Ghosts of Eleo

By FraeuleinJung

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"Abigail du kannst sehen", so hatte Abbys Großmutter es einige Stunden vor ihrem Tod ausgedrückt. Seit dem A... More

1.Kapitel
2.Kapitel
3.Kapitel
4.Kapitel
5.Kapitel
7.Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10.Kapitel
11. Kapitel
12.Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15.Kapitel
16.Kapitel
17.Kapitel
18. Kapitel
19.Kapitel
20.Kapitel
21.Kapitel
22.Kapitel
23.Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog

6.Kapitel

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By FraeuleinJung

How I got to know the boy, who was just as flubbed as me. 

Nach dem Matheunterricht hatte Scott Schulschluss. Langsam packte er seine Unterlagen zusammen.

"Fährst du heute noch bei Rebecca vorbei und bringst ihr die Sachen vorbei?", wollte er wissen und schob seinen Taschenrechner sorgfältig in die dafür vorgesehene Tasche.
"Ich wollte nach Sport zu ihr", erklärte ich ihm mein Vorhaben und zog an einem der Riemen meines Rucksacks.
Rebecca war heute noch nicht in der Schule gewesen. Vermutlich würde sie morgen auch noch nicht kommen. Zeitpunkt und Dauer der Schübe variierten zwar, dennoch setzten sie Rebecca meist für mehrere Tage außer Gefecht.
"Warte ich hab noch was für sie aus Wirtschaft", Scott kramte in seinem Rucksack und reichte mir einige Arbeitsblätter, die er für sie mitgenommen hatte. Skeptisch musterte ich die Texte und Tabellen, die auf den Blättern abgedruckt waren. Ich hatte Wirtschaft nie etwas abgewinnen können, ganz im Gegenteil zu Rebecca.
"Sonst noch was?", hakte ich nach, doch Scott schüttelte den Kopf.
"Wünsch ihr gute Besserung von mir", fügte er dennoch hinzu.
Ich nickte: "Werd ich".
Wir waren die letzten im Klassenzimmer und Mr Sallivan, der wohl auch in seine Mittagspause wollte, scheuchte uns energisch hinaus.
"Weist du wer jetzt noch Mittagspause hat?", fragte ich, während wir in Richtung meines Spindes gingen.
"Ich glaub Florence ist bei ihrem Tanz-Förder-Ding, Samuel gibt Nachhilfe, vielleicht ist Charlotte da".
"Ah", machte ich. "Naja, irgendwer wird schon da sein, zu dem ich mich setzten kann".
Wir hielten vor meinem Spind an.
"Zur Not gehst du halt zu Anabel", witzelte Scott, während ich mich am Zahlenschloss zu schaffen machte. Mit liebevoller Gewalt, rüttelte ich an der Schranktür, die wie immer etwas klemmte.
"Vielleicht solltest du einfach mal beim Hausmeister Bescheid sagen, bevor du die Tür eines Tages noch komplett heraus reißt".
"So stark bin ich nicht", entgegnete ich. Die Tür meines Schließfaches schwang auf.
"Siehst du, das funktioniert auch alles so ganz gut", zufrieden griff ich nach meiner Sporttasche, die ich am Morgen hier abgestellt hatte.
"Fragt sich nur wie lange", murmelte Scott. 
"Jetzt sei mal nicht so pessimistisch", ich knuffte ihn in die Seite und schlug die Schranktür schwungvoll zu. Sie klapperte kläglich. Na gut, vielleicht hatte Scott Recht und ich sollte doch etwas pfleglicher mit meinem Schließfach umgehen.
"Gut, wir sehen uns dann morgen", er umarmte mich, bevor sich unsere Wege trennten. Während Scott auf den Haupteingang zu steuerte, stiefelte ich zur Cafeteria.
Auf den ersten Blick erspähte ich niemanden aus meiner Stufe, zu dem ich mich setzten wollte. Nicht alle aßen hier, manchen fuhren die Mittagspause über nach Hause, manche hatten wie Scott schon aus und bei anderen wie Florence begannen die Förder-Programme schon in der Mittagspause.

An einem Tisch in der Mitte der Cafeteria saßen Zach Coden und Aron Miles mit einigen ihrer Freunde. Eigentlich waren diese ganz in Ordnung aber ich hatte eigentlich keine Lust mir zweideutige Kommentare über Senfsauce von einigen Testosteron gesteuerten Fast-Erwachsenen anzuhören. Nicht heute.

Dann würde ich eben alleine sitzen. Damit konnte ich auch leben. Schweigend holte ich mir an der Essensausgabe eine Portion Reis mit Fisch und besagter Senfsauce. Der Salat, eine Theke weiter, sah nicht besonders verlockend aus. Irgendwie welk und bräunlich, alles in allem nicht sehr appetitlich.

Ich machte also besser einen großen Bogen um den Salat und setzte mich allein an unseren üblichen Tisch.
Der Fisch hatte die Konsistenz von gut durchgebratener Schuhsohle und die Sauce... reden wir lieber erst gar nicht über die Sauce. Aber der Reis, nun ja, der schmeckte eben nach Reis.

Missmutig schob ich das Stück "Fisch" (machen wir uns über die zwielichtige Herkunft des Cafeteriaessens mal nichts vor) an den Tellerrand und versuchte soviel Reis wie möglich von der Sauce zu separieren.
Einige Minuten saß ich einfach nur da und aß. Mein Handy, das ich neben meinen Teller gelegt hatte zeigte mir Rebeccas letzte Nachricht an. Um mich herum füllte die Cafeteria sich immer weiter und es hätte nicht anders sein können, wurde ich angesprochen, gerade als ich eine Antwort für Rebecca tippen wollte.
"Kann ich mich zu dir setzten?".
Ich musste gar nicht hoch sehen, um zu wissen wer da stand. Es war als würde ich förmlich spüren wie Adrenalin in meine Adern gepumpt wurde. Mein Magen rebellierte (das könnte auch an Fisch und Sauce gelegen haben) und ich spürte wie mir die Kontrolle versuchte zu entgleiten.

Reiß dich zusammen, Abby! Das ist doch genau das was Scott meinte, du reagierst ohne richtigen Grund vollkommen über.

Nach einer gefühlten Ewigkeit in der wir beide wie die letzten Deppen nichts taten, hob ich schließlich den Kopf und sah zu Benjamin auf. Zögerlich nickte ich und antwortete  mit belegter Stimme: "Ja".

"Cool", kam es von ihm in einem Tonfall der klar machte, dass er das alles nicht ganz so cool fand. Benjamin sah zunächst doch nicht so aus als wolle er sich hinsetzten. Schien so als würde er am liebsten weglaufen wollen. Warum hat er dann gefragt, wenn er es augenscheinlich sofort zu bereuen schien?

Demonstrativ sah ich wieder auf mein Handy, doch ich hatte ganz vergessen was ich Rebecca schreiben wollte.
"Du schreibst ja gar nicht", bemerkte Benjamin, der nun doch einen Ruck gegeben hatte und sich auf den Stuhl mir gegenüber nieder gelassen hatte. Mist.
Etwas verwirrt sah ich auf aber nur um mit Schrecken festzustellen, dass die silbernen Wirbel in seinen Augen aufgetaucht waren.Prüfend blickte ich auf meine Hände. Verdammt!

Das matte silbrige Leuchten machte mir unmissverständlich klar, dass ich schon wieder die Kontrolle über meine "Gabe" verloren hatte. Ich seufzte und zwang mich, mich normal zu verhalten.

"Tu ich wohl", erwiderte ich lahm. Mit einem halben Grinsen im Gesicht sah Benjamin mich an: "Du starrst nur auf den Bildschirm".
"Vielleicht tu ich das ja gerne", antwortete ich eine Spur zu patzig. Nett bleiben, mahnte ich mich. Dieser Typ hat dir nichts getan, viel mehr bist DU in ihn rein gelaufen.

"Ist ja egal", mit einer flinken Bewegung beförderte ich mein Handy in die Untiefen meines Rucksacks.
"Wo hast du Anabel gelassen?", fragte ich, während ich mich gleichzeitig auf mein Mittagessen vor mir konzentrierte.

Benjamin lachte: "Bin sie irgendwo losgeworden. Gott sei Dank, noch länger und ich wäre Amok gelaufen oder hätte sie heute Nacht im Schlaf erstickt".

Das war doch mal ein Statement. Doch Moment...Ich verschluckte mich an meinem Schluck Wasser und hatte das Gefühl gleich zu ersticken.  Nach einigem Husten (klang so als würde ich hier und jetzt das zeitliche segnen) konnte ich wieder sprechen.
"Ihr wohnt zusammen? Seid ihr irgendwie ein Paar, oder so?".

Wieder lachte Benjamin. Seine Lache war laut und herzlich: "Um Himmels Willen! Das hält doch kein Kerl aus. Ich wohne der Zeit nur bei ihr und Tante Molly bis wir fertig renoviert haben". 

Ich grinste. Obwohl ich das silber immer noch in seinen Augen sah, erschien er mir plötzlich gar nicht mehr bedrohlich. (Vermutlich hatte sein Haltung gegenüber Anabel maßgeblich dazu beigetragen.)

"Seid ihr grad erst hergezogen?". Okay, zugegeben die Frage war ziemlich dumm, immerhin war das hier Howth. Und in Howth wusste man so ziemliches alles was gerade vor sich ging. Das war gleichzeitig der Vorteil und der Nachteil in einer Kleinstadt zu leben. Sobald man etwas blödes tat, wussten es selbst der Postbote und der Milchmann.

Benjamin nickte und schnitt sich ein Stück von seinem "Fisch" ab.
"Genau. Und die Sanierung unseres Hauses hat mehr Zeit in Anspruch genommen als gedacht aber der Vertrag der alten Wohnung war schon gekündigt und so sind wir jetzt vorüber gehend bei der Familie meiner Mum".

Das Wort vorübergehend betonte er so, als könnte die Zeit dort gar nicht schnell genug vorbei gehen.

"So schlimm?". Wieder so eine intelligente Frage. Egal, der Smalltalk half dabei den Geister-Modus abzuschalten.
"Ich dachte du kennst Anabel ein bisschen, jeden Falls tut das jeder mit dem ich bis jetzt gesprochen habe".
Ich lachte. Es war ein ehrliches Lachen, wobei ich spürte wie langsam die Anspannung von mir abfiel. 
"Du musst wissen, seit Anabel in der neunten mit ihrem ersten Green-Smoothie angekommen ist - Ist sie sowas wie eine Lokalberühmtheit. Okay und die ganzen Ballett-Vorführungen haben dazu vielleicht auch beigetragen", gestand ich ein.

"Vergiss nicht, dass Ani schon bei den County Fingal - Awards tanzen durfte", äffte Benjamin die Stimme von Anabels Mutter nach. Wieder lachte ich und bemerkte zufrieden, dass der Geister-Modus verschwunden war, noch bevor Ava Green aufgetaucht war und mir von ihrem Zach vorschwärmen konnte.

Benjamin schob sich ein Stück Fisch mit Sauce in den Mund. Großer Fehler. Angeekelt verzog er das Gesicht. Es war ihm  anzusehen, dass er das Zeug nur mit Mühe runter schluckte.
"Ich hätte dich vielleicht warnen sollten, denn in dem Punkt hat Anabel Recht - Manche Gerichte sollte man besser meiden".
Er nickte: "Wäre gut gewesen".
"Zu spät", ich schob mir eine weitere Gabel Reis in den Mund.

"Und wie gefällt dir Howth sonst so?".
Er zuckte die Schultern und begann auf seinem Teller , so wie ich vorhin, essbares von nicht essbarem zu trennen.
"Hab noch nicht so viel gesehen. Die meiste Zeit war ich in einem abgegammelten Haus und die andere Hälfte der Zeit hat es geregnet".
"Daran musst du dich wohl gewöhnen. Genauso wie an den Geruch nach Fisch und Algen".

Er zog die Nase kraus: "Der ist aber auch überall oder?".
"Meine Granny meinte immer, die Menschen in Howth werden mit diesem Geruch geboren. Aber im Ernst, man gewöhnt sich daran."

"Also bist du nicht von hier?", stellte er fest.
Ich schüttelte den Kopf: "Die Familie meines Dads hat schon immer hier gelebt. Aber bis ich sechs war, hab ich in Dublin gelebt".
"Ganz schöne Umstellung was?", fragte er und schob sich eine Gabel Reis (wohlgemerkt ohne Sauce) in den Mund.
Ich zuckte mit den Schultern: "Ich war sechs, die einzige Umstellung war, dass ich plötzlich alleine zur Bücherei gehen durfte, da die Gefahr entführt oder überfahren zu werden ist, hier geringer ist als in der Stadt".

Ein keines Grinsen zeichnete sich auf Benjamins Gesicht ab.
"In Howth gibt es bestimmt auch schwarze Männer".
Daraufhin schnitt ich eine Grimasse: "Nope. Der einzige schwarze Mann ist der Schornsteinfeger. Und der Barkeeper in der Abbey Tavern".

"Der Pub heißt wie du?", hakte Benjamin nach.
"Sicher, dass ich nicht nach dem Pub benannt wurde?".
"Okay, blöde Frage", gestand er ein und widmete sich seinem Salat: "Nach Anabels Predigt, dachte ich mit Salat könnte man hier nichts falsch machen".

Ich schob meine Besteck auf meinem Teller bei Seite und hob mein kleines Dessertglas an.
"Das einzige, worauf man wirklich vertrauen kann ist der Schokopudding", erklärte ich dann voller Überzeugung.
"Gut, den hat Ani nicht erwähnt".
"Warum wohl?".

Doch anstatt mir zu antworten hatte  Benjamin sein Besteck sinken lassen und starrte verwirrt auf einen Punkt oberhalb meiner rechten Schulter.
"Ist was?", fragte ich vorsichtig. Langsam drehte ich meinen Kopf, doch da war nichts, jedenfalls sah ich nichts. Benjamin hingegen starrte immer noch mit zunehmender Verwirrung und vielleicht auch etwas Abscheu auf die gleiche Stelle.

Wenn meine Theorie stimmte und er nach allem was ich gesehen hatte genauso verkorkst war, wie ich selbst, dann konnte ich jetzt auch alles auf eine Karte setzten.

"Ich weiß wie interessant sie aussieht, aber wenn du nicht den Rest deiner Schulzeit zu Tode genervt werden möchtest, dann würde ich dir raten jetzt ganz schnell wo anders hinzugucken, und zu hoffen, dass sie nicht bemerkt hat, dass du sie sehen kannst", riet ich ihm sehr schnell und mit gesenkter Stimme.
Erst im Nachhinein wurde mir klar, wie sinnlos diese Sätze klingen musste, wenn man den genauen Kontext nicht kannte. Ich begann schon zu bereuen was ich gesagt hatte (vielleicht hätte ich  lieber mit ihm unter vier Augen ein Du siehst Geister- Hey ich auch!- Willkommen im Club - Gespräch führen sollen) als er hastig den Blick von Ava Greens Geist nahm und ich etwas wie Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen sah. 

"Heißt, dass das du sie auch siehst?", fragte er in einem angespannten Tonfall, der so gar nicht zu seiner eben noch gelösten Stimmung passte.
"Die Rothaarige mit der dicken Hornbrille, der Monsterzahnspange, der ausgeleierten Schuluniform, den Teddybär- Kniestrümpfen und der New Kids on the block -Lunchbox?", beschrieb ich Ava ziemlich treffend.
Benjamin nickte und riskierte einen weiteren kurzen Blick.
"Das ist Ava Green - Der nervigste Mensch der je geboren wurde und Ende der neunziger einen Selbstmordversuch beging. Wie gesagt ein Versuch - eigentlich wollte sie damit nur mehr beachtet werden. Ging aber schief und sie verblutete. Wenn du genau hinsiehst, siehst du sogar die aufgeschnittenen Pulsadern".

Wieder nickte Benjamin, sah aber trotzdem nicht so aus, als würde er sich sonderlich für Ava ziemlich dämlich gewählten Tod interessieren.

"Du kannst also sehen?", wollte er mit sehr, sehr leiser Stimme wissen. Du Art wie er das Wort sehen betonte, erinnerte mich sehr an meine Grandma und ihre letzten Worte an mich. Damals hatte ich keine Ahnung was sie meinte, heute ist mir klar, dass sie mir so nett wie möglich vor ihrem Tod hatte mitteilen wollen, dass ich von nun an Geister sehen würde.
Vermutlich war es genau diese Betonung, die mein Unterbewusstsein beschließen ließ, dass ich diesen Jungen, den ich kaum einige Tage kannte, vertrauen konnte.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen: "Sieht so aus, als säßen wir in einem Boot, Benjamin O'Haley".

*

Als ich am Nachmittag zu Rebecca fuhr, fühlte ich mich irgendwie befreit. Auf eine seltsam Art und Weise. Bisher hatte es mich nie besonders belastet, dass Danny der einzige war, der mich manchmal verstehen konnte. Zugegeben, ich hasste es wenn ich plötzlich die Kontrolle verlor und nicht mehr wusste, wer nun real war und wer lediglich reine Projektion einer toten Person.

Die Tatsache, dass Danny und ich mit unserer "Begabung" nicht alleine waren, fühlte sich (und ich kann es nicht anders sagen) einfach nur gut an.

Der Sportunterricht war für meinen Geschmack viel zu schnell vergangen, obwohl wir knappe neunzig Minuten durch den kalten Regen gelaufen waren.

Als ich in Rebeccas Einfahrt hielt, fielen die kalten Tropfen immer noch. Der Wind war wieder aufgefrischt und fuhr mir unter die Jacke.  Unter meiner zwei Nummern zu großen Regenjacke trug ich nur meine Sportklamotten. Eine lange Hose und ein kurzärmliges T-shirt mit zwei Einhörnern vorne drauf (ein nicht ganz so ernst gemeintes Geschenk von Scott zu meinem sechzehnten Geburtstag).

Ich beeilte mich aus der Kälte zu kommen und klingelte direkt Mehrmals bei den Morteys. Fast sofort wurde mir die Tür geöffnet.
"Hallo Abby", begrüßte mich die hochgewachsene aber gertenschlanke Mrs. Mortey. Mit ihren langen dunkelblonden Haaren und dem herzförmigen Gesicht, sah sie aus wie eine ältere Ausgabe ihrer Tochter.

"Hallo Mrs. Mortey", ich  lächelte zu ihr hoch.
Sie erwiderte mein Lächeln: "Komm erst mal rein, du erfrierst noch". Energisch schob sie mich in das schmale Reihenhaus.
"Du willst bestimmt zu Rebecca". Ich nickte und hängte meine Jacke an einem der Kleiderhaken auf.
"Wie gehts ihr?", fragte ich und stellte meine Laufschuhe auf den freien Platz im Schuhregal, den man mittlerweile als meinen bezeichnen konnte.
Mrs Mortey seufzte.
"Wir waren heute beim Arzt. Der hat ihr ein neues Medikament verschrieben aber bis das anschlägt", sie verdrehte die Augen. Gefühlt hatte Rebecca ihr halbes Leben in Krankenhäusern und in Wartezimmern bei den verschiedensten Rheumaspezialisten verbracht.
"Naja wir werden sehen", sagte Mrs Mortey und fügte dann etwas lauter hinzu: "Rebecca ist oben inihrem Zimmer".
"Okay".
Schnellen Schrittes lief ich die Holztreppe hoch in den ersten Stock. Rebeccas Zimmer lag am Ende des kurzen Flures. Die Tür war nur angelehnt. Leise Musik drang nah draußen. Wenn mich nicht alles täuschte war das, das Andrea Bocelli Album ihres Vaters.
"Hey du", ich trat in ihr Zimmer. Von dem flauschigem Teppich vor ihrem Bett, über die Fotos an der Wand, bis hin zu den Schrammen auf ihrer Schreibtischplatte, war mir der Raum so unglaublich vertraut. Ich wusste gar nicht wie viel Zeit ich hier verbracht hatte.

Wie viel Nächte wir aufgeblieben waren, um uns schnulzige Liebesfilme rein zu ziehen und tiefsinnige Gespräche über Jungs und die nuttigen Ausschnitte anderer Mädchen zu führen - konnte ich gar nicht mehr zählen. Es waren viele gewesen, sehr viele.

Rebecca saß aufrecht in ihrem Bett und sah auf als ich eintrat: "Hey Abby". Sie lächelte und ließ ihr Buch auf die Bettdecke sinken. Selbst von Weitem sah sie nicht gesund aus. Ihr Gesicht war blass, sodass die dunklen Augenringe noch heftiger hervortraten.
"Wie geht's dir?", erkundigte ich mich, obwohl die Frage ziemlich überflüssig war. Ich setzte mich im Schneidersitz ihr gegenüber aufs Bett.
"Beschissen", ihre Stimme klang kratzig, so als wäre sie schwer erkältet.
"Wir waren heute morgen beim Arzt, der hat mir nur ein weiteres nutzloses Medikament verschrieben", mit dem Kopf deutete sie in Richtung ihres weiß lackierten Nachtschränkchens, auf dem eine durchweichte Pappschachtel mit Cortisontabletten neben einem Glas Wasser stand.
"Das braucht halt sein Zeit um anzuschlagen", zitierte ich Mrs. Mortey.
Rebecca lachte kurz und kalt auf: "Du klingst wie meine Mum und der Rest von diesen ganzen Quacksalbern".
Ich sah ihr die unterdrückte Wut an. Wut auf die Ärzte, ihre Mutter, ihre Familie, auf sich selbst aber vor allem auf die Krankheit. 

Normalerweise war Rebecca der liebenswürdigste Mensch den ich kannte. Und eigentlich hatte sie eine Engelsgeduld mit allem und jedem. Mit ihrem Nachhilfeschüler, mit ihren kleinen nervigen Cousinen und mit Scott und mir.

Doch bei ihrer Krankheit riss ihr dieser Geduldsfaden. Rebecca hasste es, dass eine Krankheit ihr Leben so sehr kontrollieren konnte.

Ich presste die Lippen zusammen und sagte nichts. Es hätte auch nichts gegeben was ich hätte sagen können oder nicht schon gesagt hatte.
Sätze wie "Das wird schon wieder", "Du schaffst das schon", "Morgen sieht die Welt schon wieder besser aus" und "Der Schub ist bald vorbei und die neuen Medikamente werden das schon richten", hatte Rebecca bereits oft gehört, da musste ich sie nicht auch noch wiederholen.

"Ich hab dir was mitgebracht", wechselte ich stattdessen das Thema und versuchte gute Laune vorzutäuschen. Aus meinem Rucksack zog die die gesammelten Arbeitsblätter und ließ den Stapel auf die Pferdebettwäsche fallen.
Rebecca ging auf meinen Versuch mit der guten Laune ein. "Juhu", kam es halbherzig von ihr als sie den Papierstoß musterte: "So wird mir ja auf keinen Fall langweilig. Toll."
Mit ihren geschwollenen Fingern griff sie nach den Blättern, schob sie schwerfällig zusammen und legte auf den Boden vor ihrem Bett.
"Und was gibt's sonst noch neues?".
"Von Caitlyn's Einlage gestern hab ich dir schon geschrieben?".
Rebecca unterdrückte ein kleines Grinsen: "Leid kann sie einem ja schon tun" .
"Du kannst eher mich bemitleiden, dass ich diesen See beseitigen durfte", ich zog eine Schnute. Rebecca lachte, wobei sie noch nicht einmal gequält klang. Die Ablenkung funktionierte also.
"Und abgesehen davon?".

Ich schmunzelte. "Ich bin Henry begegnet. Auf dem Mädchenklo?".
Im Gegensatz zu Scott und mir, fragte Rebecca nicht sofort nach, wie um Himmels Willen Henry sich Zugang zum Mädcheklo verschaffen konnte sondern: "Und das erzählst du erst jetzt?".

Die Geschichte war innerhalb weniger Minuten erzählt und am Ende sah ich wie Rebecca genau verstand, was ich zu erklären versuchte. 
"Also hatten wir doch Recht, er braucht wohl deine Hilfe", verkündete sie wurde aber von Andrea Bocelli übertönt, der gerade Time to Say Goddbye zum Besten gab.
"Und da ist noch was", fuhr ich fort und stand auf um die Stereoanlage leiser zu stellen.
"Ich hab heute mit Benjamin gesprochen. Er -", ich schloss die Tür, setzte mich wieder aufs Bett und senkte die Stimme ein bisschen.
"Er sieht das gleiche wie ich".
"Echt?". Rebecca wirkte ehrlich überrascht.
Ich nickte.
"Krass", murmelte sie.
"Du hast nicht geglaubt, dass überhaupt noch andere gibt oder?", wollte ich wissen und zwirbelte dabei an einem der Deckenzipfel herum. Rebecca lächelte. Trotz ihres abgespannten Gesichtsausdruck, den Augenringen und ihrer ungesunden Teints, sah sie in diesem Moment beinahe glücklich aus. 
"Nicht wirklich und bis Benjamin aufgetaucht, habe ich das auch nie in Frage gestellt", gestand sie. 

Langsam nickte ich. Um ehrlich zu sein, hatte ich bis zu meiner ersten Begegnung mit Benjamin auch nie richtig über die Existenz anderer Geisterseher nachgedacht. Also nie wirklich. 

Rebecca wechselte das Thema. Und so plauderten wir noch eine Weile. Ich lag auf auf dem flauschigem Teppich vor dem IKEA Bett und Rebecca saß darin, aufrecht gegen die Metallstreben am Kopfende gelehnt. 

Draußen tobte der Sturm weiter und schleuderte  dicke Regentropfen mit aller Wucht gegen die Fensterscheiben.  Und drinnen, im warmen Zimmer fachsimpelte Rebecca über die Beziehung zwischen ihrem Rheumaspezialisten und einer Krankenpflegerin  der Klinik. Ich starrte, den weichen Teppich im Rücken, an die Decke, lauschte ihr und den vertrauten Klängen von Andrea Bocelli. 

Irgendwann, ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, klopfte es an die Tür. 
"Komm rein Mum", bat Rebecca. Bei uns wurde nie angeklopft, sondern einfach geöffnet und rein gegangen. 
Mrs. Mortey trat ein. 
"Abby Liebes, möchtest du zum Abendessen bleiben?", erkundigte sie sich. Kalt erwischt, dass die Zeit so schnell vergangen war, blickte ich auf meine Armbanduhr. Es war bereits kurz nach sieben, eigentlich sollte ich schon zu Hause sein. Erschrocken setzte ich mich auf und stieß mir promt den Kopf am Bettrahmen. 
"Danke - Aber ich glaube ich sollte schon zu Hause sein", ich rieb mir den Hinterkopf. 
Mrs.Mortey lächelte mich an: "Dann auf, nicht dass Ruth sich noch Sorgen macht". 
Ich winkte ab: "Vermutlich weiß sie genau wo ich bin". 
Rebeccas leises Lachen war vom Bett her zu hören: "Du wohnst ja beinahe hier". 
Ich grinste und richtete mich auf, wobei ich den imaginären Staub von der Hose klopfte. 
"Ich bin dann mal weg. Ich glaub Scott kommt morgen mal vorbei". 
Sie nickte und griff nach der Tablettenschachtel. Während ich an den Reißverschlüssen meines Rucksacks herumnestelte, löste Rebecca eine der kleinen Pillen in dem Glas Wasser neben ihrem Bett auf. 
"Okay", sie kippte das Wasser mit einem einzigen, großen Schluck hinunter und verzog das Gesicht. 
"Bitter", bemerkte sie trocken und stellte das Glas wieder  auf den Tisch. 
"Der Arzt meinte, wenn alles gut geht mit den Medikamente - was ich nicht glaube - sollte ich Donnerstag wieder in der Schule sein", verächtlich schnaubte sie durch die Nase. 
"Also diese Woche nicht mehr?". 
Sie zuckte die Schultern: "Sobald es geht - Aber im Moment-", anstatt den Satz zu vollenden hielt sie lediglich ihre Hand mit den geschwollenen Fingern und Gelenken hoch. 
"Lieber nicht", erwiderte ich und erinnerte mich flüchtig an Rebeccas Schulbesuche, wenn der Schub noch nicht vollkommen auskuriert war.
"Mhh", machte Rebecca und zog ihre Bettdecke etwas höher. 
Ich stand schon an der Tür als Rebecca noch einmal die Stimme hob: "Abby? Kannst du mir noch einen Gefallen tun?". 
"Klar", die Hand schon an der Türklinke drehte ich mich um. 
"Kannst du Andrea gegen Billy austauschen?". Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich machte noch einmal kehrt und ging zurück zu der Kommode mit der Stereoanlage, neben der leeren Andrea Bocelli CD Hülle, lag ein kleinerer Stapel an CDs. Ganz oben auf lag die Billy Talent - CD  , auf die Rebecca jetzt gerade aus war. 

Gerade als die ersten Bässe von White Sparrows erklangen, schloss ich die Tür hinter mir. 


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