28. Dezember 2016 (2)

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Schützende Arme umgeben mich, halten mich fest und geben mir das Gefühl nicht mehr endlos zu fallen, sondern aufgefangen zu werden. Doch die Arme gehören nicht Lincoln, meinem Verlobten, sondern Dr. Gabriel Melendez, der mich auf dem Flur der Intensivstation tröstet. 

Noch immer werde ich von grässlichen Schluchzern durchgeschüttelt, während mir die Tränen beinahe in Sturzfluten über die Wangen rinnen, gegen die ich machtlos bin. Seine Hand streichelt über meinen Rücken, langsam und in einem einlullenden Rhythmus. 

Das Klopfen seines Herzens dringt in mein Bewusstsein und flutet es, sodass ich mich langsam beruhige. Auch wenn es ein verdammtes Trugbild ist, so klammere ich mich daran fest, genau wie an Gabriels Brust, an der mein Gesicht nach wie vor ruht.

„Ich bin bei dir", wispert er mit belegter Stimme. Ich spüre, dass es ihn genauso mitnimmt, wie mich, doch ich bin mir sicher, dass es aus einem anderen Grund ist. Er ist nicht wegen Linc so aufgewühlt, sondern wegen mir. 

Das soll nicht eingebildet klingen, aber es ist kein Gefühl mehr, sondern Gewissheit. Spätestens, als ich mich von ihm löse, er mich aber noch immer mit seinen Armen umschlossen hält und sich unsere Blicke treffen, ist da das wilde Pochen meines Herzens, dass Stocken meines Atems und dem Wunsch ihm noch näher zu sein als die letzten Minuten. 

Und auch in seinem Gesicht kann ich dieselben Reaktionen ablesen und frage mich, was passieren würde, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellen und ihn küssen würde. Doch das kann ich nicht. Nicht nur, weil Linc ums Überleben kämpft, sondern, weil Gabriel in gewisser Weise mein Vorgesetzter ist und ich mich niemals mit einem Kollegen einlassen würde. Was ich nicht kann, weil ich verlobt bin.

„Die Medikamente wurden abgesetzt, Linc könnte jeden Moment aufwachen", sage ich deshalb. Doch es klingt nicht nach mir, sondern nach einer Person, die damit nichts zu tun hat. Als ob mich das alles nicht interessieren würde und ich mich nur an die Fakten halte. 

Dass die Narkotika langsam verringert wurden, bis die Ärzte sie gar nicht mehr verabreicht haben und man nur noch Warten kann. Darauf, dass er aufwacht, darauf, dass man erkennt, wie groß die neurologischen Defizite sind, die er durch den Unfall erlitten hat. 

Darauf, dass er zu sprechen versucht, es aber nicht kann, darauf, dass er versucht etwas zu schreiben und es nicht mehr kann. Darauf, dass sich zeigt, wie sein Leben und damit auch unseres sich verändert hat und es noch stärker wird. Ja, wir warten auf eine Menge Dinge, die im schlimmsten Falle einen Pflegefall, im besten Fall einen sonst gesunden Mann aus ihm machen würden. 

Ich schlucke und schaue in Gabriels dunkle Augen, die in diesem Moment auf mich herabblicken und in denen ein gewaltiger Sturm tobt. Einer, der mit schwarzen Wolken, jeder Menge Regen und tausend Blitzen einhergeht, die über das Land hinwegfegen und die sich alle in seinen Tiefen spiegeln.

„Er wird es schaffen, Liv", antwortet er irgendwann und durchbricht diese fast schon magische Blase, in der wir uns befunden haben. Ich habe sie nicht platzen gehört, oder denjenigen gesehen, der die Nadel hineingestochen hat, aber die Wirkung ist dieselbe. 

Ich blinzle, während mein Blick auf seinen Lippen ruht, seine Arme, die um meine Taille geschlungen sind und die Wärme, die von ihm ausgeht. Aber erst so richtig auseinander gerissen werden wir erst, als ich Sita meinen Namen sagen höre. Wie betäubt weiche ich von Gabriel zurück, streiche mir hastig die Strähne hinters Ohr und spüre, wie mein Herz so kräftig schlägt, dass ich mir sicher bin, dass es jeder hören kann.

„Olivia." Wieder Sitas Stimme, die mich umfängt und auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Sie schließt mich ohne ein weiteres Wort in ihre Arme, dabei steigt mir der Geruch verschiedener Gewürze in die Nase, die mich an Weihnachten erinnert. Dem Fest, dass der Unfallverursacher uns genommen und zerstört hat, indem er einfach weitergefahren ist. 

Everytime I see youWhere stories live. Discover now