12 Dezember 2017

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„Zum Flughafen, bitte", sage ich dem Taxifahrer, als ich einsteige. Ich kann es nicht glauben, dass ich das wirklich mache. In den letzten Tagen ist mir einiges klar geworden, was ich wirklich möchte und was das Beste für mich ist. ¨

So viel ist passiert und doch habe ich das Gefühl, dass ich bis zum heutigen Tag stehengeblieben bin. Als wäre ich zu einer Salzsäule erstarrt und erst heute hat jemand den Bann gebrochen. Nur, dass ich es selbst war, der die Zügel in die Hand genommen hat. 

Nach dem Gespräch mit meiner Mutter bin ich auf mein Zimmer gegangen und habe zum ersten Mal, seitdem mein Leben komplett aus den Fugen geraten ist wieder durchschlafen können. Und als ich aufgewacht bin, wusste ich, dass es so nicht mehr weitergehen kann. 

Ich habe Linc geschrieben, dass ich mit ihm reden möchte und als ich das getan habe, fühlte ich mich ausgeruht und im Einklang mit mir selbst. Denn ich habe ihm eröffnet, dass ich eine Pause brauche, nicht nur von unserer Beziehung, sondern auch von meinem Leben in London, deshalb würde ich die Weiterbildung in der Schweiz antreten, sobald ein Platz frei wird. 

Er nahm es gefasster auf, als ich angenommen habe, aber ich bin mir sicher, dass er sich auch Gedanken gemacht hat und zum gleichen Entschluss gekommen ist. Wir müssen uns nun auf uns selbst konzentrieren, bevor wir einen erneuten Versuch starten, wenn wir das wollen. 

Zum jetzigen Standpunkt kann ich das nicht sagen, aber ich lasse es auf mich zukommen. Der Wagen fährt mich durch die City, während ich meinen Gedanken nachhänge, die die letzten Tage noch einmal durchgehen. Als ich meinem Vorgesetzten davon berichtet habe, fiel dieser aus allen Wolken, doch er versteht es und steht mir nicht im Weg.

 Genau wie meine Mutter, die witziger Weise sich ebenfalls eine Auszeit in einem indischen Ashram nehmen möchte. Ich bin mir aber sicher, dass sie sich in eine Entzugsklinik begibt, was ich begrüße, denn ihr Leben hat sich bereits radikal geändert. 

Mein Vater wurde einige Tage später dem Haftrichter vorgeführt, der ihn in Untersuchungshaft nehmen ließ, bis der Prozess, der auf Anfang Jahr festgelegt wurde – und zu dem ich erscheinen werde, da ich als Zeugin aussagen muss – beginnt. Carly wird Linc als Kläger vertreten, worüber ich unsagbar dankbar bin. 

Auch wenn die Chancen gut für Linc stehen, hat mein Vater noch immer hohe Freunde, die ihm einen Gefallen schulden, oder ihm hörig sind. Es ist alles möglich, wobei ich nicht denke, dass er gewinnen wird. Aber man weiß nie und deshalb vertritt Carly Lincoln. 

Eigentlich wollte sie mich bis zum Flughafen begleiten, doch ein Mandat kam dazwischen und so fahre ich eben allein. Meine Wohnung musste ich nicht künden, da Linc dort wohnen bleibt und sich um Bailey kümmert, den ich leider hier in London lassen muss, auch wenn mein Herz blutet. Aber er hat es bei ihm gut, denn in der Zwischenzeit sind sie fast so etwas wie Freunde geworden und das ist doch schon einmal ein Anfang, oder?

„Wir sind da", reisst mich der Fahrer aus meinen Gedanken. Blinzelnd sitze ich da und brauche ein paar Sekunden, bis ich mich gefangen habe. Mein Gepäck habe ich gestern schon aufgegeben, weshalb ich nur meine Tasche habe. In der ich das Geld herauskrame und ihm in die Hand drücke.

„Einen guten Flug, Miss"; murmelt er und sieht mich für einen Moment so an, als würde er genau wissen, wer ich bin. Und das kann gut sein, denn die Presse hat sich darauf gestürzt und alles ausgegraben. Die Untreue, die Besuche in Schwulenbars und anderen Clubs, der Trinkerei, aber vor allem dem versuchten Mord an meinem Verlobten. 

Ich lächle ihn trotzdem an und steige aus, wo mir der kalte Wind ins Gesicht bläst. In der Schweiz wird es noch kälter sein, wobei es in den Städten ja immer wärmer als auf dem Land ist. Aber ich freue mich darauf neues zu erleben und darauf, mich auf ein unbekanntes Terrain zu wagen. 

Ich betrete den riesigen Flughafen und tauche in die Menschenmassen unter, die hier ein und ausgehen. Die meisten freuen sich auf ihren Flug, genau wie ich. Ich checke ein und atme tief durch, denn trotz den Umständen hätte ich mir dann doch noch gewünscht von Carly verabschiedet zu werden. 

Aber ich kann sie nirgends entdecken, denn ich habe eigentlich fest damit gerechnet, dass sie mich einfach überraschen will. Aber anscheinend habe ich mich geirrt, was nicht schlimm ist, denn in diesem Augenblick klingelt mein Handy und meine beste Freundin ruft mich an.

„Hey Süße", begrüßt sie mich und lächelt in die Kamera. Sie sitzt in ihrem Büro, was mein Lächeln etwas schwächt.

„Hey", antworte ich und schiebe den Gurt meiner Tasche an die richtige Stelle.

„Es tut mir so leid, dass ich dich nicht am Flughafen verabschieden kann, aber hier ist die Hölle los", meint sie und schwenkt zu den Akten auf ihrem Tisch herum. Ich lächle verständnisvoll, auch wenn mein Herz weint.

„Wir sehen uns, wenn der Prozess beginnt", erwidere ich zuversichtlicher. Carly nickt und pustet sich den Pony aus der Stirn. Eine Angewohnheit, die ich schon länger nicht mehr bemerkt habe, was nicht gerade für einen engen Kontakt spricht. Aber so ist das manchmal eben, das Leben spielt nicht nach deinen Regeln, sondern nach seinen eigenen.

„Du kannst dich voll auf mich verlassen, Liv. Wir werden gewinnen." Wieder lächle ich, während um mich herum hunderte Menschen abgeholt oder jemanden verabschieden. Nur ich stehe da und weiß nicht, was ich hier überhaupt mache. Vielleicht war es ein Fehler ...

„Liv! Tu das nicht! Ich will nicht, dass du dir zu viele Gedanken über alles machst. Genieß es, sieh dich um und freu dich auf das, was kommt", ermahnt mich Carly, als hätte sie mir angesehen, was ich innerlich denke und fühle. Jetzt steigen mir doch noch die Tränen in die Augen, was sie ebenfalls sentimental werden lässt.

„Hör auf zu heulen, Liv. Ich kann es mir nicht leisten mein Make-up nicht zu verschmieren", lacht sie schniefend.

„Okay, ich hör ja schon auf", sage ich und höre, wie mein Flug aufgerufen wird.

„Das ist wohl das Zeichen, Car. Ich melde mich, wenn ich gelandet bin. Ich hab dich lieb", sage ich und winke ihr zum Abschied.

„Ich dich auch, Süße", sagt sie und beendet den Anruf. Ich atme tief durch und gehe zum Boarding. Als ich dann auf meinem Platz am Fenster sitze und der Vogel in der Luft ist, alles unter uns so klein wie Stecknadelköpfe aussieht, muss ich lächeln und das hält bis zur Landung drei Stunden später noch an. Zürich, ich komme!

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Was sagt ihr dazu, wie sich alles entwickelt?

eure Adelaide 

Everytime I see youWhere stories live. Discover now