Ghosts of Eleo

By FraeuleinJung

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"Abigail du kannst sehen", so hatte Abbys Großmutter es einige Stunden vor ihrem Tod ausgedrückt. Seit dem A... More

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2.Kapitel
3.Kapitel
4.Kapitel
5.Kapitel
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9. Kapitel
10.Kapitel
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13. Kapitel
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23.Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog

7.Kapitel

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By FraeuleinJung

How Charlotte told somebody the truth and Benjamin didn't acted like Hulk.

Es sollte zwei Tage dauern, bis Rebecca wieder zur Schule kam. Zwei Tage, in denen der Unterricht nur langsam verstrich, das Wetter nicht daran dachte besser zu werden und ich die Mittagspausen zusammen mit Scott, Samuel, Charlotte, Benjamin und sehr zu meinem Grauen auch mit Anabel verbrachte. Deren Förderprogramm fand leider nur zwei Mal in der Woche statt, weswegen sie die restlichen drei Schultage die Mittagspause auf freiem Fuß verbrachte. Und leider, leider war sie der Meinung Benjamin (der sich auch ohne sie gut zu Recht fand)unter ihre Fittiche nehmen zu müssen. Ergo, hing sie die kompletten 45 Minuten der Mittagspause bei uns herum.

"Ich sag dir Charlie, mit dieser Detoxkur fühlst du dich nach einer Woche viel besser", erklärte Anabel gerade. Es war Donnerstagmittag. Wir hatten unseren üblichen Tisch in der Cafeteria in Beschlag genommen und es hätte nicht grausamer sein können.

"Anabel, Charlotte hat vermutlich einfach was falsches gegessen", stöhnte ich und legte mir die Hand an die Stirn. Scott neben mir grinste, er fand die ganze Szenerie noch relativ amüsant.

In den vergangenen zwanzig Minuten hatte Anabel uns allen verschiedene Sport- und Gesundheitstipps gegeben. Und nichts aber auch wirklich gar nichts hatte sie abwürgen können.

"Und deshalb seit zwei Tagen Bauchschmerzen?", fragte Anabel mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.

"Das klingt für mich eher nach den schädlichen Auswirkungen von falscher Ernährung und zu wenig Sport".

Charlotte und ich wechselten einen Blick.

"Sagst du es ihr, oder ich?", murmelte Charlotte, während Anabel geräuschvoll ihren Smoothie (heute war er nicht grün, das grenzte schon fast an ein Wunder!) durch den extra dicken Strohhalm hoch zog.

"Hab ich schon versucht", presste ich zwischen den Zähnen hervor.

"Was flüstert ihr da?", unterbrach Anabel spitz unserer Konversation.

"Ani, meinst du nicht es reicht?", kam es von Benjamin, der in etwa so begeistert aussah, wie ein platt gefahrenes Eichhörnchen.

Anabel tat so als hätte sie ihn nicht gehört und taxierte Charlotte und mich scharf. Tapfer starrten wir zurück, wobei Scott, der vor unterdrücktem Lachen beinahe bebte, keine große Hilfe war.

Samuel der neben Benjamin saß stocherte in seinen Pommes Frites herum und versuchte unsichtbar zu werden, was mit seinem leuchtend roten Haar so gut wie unmöglich war. Eben erst hatte er sich darüber belehren lassen dürfen, dass das keine gesunde Ernährung war und ihn die Transfette in den frittierten Kartoffelstreifen und der Mayonnaise ihn früher oder später umbringen würde, wenn er weiter so machen würde. Auch die Versicherung, dass er sich nicht jeden Tag so ernährte, hatte Anabel geflissentlich ignoriert.

Kurz um: Dank unserer Lieblings Blondine war die Stimmung im Keller.

Charlotte schob ihr Besteck auf dem Teller zusammen und fixierte Anabel dann aus schmalen Katzenaugen:

"Anabel, wir sagen es dir jetzt schon zum x-ten Mal aber, Windsurfen ist ein Sport. Ein verdammter Leistungssport. Weder Abby, noch Samuel, noch ich leiden unter den Folgen von schlechter Ernährung oder zu wenig Sport. Wir trainieren fast so oft wie du! Deine Unterstellungen sind einfach nur arrogant und zeugen davon, wie wenig du verdammt noch mal in deinem blonden Köpfchen hast. Schön wenn du auf deine Ernährung und deinen Körper achtest, wenn du Spaß dran hast. Aber bitte, hör endlich auf uns andere unablässig damit zu belästigen. Ganz ehrlich der SCHEIß den du täglich von dir gibst, den interessiert hier wirklich NIEMANDEN", mit der Faust schlug sie auf ihr Tablett, wie um ihre Worte zu unterstreichen. Geschirr und Besteck darauf klapperten kläglich, was gut zu hören war, da es an den umstehenden Tischen, die fast ausschließlich von Mitschülern aus unserem Jahrgang belegt waren, still wurde. Fast alle Blicke um Umkreis von zehn Metern richteten sich auf Charlotte und Anabel.

Obwohl Charlotte sich der Aufmerksamkeit aller bewusst war, starrte sie Anabel unverwandt an, diese starrte zurück, bis ihr klar wurde, was Charlotte ihr da gerade gesagt hatte, was sie ihr vorgeworfen hatte. Unter dem sorgfältig aufgetragenen Make-up lief sie vor Scham und Zorn rot an. Mit einer kantigen Bewegung, die so gar nicht zu ihr passte, erhob sie sich und rannte aus der Cafeteria.

Kaum war die Tür hinter ihr zugeschlagen, brandete Applaus auf. Es war als wäre das das Zeichen aus der Starre zu erwachen.

Die Gedanken schossen wie Pfeile durch meinen Kopf. Scott pfiff durch die Zähne, eine leichte Röte schlich sich auf Charlottes Wangen, ob vor Wut oder weil alle ihre Worte gehört hatten, vermochte ich nicht zu sagen.

Benjamin schüttelte langsam den Kopf, hin und her gerissen, wie er reagieren sollte. Dann stand er auf: "Ich hasse mich jetzt schon dafür- aber wenn Mum davon Wind bekommt", und folgte Anabel aus der Cafeteria, in der sich das vertraute Stimmengewirr wieder ausbreitete.

Doch während alle wieder anfingen zu reden, blieben Charlotte und ich stumm, bis ich schließlich die Frage, die zwischen uns im Raum stand aussprach: "Was haben wir da gerade getan?".

Charlotte schüttelte den Kopf: "Große, große Scheiße".

*

Am nächsten Morgen traf ich am Spind auf Rebecca. Sie sah müde aus aber schon viel besser als noch vor drei Tagen.

"Na? Alles klar?", fragte sie, als ich in den Gang mit unseren Spinden einbog.

"Viel wichtiger, wie geht's dir?". Sie zuckte die Schultern und umarmte mich flüchtig.

"Das Cortison hat angeschlagen", sagte sie trocken und drehte an ihrem Zahlenschloss herum.

"Ist doch besser als nichts", gab ich zurück und wühlte in meinem Spind nach meinem Mathebuch.

"Hat Scott dir von der Sache gestern mit Charlotte und Anabel erzählt?", wollte ich wissen und zog mein Mathebuch und meinen Taschenrechnern zwischen mehreren alten Chemieheften hervor.

Rebecca schwieg. Noch bevor ich zu ihr sah, konnte ich ihren Gesichtsausdruck erahnen.

Sie sah alles andere als begeistert aus: "Ja hat er".

"Und?", fragte ich ganz vorsichtig, da ich wusste, dass ich hier gerade so etwas wie ein Minenfeld betrat. Zwar konnte Rebecca Anabel auch nicht ausstehen aber im Gegensatz zu allen anderen war sie sehr empfindlich was Ungerechtigkeiten und vor allem öffentliche Bloßstellung anging.

Zu meiner Überraschung hob sie nur die linke Schulter und ließ sie wieder fallen: "Es war ja ab zu sehen, dass irgendwem mal der Kragen platzt. Und im Grunde, sollte ihr das doch klar gewesen sein".

Diese Aussage war vergleichsweise untypisch für Rebecca.

"Du bist also nicht sauer, dass keiner von uns Anabel verteidigt hat, dass niemand Charlotte unterbrochen hat und kein einziger Charlotte gesagt hat, dass sie Anabel nicht vor allen zur Schnecke machen soll?", deutliche Entrüstung schwang in meiner Stimme mit.

"Ich glaube, dass ist der einzige Weg, auf dem Anabel vielleicht mal einsieht, dass ihr der zeitiges Verhalten einfach unmöglich ist", gab Rebecca zu und schloss behutsam die Tür ihres Schließfachs.

Beinahe sprachlos sah ich sie an. Normalerweise argumentierte ich so.

"Du musst Anabel echt mehr hassen als ich", brachte ich schließlich hervor.

"Hassen würde ich das nicht nennen, bis wir uns kennen gelernt haben, war Anabel meine beste Freundin", erklärte sie dann und pfriemelte an den Riemen ihres Rucksacks herum.

Ach ja. Hatte ich beinahe vergessen. Bis zu dem Zeitpunkt in der sechsten Klasse, als wir zusammen ein Projekt über Indien machen sollten, hatten wir kaum miteinander geredet. Anabel war Rebecca bis zu diesem Zeitpunkt nie wirklich von der Seite gewichen.

"Im Grunde ist sie ein sehr lieber Mensch, nur sind ihr in den letzten Jahren ihre Erfolge beim Ballett und ihre Ernährungs-Religion übertrieben zu Kopfe gestiegen", erläuterte Rebecca während wir langsam die Korridore entlang gingen.

"Ernährungs-Religion", ich lachte leise und freudlos auf.

"Ich mein ja nur Ana-", sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, da ich sie unterbrach: "Da vorne ist sie".

Eilig verstummte Rebecca, da nun auch sie Anabel sah. Sie sah aus wie immer. Die Haare perfekt hoch gebunden, sorgfältig geschminkt und eine langärmelige Bluse mit dem Emblem der Schule in die Hose gesteckt.

Ihre Maske saß perfekt. Sie strahlte diese seltsame Selbstsicherheit aus, die sie unberührbar, nahezu unverwundbar zu machen schien. Doch seit gestern wusste ich, ja beinahe die ganze Schule, dass dieser Schein trog. Anabel war genau so verwundbar wie der Rest von uns.

Kaum hatte Benjamin, der neben ihr stand, uns erblickt kam er auf uns zu. Anabel sah ihm nicht einmal hinter her. Vermutlich ahnte sie auf wen ihr Cousin zu steuerte. Schlimmer wäre es nur gewesen, wenn Charlotte noch hier gestanden hätte.

"Morgen", begrüßte er uns.

Ich nickte ihm zu, hinter ihm drängte Scott sich zu uns und rief: "Becs, du lebst doch". Ein Grinsen huschte über Rebeccas Lippen: "Stell dir vor", erwiderte sie in trockenem Ton und verpasste auch Scott eine kurze Umarmung.

"Und du lebst auch noch", wandte Scott sich an Benjamin, dieser kratzte sich nervös am Hinterkopf: "Anabel hat mich fast in der Luft zerrissen und ihre Mutter erst".

"Warum das denn? Du hast doch gar nichts getan, soweit ich weiß", schaltete Rebecca sich ein.

"Ich bin übrigens Rebecca - Abigail beste Freundin und ihr Sinn des Lebens, hi Benjamin", fügte sie schnell hinzu, da ihr auffiel, dass sie sich nie vorgestellt worden waren.

"Sinn des Lebens?" , fragte ich, kassierte dafür aber nur einen Knuff in die Seite: "Ja Sinn des Lebens", wiederholte Rebecca.

"Also warum hat sie dich fast in der Luft zerrissen?", wandte sie sich wieder Benjamin zu, der uns die Tür zum Religionsunterricht aufhielt.

"Eben genau, weil ich nichts gemacht hab".

"Ihrer Meinung hättest du dich also wie der Hulk vor ihr aufbauen sollen und sie verteidigen sollen?", hakte Scott nach und ließ sich auf seinen Platz am Fenster plumpsen.

"Genau und laut ihrer Mutter, hätte ich allen eine Predigt halten sollen, was für ein wunderbares und zartes Geschöpf die Gute doch ist", genervt stellte er seinen Rucksack ab und zog das Religionsbuch hervor.

"Die arme Anabel", gab ich süßlich von mir.

Benjamin schnaubte.

"Du als ihr Cousin solltest doch wissen, dass sie nach all den Jahre einfach nur Hunger hat", fuhr ich fort. Rebecca lachte leise und ich sah wie Benjamins Mundwinkel sich deutlich nach oben zogen.

"Vermutlich wird sie an Sellerie verrecken", murmelte er und trotz des kleinen Grinsen auf seinem Gesicht schwang eine schmale Spur Bitterkeit in seinem Tonfall mit.

Aus meinem Rucksack fischte ich mein Ringbuch und suchte nach meinem Religionsbuch, vergeblich.

"Beeeeeecs?", ich zog den Spitznamen wie Kaugummi. Rebecca, die gerade kurz mit Jasmine gesprochen hatte (vermutlich über den Sponsorenlauf - Das einzige Thema, dass sie in letzter Zeit kannte), drehte mir skeptisch den Kopf zu und äffte mich nach: "Aaaabs?". Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein schmales Lächeln ab, bei dem das Grübchen auf ihrer linken Wange deutlich hervor trat.

Mein entschuldigendes Grinsen, reichte ihr scheinbar als Antwort, denn statt noch etwas zu sagen, zog sie ihr Buch aus der Tasche, gab ihm auf der Tischplatte einen schwungvollen Schubs, sodass es in die Mitte des Tisches glitt.

"Daaaanke", machte ich und schlug das Buch auf der Seite auf, die wir als Hausaufgabe hatten lesen sollen.

"Hattest du wieder wichtigeres zu tun?", hakte Rebecca nach und beobachtete mit schief gelegtem Kopf, wie ich hastig den Text überflog.

"Hab wohl nichts verpasst", murmelte ich und runzelte die Stirn. Was wollte der Text mir sagen? Hilfesuchend blickte ich zu Rebecca, die mich mit leicht amüsiertem Blick musterte.

" Es geht um die Projektionsthese Feuerbachs", erklärte Rebecca, die den Text vermutlich drei Mal gelesen hatte.

"Ah", machte ich und las die vierte Zeile erneut.

"Laut Feuerbach ist Gott das was der Mensch gerne sein würde. Vollkommen, heilig, unendlich und ewig", fuhr sie geduldig vor.

"Also ist Gott sowas wie der Traumprinz des Menschen? Alles was man selbst sein will, ist er?".

Rebecca kicherte leise: "So in etwa aber-", bevor sie weiter sprechen konnte, wurden wir von Mrs. Jeffery unterbrochen, welche soeben in den Raum getrabt war und lautstark: "Guten Morgen, Kurs", donnerte, um sich Gehör zu verschaffen. Es funktionierte.

"Ms. Connery sie fassen die letzte Stunde zusammen, Miles, ich bekomme noch ein Protokoll von ihnen und Mortey und Eleo, sie hohlen die Bibeln aus dem Materialraum", ratterte sie schroff herunter. Eine Sekunde geschah nichts, dann setzte Mrs. Jeffery ein alles andere als freundliches: "Wird's bald, wir sind hier nicht in der Unterstufe", hinzu.

Normalerweise war Religion eigentlich ein Laberfach. Ein Fach zu dem man einfach fürs hingehen mindestens eine zwei kassierte. Nicht so bei Mrs. Jeffery, die Religion für ein ernst zu nehmendes Fach hielt. Zwar stimmte ihr der komplette Kurs ihr in dieser Sache nicht zu, dennoch zog Mrs. Jeffery ihren Lehrplan knall hart durch. Man munkelte sogar, dass sie mal beim Militär gewesen war. Wie man dann darauf kam ausgerechnet Religion zu unterrichten, war mir ein Rätsel.

Während die anderen sich noch berappelten, war ich schon aufgestanden und hatte den Raum halb durchquert, Rebecca dicht hinter mir. An der Tür warf Mrs.Jeffery mich mit ihrem klimpernden Schlüsselbund ab. Vermutlich hatte sie ihn mir zu werfen wollen, allerdings waren ihre Werfkünste in etwa so unterirdisch wie meine Fangfähigkeiten. Ergo, war es kein Wunder, dass mit der plüschige Nashorn-Schlüsselanhänger unter der Nase hing. Im Normalfall hätte die Klasse gelacht, nur hier wagte es niemand auch nur einen Mucks zu machen.

Etwas verdutzt pflückte ich den Schlüsselbund aus meinem Gesicht und ließ mich von Rebecca aus dem Raum schieben.

"Erinner mich das nächste Mal, wenn ich einen Wahlbogen in die Finger bekomme, dass ich diesen Müll abwähle".

Rebecca lachte: "Du kannst Religion nicht auch noch abwählen, weil du Philo schon rausgeschmissen hast".

Ich stöhnte übertrieben: "Kannst du mich nicht von so blöden Entscheidungen abhalten, dafür bist du als beste Freundin doch da". Im gehen knuffte ich sie leicht in die Seite.

"Ja, der einzige Sinn meines Lebens ist es, dich von dämlichen Entscheidungen abzuhalten".

Eigentlich wollte ich etwas sagen, doch die altbekannte Gänsehaut breitete sich plötzlich und ganz unvermittelt in meinem Nacken aus.

"Scheiße", fluchte ich. Rebeccas und mein Blick kreuzten sich. Fragend sah sie mich an. Ich nickte. Sie wusste genau was ich meinte.

"Warum?", flüsterte sie. Warum flüsterte sie?

Ich zuckte die Schultern: "Ich weiß nicht?". Viel wichtiger, warum flüsterte ich ebenfalls?

Vorsichtig sah ich mich im Gang um. Wir waren alleine.

"Geht bestimmt gleich wieder weg. Erzähl mir einfach, was du gestern gegessen hast?".

Meine beste Freundin stutze: "Bitte was?".

"Dein Mittagessen", wiederholte ich langsam und deutlich.

"Erzähl mir einfach davon".

"Ähm, gut. Also... ich glaub gestern gab es Kartoffelpüree und Möhren".

Angestrengt versuchte ich mich auf einen Teller mit cremigen, dampfenden Kartoffelpüree vorzustellen. Es schien zu funktionieren, noch bevor wir den Materialraum betreten hatten, war das verräterisch silbrige Glimmen an meinen Händen beinahe fast verschwunden. Aber nur fast, denn sonst hätte ich die Stimme vermutlich nie gehört. Es war wieder mein Name. Und ja, es war wieder Henry, der sich hinter Rebecca und mir materialisiert hatte.

"Abby? Alles klar?", fragte Rebecca verwirrt und starrte auf den gleichen Punkt, auf den ich blickte. Einzig und allein mit dem Unterschied, dass ich Henry sah und Rebecca lediglich das Schachbrettmuster der Fliesen betrachtete.

"Du bist wieder hier", brachte ich über die Lippen. Henry grinste, zugegeben, die eine Hälfte seines Gesichts grinste, den Ausdruck auf der anderen Seite konnte man nicht genau erkennen.

"So sieht's aus und wir haben nicht sonderlich viel Zeit, also-".

"Abby was ist los?", Rebecca schüttelte mich an der Schulter.

"Henry", erklärte ich mit einem Wort. "Er will reden".

Rebecca schaltete schneller als ich. Eilig packte sie mich am Arm und stieß die Tür zum Materialraum auf.

"Henry", fragte sie dann vorsichtig und sah zu der Stelle an der sie Henry vermutete. Tatsächlich stand er drei Schritte weiter rechts. Dieser konnte Rebecca natürlich sehen und lächelte über ihren Versuch Blickkontakt herzustellen.

"Komm mit", wies sie ihn nach einigen Sekunden an. Ohne viel Feder lesen schob sie mich voran in den kleinen Raum, der zwar Materialraum hieß aber viel mehr eine Abstellkammer war. Henry folgte uns, ohne weiter zu fragen.

"Also, ich hab nicht viel Zeit, deswegen komm ich direkt zum Punkt", ratterte Henry herunter.

"Was will er?", Rebecca, die sich auf ein ausgesonderten Tisch gesetzt hatte, beugte sich neugierig vor.

"Er sagt, dass er nicht viel Zeit hat-".

"Wirklich nicht viel Zeit", fuhr Henry fort.

"Warte mal", murmelte ich. "Nicht erschrecken", wandte ich mich an Rebecca und griff nach ihrer Hand. Es zuckte ein Mal kurz in meinen Fingerspitzen, fast wie bei einem elektrischen Schlag. Rebecca fuhr ihrerseits kurz zusammen und machte im gleichen Moment große Augen.

"Ach du Schande", murmelte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. Eingehend musterte Henry, dieser brauchte einige Sekunden um zu realisieren, dass Rebecca ihn nun sehen konnte.

"Ich weiß, ich sah schon mal besser aus", witzelte Henry und sah an sich selbst herunter.

"'Tschuldigung", plötzlich blickte Rebecca von Henry weg und schien Maserung des Schrankes hinter ihm irre interessant zu sein.

"Ich wollte nicht starren".

"Nicht schlimm, Rebecca - Ich musste mich auch erst dran gewöhnen", eine Spur verlegen kratzte er sich am Hintergrund.

"Also was ist jetzt? Warum bist du immer noch hier?", drängte ich.

Henry sah auf: "Stimmt genau. Um es kurz zu machen... Ihr wisst doch noch, das Feuer in der Bibliothek?".

Synchron nickten wir.

"Also das war ich.", gab er zu. Er zögerte nicht, das zu sagen. Er machte es, wie er es bereits mehrmals gesagt hatte, kurz. Wie das Abziehen eines Pflasters.

"Du hast was?", schoss es aus mir hervor, während Rebecca zischend einatmete.

"Ich hatte den ganzen Tag Stress gehabt", begann er.

"Aber das berechtigt dich nicht eine ganze Bibliothek nieder zu brennen", fuhr im Rebecca dazwischen.

"Becs, lass ihn reden", murmelte ich.

"Danke", eindringlich blickte Henry nun mich an.

"Ich hab ne fünf in Mathe zurück bekommen, hab mich mit Jasmine und Florence ziemlich heftig gestritten, zu Hause gab's Ärger wegen Mathe und irgendwie ist es dann eskaliert, die Sachen hatten sich seit Monaten angestaut. Ich bin abgehauen zu Zach. Wir waren an der Bucht, haben uns ziemlich die Kante gegeben. Und dann war da der ganze Hass auf Mrs. Beyer, meine Familie, die Schule, dieses ganze verfickte Dorf und irgendwie kamen wir dann, besoffen wie wir waren auf die Idee ein kleines Feuer auf einem öffentlichen Gelände zu machen", Henry ratterte das herunter als habe er sich die Worte schon länger zu Recht gelegt. Wie lange hatte er wohl schon versucht mich zu erwischen?

"Und da kam euch die Bibliothek vor der Bucht gelegen?", hakte ich nach. Henry nickte.

"Und das Feuer ist dann außer Kontrolle geraten, ihr habt es mit der Angst zu tun bekommen und seit abgehauen".

Henry nickte. Obwohl Rebecca einen vorwurfsvollen Ton anschlug, sah Henry nicht im geringsten aus als würde er sich dafür schämen eine gesamte Bibliothek abgefackelt zu haben.

"Genau und auf der Flucht ist es dann passiert, kurz nachdem Zach und ich uns getrennt hatten, kam mir dieser Wagen entgegen, ich wurde geblendet, kam ins Schlingern und stieß mit dem Auto zusammen und dann", er hob die Arme und gab uns somit eine noch bessere Sicht auf seine Wunden, die sich vom Ellbogen, über die Arminnenseite bis zum Schlüsselbein zogen.

"Bist du gestorben", sagte ich trocken.

"Abigail", zischte Rebecca und stieß mir heftig in die Seite.

"Ist schon okay Rebecca", beruhigte Henry Rebecca. "Ich komm ganz gut klar damit, dass ich tot bin". Skeptisch zog meine beste Freundin eine Augenbraue hoch (Wofür ich sie ehrlich hasste).

"Im Ernst. Das einzige was ich bereue, sind die Sachen die ich meinen Eltern und meinen Geschwistern an den Kopf geworfen habe und dass Zach sich immer noch Vorwürfe macht und dann ist da die Sache mit der Bibliothek für die sie diesen psychisch gestörten der hinter Bailey Cliff wohnt, für die Brandstiftung verklappt haben."

Langsam nickte Rebecca, sie schien zu ahnen worauf Henry hinaus wollte, im Gegensatz zu mir.

"Und was hab ich damit zu tun?".

"Naja, ich kann nicht mit meiner Familie sprechen, mich nicht entschuldigen; Sie können mich weder hören noch sehen. Ich kann nichts in anfassen, also keine Mail, keinen Brief schreiben, keine Nachrichten hinterlassen und da kommst du ins Spiel, Abby".

Es war als hätte etwas in meinem Gehirn Klick gemacht.

"Du möchtest also von mir, dass ich sowas wie einen Abschiedsbrief schreibe", stellte ich fest.

Henry nickte.

"Weil du Schuldgefühle hast?", fragte Rebecca.

Wieder ein Nicken, doch es wirkte so, als wäre da noch ein Grund.

"Das ist noch nicht alles, oder?", wollte ich wissen.

Beinahe entschuldigend grinste Henry: "Die Sache ist, ich sitze hier fest, so lange ich mich nicht entschuldigt habe. Bis alles wieder ins Reine gebracht ist".

Rebecca runzelte die Stirn: "Und warum?".

Henry machte eine abwinkende Handbewegung: "Ist zu kompliziert und die Zeit ist gleich um".

"Also machst du es?", drängte er.

Ich nickte. Was war schon dabei? Einen Brief mit einer Entschuldigung und einem Geständnis zu schreiben und ihn irgendwie bei den Flemmings unterjubeln, erschien mir nicht all zu schwer. Und wenn es Henry bei was auch immer weiter half...

"Oh Gott. Danke!", er sah ehrlich erfreut aus.

"Und was genau soll in dem Brief drin stehen?", unterbrach Rebecca seinen kleinen Ausbruch rasch.

Henry zog die gesunde Schulter hoch und ließ sie wieder fallen: "Das es mir Leid tut, dass ich ihnen an den Kopf geworfen habe, dass sie aufmerksamkeitsgeile Egoisten seien, dass ich nie bei irgendwas geholfen habe, dass- ", er kam ins Stocken und schluckte schwer. Wenn mich nicht alles täuschte, dann sah ich eine Träne in seinen Augen glitzern.

"Ich glaub, ich muss noch einmal herk-", noch ehe er den Satz beendet hatte, war er verschwunden. Einfach so. Ohne Vorwarnung.

"Ist er weg? Oder liegt es an mir?", fragte Rebecca zaghaft. Langsam ließ ich ihre Hand los: "Liegt nicht an dir - er ist verschwunden, warum auch immer. Irgendetwas scheint seine Zeit hier zu begrenzen".

Rebecca nickte, wobei ich die Zahnräder, die hinter ihrer Stirn ratterten beinahe hören konnte.

"Also haben wir jetzt so was wie einen Auftrag?", fasste sie das Gespräch in einer einzigen Frage zusammen. Zustimmend nickte ich: "Sieht ganz danach aus".









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