Elias deutet auf mich und anschließend auf sich, "und ich bin Elias. Wir wollen uns Treibholz suchen um daraus Schwerter zu basteln. Magst du mitmachen?"
Ich weiß, dass ich nicht wollte, dass Basti mitspielt. Weil ich Angst hatte, dass Elias mich fallen lässt, weil Basti viel cooler war als ich. Aber er hat mich nicht fallen gelassen. Er hat mich niemals fallen gelassen. Ich war es, die ihn fallen gelassen hat, als ich nach Berlin gezogen bin.
Das Bild verändert sich. Es schneit. Dicke weiße Flocken fallen vom Himmel und bedecken den Garten mit einer weißen Puderzuckerschicht. Und wir drei sitzen in dicken Decken gewickelt auf meinem Vordach, eine Flasche Vodka teilend. Wir flüstern, weil wir die Nachbarn nicht auf uns aufmerksam machen wollen. Und unsere Gespräche sollte niemand mitbekommen. Ich erinnere mich an den Abend, weil ich mich langsam in Basti verliebte. Und doch liegt mein Blick jetzt nur auf Elias. Wie er lacht. Wie seine Augen im Schein der Straßenlaterne funkeln. Wie sich unsere Hände berühren und ich aber doch nur Augen für Basti habe. Damals hatte ich nur Augen für Basti. Aber jetzt spüre ich jede Berührung mit Elias.
Ich spüre jede einzelne Berührung. Unsere Knie, unsere Schultern, die sich berühren, wenn wir leise lachen. Unsere Hände, die sich berühren, wenn er mir die Flasche Alkohol reicht. Auch wenn mein Herz damals Basti gehörte, so merke ich, dass ich näher bei Elias sitze und nicht bei Sebastian. Als hätte ich schon damals gewusst, dass Elias mein Fels in der Brandung ist. Als hätte ich es gewusst, aber nicht wirklich wahrgenommen. Du warst einfach so blind.
"Emma?" Bastis Stimme versetzt meinem Teenager-Ich einen schnellen Herzschlag.
Ich sehe Basti fragend an und weiß, was kommt.
"Wahrheit oder Pflicht?" Seine blauen Augen funkeln und sehen mich wach an.
Mein Teenager-Ich rollt mit den Augen und antwortet: "Wahrheit."
"Gut. Wem würdest du dein Leben anvertrauen?" Er versucht, den Aufkleber der Flasche abzukratzen und erzeugt dabei ein komisches Geräusch.
"Elias."
Ich weiß, dass die Antwort wie aus der Pistole geschossen kam. Ohne, dass ich überlegen musste. Auch heute sehe ich es immer noch so. Und ich weiß im Gegenzug dazu, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um Elias zu beschützen. Und mir wird bewusst, dass er es schon immer war. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn in meinem Leben. Er war immer Teil meines Lebens. Und die Vorstellung, ohne ihn zu sein, bricht mir das Herz.
Ich sehe Elias an und er lächelt. Es ist ein warmes Lächeln. Du warst so blind. Ständig hast du dich nach Basti verzehrt, aber dein Glück saß immer rechts neben dir auf diesem Dach. Ich greife nach der plötzlich leeren Flasche und drehe sie zwischen unseren Beinen. Emma. Du solltest nicht hier sein. Du fällst in Erinnerungen und ertrinkst darin. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wach auf. Wach auf. Wach auf.
Die Flasche dreht sich und bildet einen wilden Strudel aus bunten Farben, der mich in sich hineinzieht und mich um die eigene Achse drehen lässt. Er spuckt mich aus und ich weiß sofort wo ich bin. Was für ein Tag ist. Ich weiß es, so wie ich Elias' Gesicht sehe. Die Arme meines Teenager-Ichs werden schwer ob der Bücherkiste, die ich trage und ich stelle sie heftiger ab, als eigentlich gewollt. Es ist der Tag meines Umzugs. Elias lächelt, aber seine Augen sprechen Bände. Du warst so blind. Ich habe ihm an diesem Tag das Herz gebrochen. Und ich habe es nicht einmal gemerkt. So blind.
Es ist Frühling, die Bäume in Papas Garten schlagen aus und es bildet sich ein kleines Blütenmeer am Boden. Als wir noch kleiner waren, haben wir die Blumen immer gesammelt. Gänseblumenketten, Emma. Ihr habt immer Ketten daraus gebastelt. Und vor meinem Auge blitzen Bilder des Tages auf, als Elias und ich uns nach etlichen Monaten wieder gesehen haben - und als Malte dann kam. Ich weiß nicht, was ich all die Zeit ohne Elias getan hätte. All die Jahre meiner Kindheit. Doch dann ließ Mama sich von Papa scheiden und brach ihm das Herz. Und ich entschied mich, mit Mama mitzugehen. Ich brach an dem Tag nicht nur Papas Herz. Sondern auch Elias'.
"Du kannst dich immer noch umentscheiden, Em. Das weißt du." Den flehentlichen Ton seiner Stimme habe ich damals gar nicht wahrgenommen.
"Doch. Ich muss. Elias. Wir bleiben in Kontakt, versprochen. Du bist doch mein bester Freund." Mein Umziehe-Ich lächelt und wirft einen Blick auf die rosanen Blüten der Magnolie in dem Garten unseres Nachbarns. Die Vögel freuen sich über den Neubeginn des Lebens und des Jahres. Ein ganzes Jahr lag noch vor mir. Und das erste Jahr seit langer Zeit ohne Elias an meiner Seite. Es hat mir Angst gemacht damals. Und mit dem heutigen Wissen wäre ich diesen Schritt nie gegangen. Ich hätte gebettelt und gefleht, dass Mama hier bleibt. Vielleicht würde sie dann noch leben.
Ich schließe die Augen und höre laute Musik. Es ist der Abend der Party, zu der Nina mich mitgeschliffen hatte. Der Abend unseres ersten Kusses. Mein Herz schlägt und ich versuche ruhig zu atmen. Keine zwei Sekunden später sitze ich Elias gegenüber. Er kommt mir langsam näher. Er hat Angst. Er ist aufgeregt und nervös. Und ich habe nichts davon gemerkt, ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Wie so oft, Emma. Wie so oft. Wir küssen uns. Und mein Herz explodiert. Meine Augen sind geschlossen. Die Musik wird leiser und verebbt schließlich komplett.
Plötzlich rieche ich das Meer und drehe mich um. Es liegt vor mir. In all seiner wunderschönen Pracht. Im Hintergrund läuft 'The Scientists' von Coldplay und mein Herz wird schwer. Schritte im Sand lassen mich aufhorchen. Aber ich weiß schon allein an der Schnelligkeit meines Herzschlages, dass es Elias ist. Er nimmt meine Hand und sofort habe ich das Gefühl, weniger im wilden zerreißenden Wind zu wanken. Ich sehe ihn an und versuche, mir sein Gesicht einzuprägen. Die Lachfalten. Die Bartstoppeln. Seine Wangen. Seine Augen. Seine wunderschönen Kieferknochen. Seine Nase. Seine sanften Lippen, zwischen denen die wunderschönsten Worte herauskommen. Seine Haare, die im Wild tanzen. Mein Blick wandert über seinen Körper. Ich sauge jeden Zentimeter in mir auf. Ich habe Angst. Angst, etwas zu verpassen. Etwas zu übersehen. Emma, du übersiehst auch irgendetwas. Du träumst. Werde wach. Werde wach. Du wirst dort draußen gebraucht, verdammt. Das Lied macht mein Herz schwer. Weil es vom Abschied singt. Und ich möchte Elias' Hand nicht los lassen.
"Ich liebe dich", sage ich flüsternd. Meine Stimme tanzt mit dem Wind.
Elias sieht mich an und lächelt. Sein Lächeln ist so liebevoll, dass ich mein Herz davon abhalten muss, zu zerspringen.
"Und ich liebe dich." Seine Stimme klebt mein gebrochenes Herz zusammen und ich fange an zu weinen. Starke Arme schließen sich um meinen bebenden Körper.
"Schatz, was ist los?" Elias versucht mich zu beruhigen, indem er mich noch fester an sich drückt. Ich versuche, seinen Duft einzuatmen, alles in mich aufzunehmen. Es nicht zu vergessen. Meine Erinnerungen in Schatzkisten aus Holz zu füllen und sie fest zu verschließen. Der eine Schlüssel wird in meiner linken Herzkammer versteckt. Der andere in der rechten. Sodass sie niemand jemals finden wird. Die Erinnerungen an Elias sind mein Seelenheil. Ich weine. Ich schluchze und habe Angst. Und ich weiß nicht einmal warum. Aber da sind Worte. Worte, die mich verlassen wollen. Also öffne ich den Mund.
"Es tut mir leid." Meine Stimme bricht.
"Was meinst du?" Elias drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
"Ich wollte dir nie dein Herz brechen." Elias drückt mich so sehr an seine Brust, dass ich sein schlagendes Herz hören kann. Vermischt mit dem Rauschen des Meeres ergibt es eine wunderschöne Melodie. Es ist die Melodie unserer Herzen.
Elias holt tief Luft und seufzt.
"Aber du hast es doch wieder repariert. Du hast es mit all deiner Liebe wieder gefüllt. Es war keine Absicht, Emma. Bitte gib dir nicht für etwas die Schuld, für das du nichts kannst. Du hast es nicht gewusst."
"Abe-" Elias unterbricht mich und küsst mich. Und ich weiß, wo ich all die Jahre hätte sein müssen. Hier. Bei ihm. Nur bei ihm. Mein Herz blutet. Denn ich weiß, wie viel ich verpasst habe. Aber jetzt bin ich da. Bei ihm. Und ich weiß, wie sehr ich ihn liebe. Meine Liebe kann ich nicht einmal in Worte fassen, weil sie so groß ist. Ich bin hier. Bei ihm. Das ist alles, was zählt. - Bist du das? Bei ihm, Emma? Wach endlich auf, verdammt!
Hätte ich die Möglichkeit, ich würde mein ganzes Leben zurückdrehen. Ich würde alles ändern. Alles. Ich würde ihn retten. Ich würde sein Herz niemals brechen. Und ich würde Papas Herz niemals brechen. Ich würde alles dafür tun, dass Mama noch da wäre.
Die Zeit verrinnt, zerläuft wie eine von Dalís Uhren. Die Erinnerungen wiederholen sich. Und wiederholen sich. Und dann wird es mir klar: Irgendwo, zwischen all unseren Gesprächen, unseren Neckereien und Witzen, Scherzen und Umarmungen, verliebte ich mich in ihn. Seine Worte waren immer Balsam für meine Seele. Deine Worte nicht, Emma.
Ich habe das Gefühl zu fallen. Langsam. Meine Erinnerungen fliegen nur so an mir vorbei. Als säße ich in einem Karussel und die Welt um mich drehte sich unaufhörlich.
Lichter blitzen.
Mein Herz stirbt.
Denn plötzlich fällt mir alles wieder ein. Licht. Böse Worte. Böse, scharfe, gemeine Worte aus meinem Mund. Streit. Quietschende Reifen. Das Gefühl, in den Sicherheitsgurt gedrückt zu werden. Wie mein Kopf beim Aufprall gegen die Scheibe knallt. Ein hässliches Knacken. Und in mir ein einziger Gedanke: Bitte lass ihn überleben.
Mit einem Keuchen schlage ich die Augen auf, bin geblendet von dem Licht. Ich blinzle. Und ich ersticke an Erinnerungen, an Gedanken. Ich bekomme keine Luft. Ich ertrinke. Ich falle und ertrinke.