Innocent

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Es war mehr ein Impuls, als eine bewusste Handlung. Als Karliene einen Schritt vortrat, den Arm hob, um mir die Halsschlagader mit der Glasscherbe zu öffnen, riss ich ein Bein hoch und trat nach ihr. Ich hatte gut gezielt und ich hörte ein lautes Krachen, als ihre Kniescheibe brach, zerbarst unter dem kräftigen Stoß.

Sie ließ einen markerschütternden Schrei hören, ihr Bein gab unter ihr nach und sie wäre hart auf die Seite gefallen, hätte eine ihrer Mädels sie nicht rechtzeitig aufgefangen. Bestürzt blickten die anderen drei Frauen zu mir, während ihre Anführerin wimmernd auf dem Boden lag. Ich jedoch hatte nur Augen für die Glasscherbe. Sie war Karliene aus der Hand gefallen und lag direkt vor mir auf dem Boden. Wenn ich vielleicht...

Doch eine der Frauen hatte die Glasscherbe ebenfalls gesehen und bevor ich versuchen konnte, sie mit dem Fuß zu mir zu schieben, hatte sie sich schon gebückt und sie aufgehoben. Ich konnte ein zorniges Funkeln in ihren Augen sehen.

„Dafür bezahlst du, Bitch!", zischte sie und bevor ich irgendetwas tun konnte, zog sie mir den Rand der Glasscherbe quer über den Bauch, knapp unterhalb des Sport-BHs. Ein schabendes Geräusch ertönte, als das Glas über meine Rippen kratzte und glasklarer Schmerz brannte sich in meinen Verstand. Halb keuchte ich, halb schrie ich auf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Tropfen rotes Blut von der improvisierten Klinge fiel und auf dem nassen Boden landete. Dort löste er sich in einer Pfütze auf, rote Schlieren verteilten sich im Wasser. Die Frau vor mir starrte mich immer noch rachedurstig an.

Ich ruckte panisch erneut am Seil, mit dem meine Hände gefesselt waren, riss mit aller Kraft daran, spürte, wie der Knoten um meine Handgelenke langsam nachgab, noch ein letztes Zerren, unterstützt durch einen verzweifelten Schrei, dann war ich frei.

Wild schüttelte ich mir mein Haar aus der Stirn, dann stürzte ich nach vorn, direkt auf die Frau vor mir zu. Sie hatte keine Zeit mehr mir auszuweichen, so überrascht war sie noch von meiner plötzlichen Freiheit. Ich traf sie mit beiden Händen, die ich vor mich gestreckte hatte, und schubste sie so hart, dass sie stürzte.

Nun beherrschte nur noch ein Gedanke meinen Kopf, der Gedanke an Flucht. Ich musste hier weg. Beinahe leichtfüßig sprang ich über die Frau am Boden und hechtete auf den Ausgang der Duschräume zu. Ich stieß die Schwingtür auf und ließ die drei unverletzten Frauen, sowie Karliene, die immer noch am Boden lag, hinter mir zurück.

Ich musste eine Aufseherin finden, solange die drei noch mit Karliene beschäftigt waren. Wenn sie mich einholten oder wieder fanden, war ich tot. Ich bog ab in den Gang, der auch zu meiner Zelle führte und stieß unsanft mit jemandem zusammen.

Ich hatte so ein Tempo drauf gehabt, dass mich mein Schwung durch diesen plötzlichen Stopp zu Boden schleuderte. Keuchend, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, blinzelte ich zu der Gestalt vor mir auf. Mit einer gewissen Erleichterung registrierte ich die Uniform einer Aufseherin.

„Was zur Hölle...?", hörte ich sie fluchen, dann packten mich kräftige, große Hände an den Oberarmen und zerrten mich unsanft hoch. Einen Moment später schien mir helles Taschenlampenlicht ins Gesicht und ich musste meine Augen fest zusammenkneifen.

„Brooks", hörte ich die Aufseherin nun sagen, mit einer gewissen Befriedigung in der Stimme, dass sie mich identifiziert hatte. „Was machst du hier draußen? Wie hast du es aus deiner Zelle geschafft?", fragte sie nun barsch.

„Sie müssen mir helfen", bat ich, als ich endlich meinen Verstand und meine Stimme wiederfand.

„Helfen? Ich glaube eher, dir muss eine ordentliche Lektion erteilt werden", meinte die Aufseherin nun, senkte endlich die Taschenlampe und ich erkannte Montrose, eine der härtesten Aufseherinnen des Gefängnisses. Ich hatte in den letzten Tagen mehrmals das Gefühl gehabt, sie hätte mich auf dem Kicker, doch Lorena hatte, wenig beruhigend, gemeint, dass Montrose einfach eine Sadistin war.

„Was, aber...", keuchte ich nun auf. Doch Montrose packte mich nur noch fester am Oberarm, als würde sie verhindern wollen, dass ich ihr davonlief, obwohl ich mich überhaupt nicht bewegt hatte. In diesem Moment war sie der einzige Schutz den ich vor Karliene, die jetzt bestimmt noch mehr auf Rache sinnen würde, hatte.

„Es ist den Insassen verboten, zur Nachtzeit ihre Zellen zu verlassen. Und da ich nicht weiß, wie du das gemacht hast und nicht sicherstellen kann, dass du das diese Nacht nicht wiederholst, wenn ich dich in deine Zelle zurückstecke, kommst du für den Rest in Einzelhaft." Während sie redete, hatte sie sich bereits in Bewegung gesetzt und zerrte mich hinter sich her.

„Das ist nicht fair...", versuchte ich einzuwenden, doch sie lachte nur trocken auf.

„Es ist mir so egal, was du darüber denkst", erwiderte sie. Ich hatte das Gefühl, ihr würde diese ganze Sache Spaß machen, je mehr, desto mehr ich erfolglos versuchte, mich zu wiedersetzten und so schwieg ich. Ich wollte ihr nicht noch mehr Grund geben, ihre Machtfantasien Wirklichkeit werden zu lassen.

Innerhalb weniger Minuten hatten wir den Trakt mit den Einzelzellen erreicht, Montrose redete kurz mit einer anderen Aufseherin, die in einer kleinen Kontrolleinheit saß, und brachte mich dann zu einer leeren Zelle.

Ich drehte mich um, als sie die schwere Eisentür hinter mir schloss und starrte ihr mit brennenden Augen ins Gesicht, nur um ein kleines triumphierendes Lächeln um ihren Mund spielen zu sehen, direkt bevor die Tür ins Schloss fiel.

Sofort war es stockdunkel. Die Nachtbeleuchtung auf dem Gang hatte auch davor schon mehr schlecht als recht gegen die Dunkelheit gekämpft, doch die Tür schnitt mich von jeglicher Lichtquelle ab.

Verunsichert tastete ich mich in den Raum hinein, nur um mir das Schienbein am Bettgestell zu stoßen. Ich fluchte laut auf, was zumindest gegen das übermächtige Ohnmachtsgefühl ein bisschen half und rieb mir die schmerzende Stelle.

Noch vorsichtiger fühlte ich nach dem Bettgestell und ließ mich, als ich es gefunden hatte, auf die dünne Matratze sinken. Ich hatte das Gefühl, als könne ich meine Hände und Füße nicht mehr spüren. Vielleicht stand ich unter Schock, vielleicht war es etwas anderes, ich wusste es nicht.

Erschöpft legte ich mich auf die Seite, zog die Beine eng an meinen Oberkörper und umschlang sie mit meinen Armen. Dann brach ich in Tränen aus.

Dark as midnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt