Dezember 2015

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„Und sie hat den Zettel einfach so mitgehen lassen?", erkundigt sich Carly empört am Telefon. Seufzend schließe ich die Augen und rutsche unruhig auf dem Busssitz hin und her. Noch immer kann ich die Tat meiner Mutter nicht verstehen, geschweige denn vergessen. Sie hat mir die einzige Chance auf ein Happy End mit meinem Unbekannten genommen. 

Das ist unverzeihlich. Oder?

„Ja, ja das hat sie", seufze ich. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird ihr Verrat mir gegenüber. 

„Zu dem Fototermin bist du aber nicht gegangen, oder?" 

Ich kann mir Carly bildhaft vorstellen, wie sie fassungslos in ihrem Ledersessel sitzt und eine Pause von den nervigen Klienten haben musste. Nicht das unsere Telefonate nur dann entstehen, wenn sie eine Auszeit von ihrer Arbeit braucht- oder von Brad, der ihr wirklich einen Heiratsantrag gemacht hat. 

Aber erst vor einer Woche, genau am sechsten Dezember. Wir waren zu einem Treffen verabredet und er ist im Restaurant vor die Knie gefallen. Was zwar ultraromantisch war, fühlte sich für mich wie ein Messerstich ins Herz an. 

Ich freue mich für die beiden, sehr sogar, aber ich habe mich dennoch wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Sowieso habe ich mich gefragt, weshalb sie mich mitgenommen haben, aber als ich Carlys zuerst panischen und dann ungläubigen Ausdruck in ihren smaragdgrünen Augen gesehen habe, wusste ich, dass ich ihre moralische Unterstützung war, was mich im ersten Moment rasend vor Wut gemacht hat, aber ich konnte ja schlecht aufstehen und rausmarschieren. 

Also blieb ich gekränkt sitzen und habe mich bemüht nicht komplett die Fassung zu verlieren. Nachdem er ihr einen sauteuren Klunker angesteckt hat und sie ihm um den Hals gefallen ist, habe ich mich erhoben und meiner besten Freundin zu ihrer Verlobung gratuliert. Selbstverständlich auch Brad, wobei er mir nur die Hand geschüttelt und dümmlich gelächelt hat. 

Wir beide haben keinen wirklichen Draht zueinander gefunden, was mich nie so gestört hat, weil Carly glücklich war und dann war ich es aus. Aber in diesem Moment, fragte ich mich ernsthaft was sie an Brad findet. Und ehrlich gesagt habe ich bis jetzt keine Antwort auf diese Frage gefunden. 

„Liv? Bist du noch dran?", reißt mich ihre Stimme aus meinen Gedanken. Blinzelnd streiche ihr mir das blonde Haar- welches ich heute in Korkenzieherlocken trage- aus dem Gesicht.
„Tut mir leid, ich war in Gedanken wo anders", sage ich und das entspricht ja auch der Wahrheit, weshalb ich dann doch ein schlechtes Gewissen habe weiß ich auch nicht. 

„Schon okay. Ich kann dich verstehen, würde mir auch so gehen, wenn ich auf dem Weg zu einem Abendessen mit meiner Mutter wäre", steht mir Carly bei. Ich nicke, obwohl sie mich ja überhaupt nicht sehen kann, aber es ist eine Angewohnheit von mir. 

Welche wohl der Unbekannte hat? 

Ich werde es wohl nie erfahren, was meine Wut wieder anstachelt. Deshalb atme ich tief ein und wieder aus und dass solange, bis ich mich einigermaßen unter Kontrolle habe.

„Wirst du sie wegen dem Zettel ansprechen?", fragt sie mich unsicher. Eine gute Frage wie ich zugeben muss und ehrlich gesagt weiß ich es nicht.

„Keine Ahnung. Es ist kompliziert, aber ich denke ich werde sehen wie das Essen verläuft", antworte ich und drücke die Stopptaste. Denn an der nächsten Haltestelle muss ich raus und von dort sind es keine fünf Minuten mehr bis zum Restaurant, das meine Mutter für dieses Abendessen ausgesucht hat. 

Das tut sie immer, alles bestimmen und genüsslich zusehen, wie die anderen nach ihrer Pfeife tanzen. Und ich habe keine Lust mehr darauf, dass will ich ihr heute auch endlich einmal sagen. Dafür brauche ich aber einige Drinks, denn diesen Entschluss habe ich schon mehrmals gefasst, ihn aber noch nie durchgezogen. Denn wie einschüchternd und manipulativ meine Mutter sein kann, habe ich zu oft schon erlebt. 

Everytime I see youWhere stories live. Discover now