Road Trippin'

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Als ich wieder wusste, wo ich mich befand, wurde mir allerdings auch klar, dass ich noch gar nicht wusste, wo ich überhaupt hinwollte. Oder wo ich überhaupt hinkonnte. Den letzten Tag über hatte ich mir immer gesagt, dass ich mir darüber Gedanken machen würde, wenn ich es aus dem Safe House geschafft hätte. Jetzt war ich zwar draußen und wusste auch, wo ich war, aber hatte immer noch keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte.

Etwas ratlos ging ich in Gedanken die Möglichkeiten durch, die mir einfielen. Ich könnte Devil anrufen, aber sie konnte mir nicht helfen, Noah Parker war ihr Vater und auch wenn sie von der ganzen Gang-Scheiße nichts wusste, wäre es für sie und für mich viel zu gefährlich gewesen.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Ryan anzurufen, dann schlug ich es mir wieder aus dem Kopf. Er hatte mich gefoltert und verraten, ich hatte seinen Vater erschossen und wir waren nicht mehr zusammen. Rational gesehen, war er der letzte, der mir helfen würde. War ich wahnsinnig geworden, dass ich überhaupt auf die Idee kam?

Letztendlich versuchte ich, Marc zu erreichen, doch er ging, wie den ganzen letzten Tag auch schon, nicht an sein Handy. Daher schrieb ich ihm dann nur, dass ich aus dem Safe House abgehauen war und ihn suchte. Ich sah jedoch, dass die Nachricht zwar rausging, aber noch nicht auf seinem Handy ankam. Vielleicht hatte er es ausgeschaltet?

Oder er ist tot, oder die Hounds haben ihn und bringen ihn gerade in dieser Sekunde um oder foltern ihn und du kommst zu spät, flüsterte eine böse Stimme in meinem Kopf. Bei diesen Gedanken stieg unwillkürlich Angst in mir hoch. Nein, bestimmt hatte er nur sein Handy ausgeschaltet, versuchte ich, mich wieder zu beruhigen.

Da ich nicht wusste, an wen ich mich wenden sollte, streife ich eine Weile ziellos durch die Straßen. Irgendwann bemerkte ich, dass ich unbewusst den Weg in mein altes Viertel eingeschlagen hatte. Kurz hielt ich inne und überlegte, ob es wirklich so eine gute Idee war, in einer Samstagnacht durch mein Viertel zu ziehen. Andererseits musste ich an unsere Wohnung denken, mein altes Zuhause. Ich fragte mich, ob sie wohl schon neu vermietet war. Auch wusste ich, dass die nächsten Tage vermutlich sehr anstrengend werden würden und ich schauen sollte, dass ich so viel Schlaf wie möglich bekam.

Schließlich schob ich meine Bedenken beseite und machte mich auf den Weg zur Wohnung. Das Klappmesser hielt ich dabei, immerhin noch zusammengeklappt, in meiner Hand. So etwas wie der unglückliche Zusammenstoß mit Mitch und Cassel, wie in der Nacht als ich mit Mary zusammen von der Party nach Hause gelaufen war, durfte mir heute nicht passieren. Es stand zu viel auf dem Spiel, ich musste meine Sinne beisammen halten. Und auch von den Hounds durfte mir keiner begegnen, sonst konnte ich mich auf einen sicheren und schmerzhaften Tod gefasst machen.

Also hielt ich mich von den Straßen mit den Kneipen und Puffs fern, wechselte die Straßenseite, sobald mir jemand entgegen kam und versuchte im Allgemeinen so unauffällig und im Schatten zu bleiben wie möglich.

Nach etwa einer halben Stunde kam ich unbehelligt in meiner Straße an. Ich betrachtete im Vorbeigehen die schmutzigen Fassaden, die geparkten Autos, die meisten schon eher Autowracks und ein seltsame Mischung aus Heimweh und Abneigung stieg in mir auf. Von den Straßenlaternen funktionierte höchstens jede dritte, sie auszutreten war wohl immer noch ein beliebter Zeitvertreib. Marc und ich waren mit 15 Jahren auch häufiger um die Häuser gestreift und hatten uns daran versucht.

Ein beinahe wehmütiges Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, das jedoch auch eine Portion Bitterkeit enthielt. Die Haustür unten war wie immer offen, es hatte sich immer noch niemand um das Schloss gekümmert. Langsam und fast bedächtig stieg ich die Treppen hoch, den Geruch nach Pisse und nassem Hund in der Nase. Unsere Wohnungstür sah auf den ersten Blick verschlossen aus, doch als ich vorsichtig dagegendrückte, merkte ich, dass die Scharniere nicht repariert worden waren. Hätte ich die Tür nicht festgehalten, wäre sie wieder in das Wohnzimmer gekracht.

So schob ich sie nur einen Spaltbreit auf und schlüpfte hindurch. Dann versuchte ich, sie so gut wie möglich wieder zurückzuschieben. Automatisch suchte meine Hand nach dem Lichtschalter. Als tatsächlich daraufhin warmes Licht das Wohnzimmer flutete, zuckte ich erschrocken zusammen. Dann rechnete ich kurz nach und mir fiel auf, dass ich Anfang diesen Monats tatsächlich die Miete und somit auch die darin enthaltene Stromrechnung bezahlt hatte. In einigen Tagen würde unser Vermieter jedoch wahrscheinlich vergeblich auf das Geld warten und dann war es nur eine Frage der Zeit, bis er unsere Sachen verpfändete und die Wohnung neu vermietete. Nun, wo ich wieder in der Wohnung stand, in der ich aufgewachsen war, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, wurde es mir ganz eng in der Brust bei diesen Gedanken. Wir würden auch noch das bisschen verlieren, was wir besessen hatten.

Langsam ließ ich den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Es war alles noch da, wenn auch sehr unordentlich. Als Marc nach meiner Verhaftung und Marys Operation hierher zurückgekehrt war, hatte er Tyler, Lily und Finn gefunden. Er hatte gewusst, dass die Hounds in unserer Wohnung als erstes nach uns suchen würden und sie verschwinden mussten. So wie es aussah, hatten sie nicht viel mitgenommen. Ich beschloss, sollte ich zum Safe House zurückkehren, für jedes meiner Geschwister noch ein bis zwei persönliche Sachen einzupacken.

Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass es schon beinahe vier Uhr nachts war. Als hätte mein Körper nur auf diese Bestätigung gewartet, merkte ich auf einmal, wie körperlich am Ende ich war. Meine Muskeln schmerzten und zitterten und eine tiefe Erschöpfung kroch durch mich. Ich beschloss, alle Überlegungen, was ich als nächstes machen sollte und wo ich anfangen sollte, nach Marc zu suchen auf den nächsten Tag zu verschieben. Ich schleppte mich in mein altes Zimmer, zog mich noch halb aus und ließ mich dann in mein Bett fallen. Ich rutschte mich in der durchgelegenen Matratze so zurecht, wie ich immer gelegen hatte und es gewöhnt war. Kurz bevor der Schlaf nach mir griff, fiel mir auf, dass ich in dieser Wohnung noch nie allein gewesen war und ich glitt hinüber ins Schwarz mit einem beängstigenden Gefühl der Einsamkeit.

Dark as midnightWhere stories live. Discover now