Kapitel 10

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Am nächsten morgen fühlte ich mich einfach nur noch beschissen. Ich war total schlapp und fühlte mich krank, was natürlich von gestern kam, es war schließlich nicht gesund, eine halbe Ewigkeit in viel zu leichten Klamotten im Regen draußen zu sitzen. Außerdem war ich völlig übermüdet. Kaum hatte ich mich ins Bett gelegt und war eingeschlafen, waren die Alpträume zurück. Doch nicht nur sie hatten mich wach gehalten, zu allem Überfluss hatte ich auch noch mitten in der Nacht Bauchkrämpfe bekommen, ohne eine Ahnung zu haben, woher sie kamen. Immerhin waren die jetzt wieder weg. Trotzdem würde ich den ganzen Tag heute am liebsten im Bett verbringen, aber  das war mir einfach nicht möglich. Ich musste mit Mr. Benett reden, es gab keine andere Option, denn ich konnte nicht mit dem quälenden Gefühl des Verrats leben, das ich seit gestern hatte. Ich musste seine Beweggründe verstehen, aber dazu blieb mir nichts anderes übrig als in die Schule zu gehen. Wobei auch das nicht einfach werden würde, denn um zur Schule zu kommen musste ich aus dem Haus raus. An sich stellte das ja kein Problem dar, nur hatte ich seit gestern Abend kein Wort mehr mit meinen Eltern gewechselt und wollte da auch weiterhin vermeiden. Während ich mich also aus dem Bett quälte und mich dann anzog, versuchte ich die beste Möglichkeit rauszufinden, mit der ich unbemerkt aus dem Haus kam. Aus dem Fenster, wie sie es in diesen dämlichen Filmen immer machten konnte ich nicht, denn unser Haus hatte hohe Wände und ich war nicht sonderlich erpicht darauf, mir bei einem Sturz aus dem Fenster das Genick zu brechen. Dann blieb also nur die deutlich unspektakulärere Alternative; die Treppe.
 
Keine zehn Minuten später setzte ich meinen „Plan“ in die Tat um. Da ich aus meinen Fehlern des vorherigen Abends gelernt hatte, war ich heute mit einem warmen Pulli und einer Jacke deutlich wärmer angezogen als gestern. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken schlich ich mich nach unten und vermied es irgendwelche auffälligen oder lauten Geräusche zu machen. Im Erdgeschoss angekommen ging ich auf Zehenspitzen zum Schuhschrank, holte meine Schuhe raus, schlüpfte schnell hinein und öffnete dann möglichst leise die Haustüre. Erst als ich sie auch lautlos hinter mir zugezogen hatte, drehte ich mich um und wurde von Nebel überrascht, der die ganze Umgebung bedeckte. Zwar war Nebel hier durchaus üblich, er kam vor allem im Winter vom Meer aus, aber so dicht wie heute war er schon lange nicht mehr gewesen. Man sah die eigene Hand vor Augen kaum und es schien totenstill zu sein, da kaum ein Geräusch den dichten Nebel durchdringen konnte. Wenigstens hatte ich trotz des beschissenen Wetters keine Probleme die Bushaltestelle zu finden, denn ich kannte meine Nachbarschaft auch blind gut genug, um mich ohne Sicht zurechtzufinden. Kurze Zeit später kam ich an der Bushaltestelle an, wo noch einige andere Schüler warteten und holte mein Handy raus, um Musik zu hören und zu schauen, wie viel Uhr es war. 7:36. Wenigstens musste ich nicht mehr lange warten, der Bus würde hoffentlich gleich kommen. Während ich nun also völlig in meiner Musik versunken da stand, schweiften meine Gedanken wieder zu meinem Lehrer. Wie wollte ich das ganze angehen? Würde ich ihn einfach direkt konfrontieren, oder es irgendwie indirekter fragen? Und konnte ich meine Emotionen kontrollieren? Während ich in den Bus stieg, der tatsächlich mal pünktlich gekommen war, fühlte ich eine neue Welle der Wut durch meinen Körper schießen. Wann immer ich an diesen offenen Verrat von meinem Lehrer dachte, war ich unglaublich wütend und es wurde einfach nicht besser. Meine Wut flaute nicht ab.
 
Auch als ich Bus saß wurden meine Sorgen nicht weniger, im Gegenteil, je näher wir der Schule kamen, desto nervöser wurde ich. Ich konnte mich auch nicht durch meine Umgebung ablenken, denn alles, was ich draußen sehen konnte, war undurchdringlicher Nebel, der meine Anspannung einfach nicht lösen konnte. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wie ich später ein Gespräch anfangen konnte und ich wusste auch nicht, wie mein Lehrer reagieren würde. Vielleicht blieb er ruhig. Vielleicht wurde er aber auch wütend, das konnte ich nicht vorhersehen. Meine Angst wuchs immer weiter, als der Bus schließlich hielt und alle Schüler ausstiegen. Ich mischte mich unter den Pulk von verschiedensten Schülern, die meisten von ihnen waren ziemlich wach und motiviert, schließlich war Freitag und das Wochenende stand kurz bevor. Seufzend betrat ich die Schule und versuchte, meine Aufregung in der Griff  zu bekommen.
 
Der Schultag flog nur so an mir vorbei. Normalerweise zogen sich Freitage immer unglaublich in die Länge, warum also nicht heute? Nacht gefühlten zwanzig Minuten Unterricht war erste Pause, bald folgte die Zweite und schließlich heftete sich mein Blick an den Minutenzeiger der Uhr in unserem Raum, der der fünfzehn immer näher kam. Als es schließlich klingelte, fing ich an zu zittern, mir wurde schlecht und mein Herz begann zu rasen. Auch Brienna bemerkte mein seltsames Verhalten den ganzen Tag über, vor allem jetzt. Aber ich winkte alle ihre Fragen ab, sagte, dass nichts sei und sie sich umsonst Sorgen machte. Sie glaubte mir nicht. Als wir uns alle im Chemieraum auf unsere Plätze fallen gelassen hatten, begann Mr. Benett mit seinem Unterricht, wobei ich zwanghaft vermied, ihn anzusehen. Ich hatte die Sorge, dass ich allein bei Mr. Benetts Anblick wütend werden würde und meine Emotionen nicht unter Kontrolle halten konnte. Meine Hoffnungen, ihn einfach die ganze Stunde zu ignorieren, wurden allerdings zunichte gemacht, als Mr. Benett dann zum Ende der Stunde seine Stimme erhob.
 
"Bevor ihr ins Wochenende geht würde ich bitte gerne noch eure Arbeiten zurück haben. Taylor, kannst du bitte alle einsammeln und sie mir dann geben?" Ich war wie erstarrt. Arschloch!, schrie mein Gehirn, aber ich brachte gerade noch so ein "Na klar" raus. Das machte er doch extra. Als ich alle Blätter meiner Mitschüler, die bereits dabei waren ihre Sachen fürs Wochenende zu packen, eingesammelt hatte, brachte ich sie meinem Chemielehrer, ohne ihn auch nur eines richtigen Blickes zu würdigen. Ich ging schnell auf meinen Platz zurück und packte ebenfalls zusammen, nicht wirklich in Eile, ich musste schließlich noch mit ihm reden. Als die Stunde zu Ende war, verschwanden alle schleunigst und ich verabschiedete mich mit der Ausrede, Mr. Benett noch etwas wegen der Arbeit fragen zu müssen von meinen Freunden. Als schließlich auch der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, schloss Jonah die Tür.
 
Ich stand inzwischen vorne am Pult, er kam wieder zu mir, jetzt wo die Tür geschlossen war. Mr. Benett starrte mich aus seinen stechend grauen Augen an, ich starrte zurück. Heute würde ich mich nicht einschüchtern lassen. Er beendete schließlich unseren Starrwettkampf, indem er laut seufzte. "Also Taylor, ich gehe davon aus, du willst reden?" Ich kümmerte mich nicht darum, ihm eine Antwort zu geben, stattdessen  platzte ich einfach mit dem Erstbesten heraus, was mir durch den Kopf ging. "Warum haben Sie mich angelogen?", fragte ich bevor ich es verhindern konnte. Jonah sagte erstmal nichts, sondern sah mich weiterhin mit seinen dunkelgrauen an, sodass ich mich förmlich von ihm durchbohrt fühlte. Nach einer Weile wurde es mir wirklich unangenehm, denn ich spürte, dass mein Lehrer nicht nur mein Gesicht, sondern auch meinen Körper interessiert musterte. Und obwohl es die völlig unpassende Situation war, kamen mir sofort völlig unpassende Gedanken, die mich augenblicklich rot werden ließen. Es dauerte nochmal einige Momente, bis Mr. Benett seinen Blick von mir abwand und zu einer Antwort ansetzte.
 
 "Wie meinst du das?", fragte er mit einer beinahe provozierend ruhigen Stimme. In diesem Moment wurde mir alles zu viel. Den ganzen Tag hatte ich meine Emotionen zurückgehalten, jetzt ließ ich alles raus. Eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte mir zwar, dass das keine gute Idee war, aber er übertönte sie bei weitem. "Kommen
Sie mir nicht mit ihrer gespielten Unwissenheit! Sie wissen genau wovon ich rede! Warum haben Sie mich angelogen, gesagt, Sie hätten eine Schweigepflicht, nur um dann zu meinen Eltern zu rennen und ihnen jedes kleinste Detail weiter zu erzählen?!" Er sah mich an und an seiner gesamten Körperhaltung konnte ich die Wut erahnen, die ich ebenfalls empfand. "Ich haben sehr wohl eine Schweigepflicht!", begann er sich mit ziemlich lauter Stimme zu verteidigen, doch ich ließ ihn nicht weit kommen. Ein ungläubiger Laut entwich meinem Mund. "Genau... weil ich Ihnen das noch glaube!" "Doch Taylor ich habe eine Schweige..." Aber ich unterbrach ihn. "Wissen Sie, ich brauche gar nicht noch mehr von ihren Lügen hören! Aber eines möchte ich Ihnen noch sagen: Sie haben mich unglaublich verletzt! Sie wissen gar nicht, wie sehr es weh tut, wenn das Vertrauen, dass man einem anderen Menschen schenkt, so enttäuscht wird! Auf Wiedersehen!" Mit diesen Worten drehte ich mich um und wollte den Raum verlassen, aber so weit kam ich gar nicht.
 
Bevor ich die Tür aufmachen konnte, hatte Mr. Benett bereits seine Hand auf die Tür geschlagen und hinderte mich somit daran, die Tür überhaupt zu öffnen. Bevor ich eine weitere Chance hatte, irgendwie zu reagieren, hatte mein Lehrer bereits seine Hände neben mir platziert und meine Handgelenke neben mir an der Tür festgepinnt. Damit hatte er mich bewegungsunfähig gemacht. Hatte ich vorhin wirklich gedacht, mein Herz hätte bereits schnell geschlagen? Das war nichts gegen das Tempo, dass es jetzt, unter Jonahs brennendem Blick vorlegte. Ich bekam eine Gänsehaut unter seinem wütenden Blick, starrte aber ebenso wütend zurück.
 
"Hör mir verdammt nochmal zu! Ich habe eine Schweigepflicht, aber ich musste sie brechen! Du bist selbstmordgefährdet! Ich darf nicht zusehen, ich musste jemanden informieren!" Meine Stimme zitterte, als ich antwortete: "Sie wissen doch gar nicht, was sie damit angerichtet haben...  ich... ich soll zu einem Psychologen... aber ich bin nicht verrückt!" Als Antwort wurde der Griff um meine Handgelenke fester und somit auch schmerzhafter. Ich versuchte vergeblich, mich zu befreien, er war zu stark. "Aua! Das tut weh! Lassen Sie mich los!" Er ließ ein wenig lockerer, es tat trotzdem noch weh. Dann begann er zu reden. "Auch das war meine Idee Taylor. Weil du Hilfe brauchst. Du hast danach gerufen, ich habe sie dir gegeben. Also hör auf wütend auf mich zu sein, wenn du es warst, der sich mir offenbart hat." Ich war sprachlos. Ich weiß nicht, was ich für eine Antwort erwartet hatte, aber ganz sicher nicht diese. Er machte mich wieder wütend und aggressiver als zuvor versuchte ich wieder von ihm loszukommen. "Sie Arschloch! Jetzt machen Sie mich dafür verantwortlich?! Lassen Sie mich sofort los!" Weiter konnte ich mich nicht beschweren, den jetzt sah ich meinem Lehrer wieder an. Was ich in seinen Augen sah, ließ mich sofort verstummen und alle meine Fluchtversuche abbrechen. Neben der Wut des Streites wegen, konnte ich auch etwas anderes erkennen. Lust. Sein Blick wechselte zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin und her, bis er schließlich bei Letzteren hängen blieb. "Fuck..." Mit diesem Wort legte er seine Lippen auf meine.

Because of you....Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt