Ghosts of Eleo

Von FraeuleinJung

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"Abigail du kannst sehen", so hatte Abbys Großmutter es einige Stunden vor ihrem Tod ausgedrückt. Seit dem A... Mehr

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Epilog

4.Kapitel

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Von FraeuleinJung

How I met a dead classmate at the girls rest-rooms.

Der Tag verstrich nur langsam. Allein die verbliebenden dreißig Minuten Geschichte, in denen ich nur versuchte zwei Quellen zu lesen, zogen sich wie ein gigantischer Kaugummi.

Als es schließlich zu Pause klingelte, packte ich hastig meine Sachen zusammen und rauschte aus dem Raum hinaus. Erst als ich durch die Tür war, fiel mir auf, dass ich vielleicht auf Scott warten sollte, wenn ich die Pause nicht allein verbringen wollte.

Scott ließ sich Zeit und schlurfte als letzter aus dem Geschichtsraum. Hinter ihm schloss Mrs.Allgory die Tür ab und ging, ohne uns eines Blickes zu würdigen in Richtung Lehrerzimmer. Definitiv, die Frau konnte mich nicht leiden. Das beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Schließlich unterrichtete sie die langweiligsten Fächer, die jemals erfunden wurden. Gälisch und Geschichte.

"Hat Becs noch irgendwas gesagt?", fragte Scott und machte sich am Zahlenschloss seines Schließfachs in der Oberen zweier Reihen, zu schaffen.

"Nur dass sie es Leid ist, immer die Kranke zu sein", schulterzuckend beobachtete ich wie Scott seine Bücher verstaute. Die Innenwand des Spinds war mit mehreren Stundenplänen aus den verschiedenen Schuljahren beklebt. Scott hatte sie nie abgenommen. Dazu kamen noch eine zerknitterte Kopie des Periodensystems und mehrere Quelltexte, die ihm was weiß ich was sagten. Ja, Scott war ein kleiner Nerd.

Unter einem Stapel Bücher, die er unordentlich auf den Boden des Spinds lagen zog er einen zerfledderten Block heraus.

"War sie depressiv?", hakte Scott nach und ließ die Tür zu fallen.

Ich zog eine Grimasse: "So würde ich das nicht sagen".

"Und wie dann?".

Ich zog die Schultern hoch und heftete meinen Blick auf den Gang vor mir.

"Einfach nur erschöpft und für ihre Verhältnisse... genervt".

Scott nickte langsam, wobei seine Brille ein Stück die Nase hinunter rutschte. Schweigend liefen wir die Gänge entlang, die sich langsam mit Schülern füllten. Heute waren es mehr als sonst, da es draußen wie aus Kübeln regnete und niemand nasser werden wollte als nötig.

So kam es, dass wir uns in den überfüllten Aufenthaltsraum für die Oberstufe quetschten. Wir ergatterten einen der Tische, von denen man auf den verregneten Hof blicken konnte.

"Und was gibt's heute zum Frühstück?", Scott zog eine lädierte Star Wars Butterbrotdose hervor. Die Dose hatte er bestimmt schon seit der ersten Klasse, so wie sie aussah. Die gelb-goldenen Farbreste ließen nur vage darauf schließen, dass dort einmal C-3PO zu sehen gewesen war. Darin lagen vermutlich zwei Brötchen mit Nutella bestrichen und eine in Spalten geschnittene Möhre, so wie immer.

"Ein Joghurt und eine halbe Laugenstange mit Käse", erwiderte ich und zog die Laugenstange aus meinem Rucksack hervor.

Stirnrunzelnd betrachtete Scott das arg zerquetschte Gebäck: "Warum nur eine halbe?".

Ich verdrehte die Augen: "Mum meint, dass Danny in der Wachstumsphase steckt".

Scott lachte: "Schon wieder? So viel wächst er doch gar nicht".

"Ohh doch - er ist mittlerweile fast zwei Köpfe größer als ich".

"Das ist jetzt auch nicht so schwer".

Für den Kommentar landete mein Ellbogen in Scotts Magen.

"Mensch Abby", beschwerte er sich und rieb sich die Stelle.

"Selber Schuld du Memme".

Schon wieder lachend wollte Scott etwas erwidern, doch Jasmine Connery kam ihm zu vor. Sie war plötzlich aus der Menge aufgetaucht, knallte ihre Tasche auf unseren Tisch

"Gut, dass ich euch erwische", begann sie ohne Umschweife. Scott biss unbeeindruckt von seinem Nutella Brötchen ab und sah dann erwartungsvoll kauend zu Jasmine auf.

"Was gibts?", fragte ich an seiner Stelle.

"Hier". Aus ihrer Tasche zog Jasmine einen Stapel bunt bedruckter Flyer.

"Wir veranstalten vor den Weihnachtsferien noch einen Sponsorenlauf, für die Restaurierung der ausgebrannten Bibliothek".

Sie reichte je Scott und mit je einen Flyer.

"Nimmst du einen für Rebecca mit?", fragte Jasmine. Eigentlich war es eher eine Aussage als eine Frage, denn Jasmine hatte mir bereits einen weiteren Zettel hingelegt und war mit einem kurzen: "Wir sehen uns", schon wieder im Gedränge verschwunden.

"Manchmal frag ich moiich, warum sie dasch alles macht", murmelte Scott.

"Erst schlucken dann reden", ermahnte ich ihn. Ich hasste es wie nichts anderes, wenn Menschen mit offenem Mund sprachen.

"Aber ja -Ich hab auch keine Ahnung, warum sie das alles macht. Vielleicht liegt es einfach in ihrer Natur".

"Aber wie bekommt sie das unter einen Hut? Stufensprechern, Schülersprecherin, die Streicher AG, sie hilft in der Bücherei, gibt Nachhilfe und normale Hobbys hat sie auch noch".

Ich zuckte mit den Schultern und biss von meiner doch etwas labbrigen Laugenstange ab. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Jasmine weitere Flyer verteilte.

"Die wichtigere Frage ist wohl, warum sie die Zettel verteilt und nicht einfach beim schwarzen Brett auslegt".

Jetzt war es an Scott mit den Schultern zu zucken. Schweigend widmete er sich Brötchen Nummer zwei.

"Machst du mit?". Etwas skeptisch musterte ich die bunte Schrift und die Bildchen die den unteren Teil des Zettels säumten.

"Da das Ganze in Comic Sans geschrieben ist, kann man es nicht ernst nehmen und außerdem reden wir hier davon eine Strecke zwischen 10 und 20 Kilometer zu joggen. Also eher weniger, sorry Abby, da musst du wohl alleine durch".

Wieder verdrehte ich die Augen: "Ich krieg dich schon noch dazu".

"Ohhh nein - Dieses Mal nicht. Egal wie lange du bettelst, ich werde mich nicht zum Affen machen, wie vor zwei Jahren".

Nur mit Mühe konnte ich ein Lachen unterdrücken aber die Erinnerungen an den letzten Sponsorenlauf waren einfach zu lustig.

"So zum Affen hast du dich gar nicht gemacht", beteuerte ich stattdessen. Zugegeben, hatte er das sehr wohl. Ohne vorher einen Tag trainiert zu haben war Scott zuversichtlich beim Sponsorenlauf angetreten und hatte mit mir gewettet die 20 Kilometer Strecke gelaufen. Eher gesagt- er hatte es versucht und war nach den ersten fünf Kilometern schon vollkommen außer Atem am Rand zusammen gesunken.

Ich wackelte mit meinen Augenbrauen: "Aber deine Ausdauer hat sich doch verbessert".

Scott grinste eine Spur zu dreckig für meinen Geschmack: "Netter Versuch Abs. Aber nein, definitiv nein. "

"Ich krieg dich schon noch irgendwie dazu rum", erklärte ich."Und wenn nicht ich, dann sicher Julia Lenkova."

Scott entschied sich dazu lieber schweigend Nutella Brötchen Nummer zwei zu vernichten als eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Gegen Ende der Pause trennten sich unsere Wege. Während Scott sich zu seinem sterbenslangweiligen Informatikkurs aufmachte, hastete ich den Gang entlang, um zu Charlotte und aufzuschließen, mit der ich zusammen Englisch hatte.

Wir redeten über belangloses. Das Training (Oh Wunder), den Englischaufsatz, den wir bis nächste Woche abgeben sollten und gerade als wir über den Sponsorenlauf redeten, stellte Florence Everseed sich zu uns. Florence hatte haselnussbraue Haare, helle Augen und ein ausgesprochen hübsches Gesicht. Genau wie Anabel tanzte sie, ließ das aber - dem Himmel sei Dank- nicht so heraus hängen wie diese.

"Hat Jessie schon mit euch gesprochen?", sie wedelte mit einem Stapel Flyer für den Sponsorenlauf vor unseren Nasen herum.

"Sie hat mir vorhin welche gegeben", erklärte ich und sah zu wie Florence den Packen Flyer in ihrer Tasche verschwinden ließ.

"Und nehmt ihr teil?", fragte sie.

Charlotte grinste breit: "Was denkst du denn?"

"Und du Abby?", wandte sie sich an mich.

Ich zuckte die Schultern: "Ich denke mal".

In Florence Augen sah man Erleichterung aufblitzen: "Gott sei Dank, ich dachte schon wir würden niemanden finden. Jessie hat mich gezwungen, das Ganze mit ihr zu organisieren und es wäre schon ziemlich peinlich, wenn niemand teilnehmen würde."

"Das wird schon. Vermutlich haben eh alle zu viel Angst den Zorn der Jasmine Connery auf sich zu ziehen", versuchte Charlotte sie aufzumuntern.

Florence lachte auf: "Manchmal kann Jessie wirklich sehr... hartnäckig sein". Sie rückte die Lederträger ihrer Tasche zurecht, die ihr in die Schulter schnitten. Auch Florence gehörte zu den Menschen, die Tag für Tag Ziegelsteine in einer vergleichsweise viel zu kleinen Tasche herum schleppten.

"Wo ist eigentlich Rebecca?", suchend sah Florence sich nach ihr um.

Ich spürte zuerst Charlottes und dann auch Florence prüfenden Blick auf mir.

"Es ging ihr nicht gut", murmelte ich und freute mich fast über das Auftauchen unseres Englischlehrers Mr Wittly, der in diesem Moment den Raum aufschloss.

Etwas zu eifrig stiefelte ich in den Klassenraum und spürte immer noch Charlottes Blick in meinem Rücken.

Zu Beginn der Stunde trug Caitlyn (Genau, die aus Geschichte, wegen der ich zwei Quellenanalysen schreiben musste) Shakespeares Sonett Nummer 128 vor. Fehlerfrei, natürlich und mit perfekter Einhaltung des Metrums. Sie stand vor der Tafel und sprach mit lauter beinahe dröhnender Stimme, während sie von ihren Fersen auf die Fußspitzen wippte. Ihre blonden Haare flogen vor und zurück und ihre Stimme wurde immer lauter.

Es war grotesk anzusehen. Ich wechselte einen Blick mit Florence, die sich auf die Lippe biss.

"Was soll das?", flüsterte ich ihr zu. Flüstern wäre eigentlich nicht nötig gewesen, denn Caitlyns Stimme schwoll immer weiter an. Sie wippte schneller und schneller und vergaß dabei sogar, die Silben richtig zu betonen.

Ich sah mich in der Klasse um. Die Meisten mussten sich das Lachen sichtlich verkneifen.

Caitlyns strähnige Haare wippten immer höher. Ihre runde Brille rutschte ihr von der Nase und fiel klappernd zu Boden. Es schien sie nicht zu hören.

"Ms. Ummery ist alles in Ordnung bei Ihnen?", Mr Wittly sah skeptisch zu seiner Lieblingsschülerin. Doch Caitlyn antwortete nicht und plapperte in einem irren Tempo weitere Verse des Sonetts vor sich her. Und gerade als Mr Wittly sich erhob, beugte Caitlyn sich vorn über und erbrach sich auf das Linoleum.

Die Reaktion war wie erwartet und kam prompt. Gekreische in den ersten Reihe. Angeekelte Gesichter bei Charlotte, Florence und mir und Gelächter bei den Jungs in den hinteren Reihen.

Mr Wittly verbarg seinen Ekel gegenüber der Masse, die aus Caitlyns Innerem gekommen war und nun den Boden zierte, gekonnt. Caitlyn war vor Scham hoch rot angelaufen und rannte hinaus. Nur verständlich, bei den zu freundlichen Kommentaren aus der letzten Reihen.

Ich drehte mich um, einerseits um die Leute hinter uns zusammen zu stauchen und andererseits aus purem Selbstschutz, da der Übelkeitserregende Geruch des Erbrochen zu uns herüber wehte. Angeekelt verzog ich mein Gesicht und wollte gerade Zach für seine wirklich ziemlich übertrieben fiesen Kommentar zusammenfalten, als Mr Wittly von vorne rief:"Ms. Rosinger wären sie so nett Caitlyn zu suchen und zur Schwester zu bringen? Und Ms Eleo, seien Sie doch so freundlich und hohlen einige Tücher, um das hier zu beseitigen ".

Noch angeekelter rümpfte ich die Nase, wollte mich aber nicht widersetzen, da der alte Wittly einer der wenigen Lehrer war, die ich mochte. Und außerdem hatte er ja nicht gesagt, dass ich das Erbrochene aufmischen sollte... Andererseits, wäre das mal wieder typisch.

Seufzend stand ich auf. Im Rausgehen hörte ich Jasper Immerman leise zu niemand bestimmten flüstern :"Als ob ein paar Tücher reichen würden, um das da wegzumachen".

Wie Recht er da nur hatte.

*

Die Schulflure waren so leer wie heute Morgen, als ich mit Rebecca auf ihre Mum gewartet hatte. Ich ließ mir genug Zeit um zur nächsten Toilette zu gehen, da ich nicht besonders scharf darauf war, Caitlyns Kotze weg zu machen. Als ich den Waschraum trat schlug mir der Geruch von Zitronenreinigungsmittel entgegen. Trotzdem hing mir immer noch der weitaus unangenehmere Geruch in der Nase. Nachlässig drückte ich den Lichtschalter neben der Tür. Nichts geschah. Ich drückte noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Es tat sich nichts. Durch die Milchglasfenster drang nur spärlich Licht in den kleinen Vorraum mit den Waschbecken. Einer der Wasserhähne tropfte undregelmäßig. Wäre das hier ein Horrorfilm, dann würde jetzt im Hintergrund leise Musik zu hören sein und die Lampen würden kurz aufflackern. Die Spannung würde ansteigen, erst würde nichts passieren und dann würde sich eine der Kabienentüren knarzend öffnen und ein Axtmörder oder ein gruseliger Clown oder der Joker würde heraus treten. Aber nichts von all dem geschah. Keine die Spannung steigernde Musik. Keine schleppenden Schritte. Keine flackernden Lampen.

Warum ich darüber nachdachte - ich hatte selbst nicht die leiseste Ahnung. Immerhin war das hier kein Horrorfilm. Vermutlich handelte es sich bei meinen Gedankengängen nur um die Nachwirkungen des Filmeabends von Scott und mir vor zwei Wochen.

Aus einer der Boxen an der gekachelten Wand zog ich mehrere der grünen Papiertücher. Ich besah meinen Stapel und dachte an den See im Klassenzimmer, worauf ich noch mehr grüne Tücher aus der Plastikbox zog. Ich wollte mich gerade zur Tür wenden, als ich etwas in meinem Magen zusammen zog. Von meinem Nacken abwärts bildete sich eine Gänsehaut. Ich schluckte und wagte es nicht in den Spiegel zu sehen. Ich wollte es nicht sehen. Warum hatte ich diesmal die Kontrolle verloren? Ich war weder nervös, noch ängstlich, noch betrunken.

"Abigail Eleo", seine Stimme hallte von den gefliesten Wänden des Klos wieder. Jetzt schreiend weg zu rennen, wäre vermutlich keine gute Idee. Und außerdem war er nur ein Geist... Nicht schlimmes also. Oder?

Ich riskierte einen Blick auf meine Hände. Jepp, voll im Geister-Modus. Verdammt.

Ich drehte mich auf dem Absatz um und blickte zum zweiten Mal in das Gesicht von Henry Flemming.

Huiii... der sah wirklich noch übler zugerichtet aus als ich ihn in Erinnerung hatte. Meine erste Frage hatte aber nicht mit seiner zermatschten Gesichtshälfte zu tun (sehr taktvoll, wie ich fand), sondern sprach ein viel wichtigeres Thema an.

"Wann in deinem Leben warst du im Mädchenklo?".

Henry lachte herzlich. Er stand im Durchgang zwischen Waschraum und den Toilettenkabienen. Seine Haltung war lässig, fast sogar entspannt. In seinen dunklen Augen blitzte der Schalk auf und die braunen Haare fielen ihm in die Stirn. Wie immer, dachte ich.

Beim Lachen sah seine linke Gesichtshälfte ganz normal aus. Seine rechte hingegen... mehr als interessant. An seinem rechten Ohr fehlte ein nicht unerhebliches Stück und von besagtem Ohr-Rest zog sich eine dicke (und mit dick meine ich gigantisch) Wunde bis zum Schlüsselbein, die ich jetzt nicht noch viel näher beschreiben will, da sie wirklich, wirklich abartig aussah.

"In der achten Klasse", Henrys Lachen klang ziemlich lebendig für einen Toten und das ließ mich stutzen. Die meisten Geister, die ich bis jetzt getroffen hatte, waren meistens ziemlich wirr im Kopf und nur in etwa 35% der Fälle bekam man eine klare Antwort auf eine Frage.

"Ahh jaaa", murmelte ich und scannte Henry noch einmal von oben bis unten. Definitiv, bis auf seine Wunden im Gesicht und auf seiner rechten Seite, sah er wirklich ganz normal aus. So wie immer eigentlich. So wie an dem Tag als wie in Gälisch versucht hatten den einen Text zu übersetzten und gescheitert waren.

Und nur wenige Stunden später war er auf sein Motorrad gestiegen und gestorben, natürlich sah er so aus wie immer, Abigail du dumme Kuh, schalt ich mich selbst. Hast du gedacht er hätte sich zum Sterben einen Anzug angezogen, so wie der alte Will?

"Und was genau führt dich hier her?", etwas verlegen kratzte ich mich am Hinterkopf und versuchte angestrengt ihn nicht zu sehr anzustarren.

Henry schien plötzlich ähnlich verlegen wie ich. Er starrte auf die spitzen seiner zerfledderten Sneakers (die hatten aber auch schon zu Lebzeiten so ausgesehen).

"Du kannst mich also echt sehen?", hakte er nach.

"Sonst würd ich wohl kaum mit dir reden, oder?", gab ich etwas forsch zurück. Er lachte nervös auf.

"Und ich dachte sie hätte mich angelogen".

"Sie?", hakte ich nach und gab mir Mühe freundlicher zu klingen.

Er winkte ab: "Nicht so wichtig."

"Also, warum bist du hier?"

"Weil du hier alleine bist und ich nicht wusste, ob du es so cool fändest wenn ich dich mitten in der Cafeteria ansprechen würde".

"So denken nicht viele von euch", nuschelte ich.

"Aber ich meinte, warum bist du hier? ".

Verständnis flammte kurz in Henrys Augen auf: "Weil ich noch was zu tun hab, bevor-", er stockte und sah sich prüfend um. Seine Hände begannen zu zittern, genauso wie seine breiten Schultern. Es sah ähnlich grotesk aus, wie Caitlyn vorhin.

"Bevor?".

"Abby du musst mir helfen! Ich weiß nicht wann ich das nächste Mal he-".

Und dann verschwand er. Einfach so. Ich versuchte mich zu konzentrieren, zu fokussieren. Doch es lag nicht an mir. Der Geist meines toten Mitschülers war einfach so verschwunden.

Kopfschüttelnd griff ich nach meinem Packen grüner Tücher und ging zu Tür. Ich hatte die Klinke noch nicht berührt, als sie einfach so aufschwang. Ich machte einen Satz zurück und konnte gerade so verhindern, die Tür ins Gesicht zu bekommen.

"Oh sorry". Ein Mädchen, vielleicht aus der neunten Klasse, stand im Rahmen, die Klinke in der Hand.

"Nichts passiert", ich rang mir ein Lächeln ab. Ich fühlte mich unwohl. Vermutlich wegen meiner Begegnung gerade oder der Tatsache, dass Caitlyns Erbrochenes sich nicht von alleine weg machte. Hoffentlich war es nur das. Doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich falsch lag.

Eilig verließ die die Toilette und spürte die Gänsehaut immer noch auf meinen Unterarmen.

*

Ich hatte tatsächlich die Ehre, den See von Erbrochenem weg machen zu dürfen (Wenn meine Note sich dafür nicht rapide verbesserte, dann wusste ich auch nicht weiter). Obwohl wir im Englischraum die Fenster aufrissen und etwas später auch eine Putzfrau auftauchte und den Boden mit dem stark riechendem Zitronenreinigungsmittel säuberte (warum musste ich die Drecksarbeit machen?!), muss mir der durchdringende Geruch immer noch angehaftet haben, denn in der zweiten Pause wurde ich von Scott mit einem Naserümpfen und einem: "In welchen Haufen bist du denn gefallen?", begrüßt.

Ich verdrehte die Augen und zog Scott zu einem unverschlossenen Klassenzimmer. Im Gehen erklärte ich knapp die Sache mit Caitlyn. Entschlossen schob ich Scott in den Raum und schloss hinter mir die Tür.

"Abby, was soll das?".

Ich schmiss meine Tasche auf die erste Tischreihe und setzte mich selbst auf das Pult.

"Hör zu, Scott. Er ist wieder aufgetaucht", sprudelte es aus mir hervor, kaum hatte er sich auf einen Stuhl in der zweiten Reihe fallen lassen.

Scott, der normalerweise alles andere als schwer von Begriff war sah mich fragend an: "Abs ich steh grad echt aufm Schlauch. Wer ist aufgetaucht? Slenderman?!".

Ich verdrehte die Augen und zog aus meinem Rucksack eine Plastiktüte hervor, in der ein Vanillejoghurt und ein Plastiklöffel eingewickelt waren.

"Henry, du Idiot", ungeduldig wickelte ich meinen Joghurt aus und erzählte dann eilig was vorhin auf dem Mädchenklo geschehen war.

"Wir hatten also recht", murmelte Scott danach eher zu sich selbst als zu mir gewandt.

"Womit?", unrhythmisch klopfte ich mit dem Löffel auf den Rand des Joghurtbechers.

"Dass Henry deine Hilfe braucht".

Ich nickte und erinnerte mich flüchtig an den Tag nach meiner ersten Begegnung mit Henrys Geist, wie wir im Wintergarten der Finnlys saßen und uns über diese Begegnung mokierten. Im Nachhinein verstand ich was Rebecca gemeint hatte, so von wegen gemein und respektlos. Aber es hatte diese zweite Begegnung gebraucht, um mir das wirklich vor Augen zu führen.

"Aber wobei?".

Scott sah zu mir auf und lachte: "Hey wer von uns beiden sieht hier die Geister? Du hast doch mit ihm gesprochen und nicht ich".

"Wie gesagt, gerade als er zum Punkt kommen wollte, hat er so komisch gezittert und ist verschwunden".

Scott seufzte übertrieben melodramatisch und faltete die Hände hinterm Kopf zusammen: "Und wieder ein Rätsel, dass es zu lösen gibt".

"Jetzt tu mal nicht so als würde dir das nicht gefallen", tadelte ich ihn und wedelte mit dem Löffel in der Luft herum. Er grinste breit: "Das hab ich doch gar nicht gesagt. Und eine Frage bleibt immer noch offen, die mir persönlich sehr am Herzen liegt"

"Und die wäre?"

"Wie zur Hölle konnte Henry in das Mädchenklo gelangen?".

*

Nach einer endlosen Stunde Geografie, in der ich mich nicht mit den Bevölkerungszahlen des nahen Ostens beschäftigt hatte, sondern eher mit der Wissenschaft einen Haufen Haare so kunstvoll hoch zu stecken, wie Anabel vor mir. Im Klartext, anstatt meinen Text zu lesen und die Aufgaben zu machen oder mich irgendwie am Unterricht zu beteiligen, starrte ich fast volle neunzig Minuten auf das Gebilde auf Anabels Kopf.

Im Ernst, wie schaffte sie das? Ich brauchte ja schon gefühlte Ewigkeiten, bis meine Haare nach dem trockenen nicht mehr allzu sehr nach Elektroschock aussahen.

Nach der Stunde raffte ich langsam meine Sachen zusammen und trottete in Richtung der Cafeteria. Auf dem Weg dorthin traf ich Florence, die immer noch eifrig Flyer verteilte.

"Mittagessen?", fragte ich.

Zustimmend nickte sie und drückte einigen Sechstklässlern im Vorbeigehen Flyer in die kleinen Hände.

"Wo ist Jasmine?". Es war zugegebener Maßen schon ungewöhnlich, dass Florence von der Seite ihrer besten Freundin wich. In dieser Hinsicht waren sie Rebecca und mir sehr ähnlich.

"Ihr Sportkurs fällt aus", erklärte sie knapp und drückte einer weiteren Person wortlos einen Zettel in die Hand.

"Sag mal stimmt es, dass die Hayerman, bis Weihnachten krankgeschrieben ist?", fügte sie hinzu.

Schulterzuckend hielt ich ihr die Tür zur Cafeteria auf: "Weiß nicht aber die hat doch ständig was".

"Stimmt auch wieder". Florence packte die Flyer in ihre viel zu kleine Schultasche und reichte mir eins der pastellgrünen Tabletts.

Wir reihten uns in die Schlange an der Essensausgabe ein.

"Also am besten bringst du dir dein Essen selber mit", hörte ich eine Stimme zu meiner linken. Ich musste mich nicht umdrehen um zu wissen wem sie gehörte. Ich gab mir gar nicht erst die Blöße das Cafeteriaessen zu verteidigen, denn um ehrlich zu sein, so genial was das nun wirklich nicht. Essbar, mehr auch nicht. Über den Nährwert mancher Gerichte könnte man streiten oder es auch einfach lassen.

Ich fing einen Blick von Florence auf, die die Augen verdrehte und: "Mit sowas darf ich trainieren", nuschelte.

"Vielleicht bricht sie sich ja irgendwas... so rein zufällig", sagte ich gerade laut genug, dass Florence mich hören konnte.

Diese grinste diabolisch und nahm einen Teller Nudeln mit Tomatensauce (Um die Bolognese machte man einen großen Bogen) entgegen. Während ich meine Cafeteriakarte durch den Scanner an der Ausgabe zog, häufte Florence eine Ausgabe weiter Unmengen an Salat auf einen extra Teller. In dem Moment als die etwas untersetzte Cafeteriamitarbeiterin mir meine Portion Nudeln ohne Sauce reichte, zuckte ich zusammen. Nicht wegen dem Anblick der Nudeln (so viel konnte man da nicht falsch machen) oder dem der Cafeteriamitarbeiterin, sondern wegen der Stimme, die wohl Anabel's Gesprächspartner gehörte: "Kann es sein, dass du ein bisschen übertreibst, Ana?".

Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich musste mich gar nicht erst nach hinten lehnen, um zu sehen wer das war. Der Klang seiner Stimme hatte sich aus unerfindlichen Gründen in mein Gehirn eingebrannt. Obwohl es total überflüssig war, riskierte ich einen Blick . Natürlich stand dort der Junge den ich heute Morgen im Schulflur auf den klangvollen Namen Gunnar getauft hatte.

Sein schwarzer Rucksack war halb offen, genauso wie einer seiner zertretenden Schuhe und in Händen hielt er eines der scheußlich pastellfarbenen Tabletts. In seinem Gesicht lag ein leicht genervter Ausdruck, was sehr wahrscheinlich mit Anabel zu tun hatte. Definitiv sie standen sich nahe, warum sonst hätte er sie Ana genannt? Niemand den ich kannte, hatte Anabel jemals einen Spitznamen gegeben.

"Abby willst du was trinken?", rief Florence vom Wasserspender her. Erneut zuckte ich zusammen. Anabel sah von ihrer minimalistischen Portion Reis mit Gemüseschnitzel auf: "Florence musst du so schreien, da versteht man ja sein eigenes Wort nicht."

Florence verzog das Gesicht und ich antwortete praktisch aus einem Reflex heraus: "Ist ja bei dir kein Verlust".

Anabels theatralisches Seufzen übertönte Florence und Gunnars leises Gelächter: "Abigail Caoimhe, du bist so ein Trampel".

Florence grinste mich an und stellte dann ein Glas Wasser auf mein Tablett. Anabels Kommentar ignorierten wir geflissentlich, während wir uns abwandten und einen freien Tisch suchten.

Trotzdem hörte ich noch Anabels eingeschnapptes Zischen: "Einfach nur hohl" und das leise Lachen des Jungen. Ich grinste in mich hinein, wieder mal aus Gründen, die ich selbst nicht richtig verstand.

Wir setzten uns an den Tisch, an dem Scott bereits zusammen mit Samuel Gregsen, einem Jungen mit roten Haaren und Segelohren, der auch in meinem Surfclub trainierte.

"Na bereit für heute Nachmittag?", begrüßte dieser mich überschwänglich. Ich verzog das Gesicht: "Sehr witzig", erwiderte ich.

Er grinste und wandte sich wieder Scott und dem Gespräch zu. Scheinbar ging es um irgendeinen Film den sich die beiden nächste Woche ansehen wollten.

Florence sah mich augenrollend an und murmelte etwas, dass verdächtig nach: "Jungs" und "Nerds" klang. Ich unterdrückte ein Grinsen und setzte mich auf einen der Stühle.

"Wie kannst du nur trockene Nudeln essen?", skeptisch betrachtete Florence meinen Teller.

"Wie kannst du nur die Sauce runterschlucken". Sie lachte auf: "Touché".

Während des Essens plauderten wir weiter über Belangloses. Über Schüler, Lehrer und natürlich über den Caitlyn-Zwischenfall, der sich in der Schule wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Gerade als ich einen Schluck Wasser trank, ertönt hinter mir eine Stimme.

"Kann ich mich zu euch setzten? Anabel bringt mich mit ihrem Gerede noch um den Verstand!".
Florence, die mir gegenüber saß, sah auf und lächelte dem Neuankömmling zu: "Wenn das so ist, dann bist du hier herzlich willkommen. Wie heißt du?"
"Benjamin O'Haley und ihr?".
Gunnar war also in Wirklichkeit kein Gunnar, sondern ein Benjamin. Hoch interessant.



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