Kapitel 8

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Um mich herum war alles schwarz. So schwarz, dass es mir nicht möglich war, die eigene Hand vor Augen zu sehen. Wo war ich? Ich hatte keine Ahnung.
Ich irrte eine Ewigkeit durch die Gegend, aber wie lange genau konnte ich nicht sagen. Es schien keine Zeit zu vergehen. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun, was war hier verdammt nochmal los? Aber als ich um Hilfe rufen wollte, verließ kein Ton meinen Mund. Panik begann mir die Kehle zuzuschnüren, aber bevor sie sich völlig in meinen Körper ausbreiten konnte, veränderte sich meine Umgebung und brachte mich so dazu, wieder etwas ruhiger zu werden. Einige Meter von mir entfernt erhellte sich plötzlich der Raum. Ich konnte die Silhouette einer Frau erkennen, bei längerem Betrachten konnte ich feststellen, dass es sich um meine Mutter handelte, die da stand. Erleichterung durchströmte meinen Körper und schnell lief ich auf sie zu. Bei meiner Mum war ich sicher. Bei meiner Mum konnte mir nichts geschehen.
Wie durch ein Wunder war auch meine Stimme wieder da, sodass ich direkt anfing zu rufen. "Mum! Ich bin so froh, dass du da bist! Weißt du, wo wir sind?" Ich war inzwischen bei ihr angekommen, sodass ich ihr Gesicht klar erkennen konnte. Aber etwas stimmte nicht. Ihr sonst so warmes Gesicht strahlte keinerlei Emotionen aus, sie lächelte mich nicht freundlich an, wie sie es sonst immer tat, sondern starrte mich kalt an. "Mum, was...?" , doch kam nicht weit, bevor sie mich unterbrach. "Du bist schuld. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich Amira noch. Ich hätte dich abtreiben sollen, als ich mit dir schwanger war." Ich war gelähmt. Geschockt sah ich sie an, ungläubig, dass sie das tatsächlich gesagt hatte. Sie war immer diejenige gewesen, die mich unterstützt hatte. Warum also jetzt nicht mehr? Meine Beine gaben nach, sodass ich nun auf dem Boden vor ihr kniete und zu ihr hochschauen musste. "Mum, wieso...?" Weiter kam ich nicht. Meine Stimmer versagte erneut, nahm mir erneut die Möglichkeit zu sprechen. "Weil es stimmt. Du bist schuld. Das muss dir doch klar sein." Eine andere Stimme kam zu der meiner Mutter hinzu. Mein Vater. Auch er sagte mir diese Dinge. Immer mehr Menschen kamen dazu. Meine Großeltern, meine Freunde, Leute aus meiner Schule, die ich nur flüchtig vom Sehen kannte. Sie alle stimmten in den seltsamen Singsang mit ein. "Du bist schuld! Du bist schuld! Schäm dich!" Ich lag inzwischen auf dem Boden, hatte die Knie angezogen und hielt mir die Ohren zu. Doch plötzlich vernahm ich eine Stimme, anders als die anderen. Es war er. Er begann in meinem Kopf zu flüstern. "Schau dich um, Taylor. Niemand mag dich. Du bist es nicht wert. Komm geh zu ihrem Bett." Erst verwirrte es mich, was er sagte, aber dann sah ich mich nochmal um. Die Menschen waren verschwunden, stattdessen stand das Bett meiner Schwester neben mir. Ich erhob mich auf zittrigen Beinen, alle Muskeln schmerzten mir, aber er zwang mich dazu aufzustehen. Nun stand ich also neben dem Bett und schaute sie an. Sie sah aus, als würde sie schlafen, die Augen geschlossen, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Dann begann er erneut zu sprechen: "Sieh sie dir an. Sie hasst dich. Du bist schuld. Hast du mit Absicht nicht aufgepasst? Wolltest du wieder ein Einzelkind sein?" Ich wollte schreien, mich verteidigen, ihm sagen, dass das nicht der Fall war. Dass er log. Aber ich konnte nicht, aus meinem Mund kamen keine Wörter, wenn ich versuchte zu sprechen. Er flüsterte weiter und all die Menschen von vorhin erschienen wieder und fielen in ihren eintönigen Singsang. Ich konnte nicht mehr. Die Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen, die Ohren hielt ich mir wieder zu. Es war einfach nicht mehr ertragbar. Ich versuchte wieder zu schreien, so laut wie ich nur konnte. "HÖRT AUF! HÖRT AUF, HÖRT AUF, HÖRT AUF!"
 
Keuchend wachte ich auf. Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, wo ich mich überhaupt befand. Nur unscharf konnte ich überhaupt etwas erkennen. Und bald wurde mir auch bewusst, warum ich nur unscharf sah. Ich weinte. Zum zweiten Mal an diesem Tag weinte ich. Aber immerhin war ich wach, ich hätte den Traum keine Sekunde länger mehr aushalten können. Schnell wischte ich mir die Tränen weg und sah mich um. Und da stand er. Wieso hatte ich ihn noch nicht bemerkt? Kian stand vor meinem Bett und schaute mich besorgt an. Als er realisierte, dass ich wieder halbwegs da war und mich meiner Umgebung wieder bewusst war, begann er zu sprechen. "Mensch Taylor! Was ist denn los? Ich hab dich schreien gehört und bin hoch gerannt, weil ich dachte, dass was passiert ist. Und jetzt sitzt du weinend hier. Was ist passiert?" "Ich...ich hab schlecht geträumt, das ist alles...", versuchte ich abzuwinken, aber Kian sah mich wütend und besorgt an. "Nur weil man schlecht träumt, wacht man nicht schreiend und weinend auf. Ich mache mir Sorgen um dich, weißt das eigentlich?" Überrascht schüttelte ich den Kopf. Das war das erste Mal, dass Kian mir so etwas gesagt hatte.

Kian seufzte, richtete sich auf und verschwand wieder aus dem Zimmer, nachdem er nochmals auf mich eingeredet hatte. "Wenn du irgendwas brauchen solltest, ich bin unten." Darauf konnte ich nur stumm nicken und blieb anschließend allein in meinem Zimmer zurück. Ich setzte mich auf und starrte die Ziffern meines Weckers an. 17:32. Wow, ich hatte echt eine Weile geschlafen. Leider fühlte ich mich kein bisschen besser als zuvor, aber an Schlaf war jetzt zumindest die nächsten paar Stunden nicht zu denken. Stattdessen beschloss ich, etwas sinnvolles zu tun und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch, wo noch immer das Essay darauf wartete, fertig geschrieben zu werden.

Meine Aufmerksamkeit wanderte aber schnell wieder weiter, ich konnte mich noch immer nicht konzentrieren. Ich starrte aus dem Fenster, wo man trotz der Dämmerung noch immer erkennen konnte, dass es weiterhin in Strömen regnete, seit heute Mittag war es kein bisschen besser geworden und vermutlich würde es noch die ganze Nacht weiterregnen. Auch konnte ich meine Mum sehen, die gerade das Auto geparkt hatte und dabei war, die Einkäufe aus dem Auto so schnell wie möglich ins Haus zu bringen. Meine Gedanken schweiften wieder ab. Warum hatte ich es ausgerechnet jetzt geträumt? Hatte es etwas zu bedeuten? Warum musste mich mein eigenes Unterbewusstsein so quälen? Hatte ich es wirklich verdient?
Schnell schüttelte ich den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Es brachte nichts, weiter darüber nachzudenken, außerdem hatte ich noch immer Hausaufgaben, die bis morgen erledigt werden mussten.
 
Der Rest des Abends verlief ereignislos, ich schrieb gegen Zehn noch mit Phoenix und erzählte ihm von allem was heute geschehen war. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, aber allein die Tatsache, dass ich mich endlich wieder jemandem anvertrauen hatte können, war für meine Psyche eine Wohltat gewesen. Als wir uns verabschiedet hatten kam auch noch meine Mutter ins Zimmer. "Hey mein Schatz. Na, hast du deine Hausaufgaben alle erledigt?", fragte sie mit ihrer ganz normalen Stimme. Ich schauderte bei dem Gedanken an die Stimme in meinem Traum kurz, bevor ich mir ein Lächeln auf die Lippen zwang, mich mit dem Schreibtischstuhl zu ihr drehte und ihr antwortete: "Ja Mum, hab ich. Die Lehrer geben uns echt viel zu viel auf." Sie lache hell auf und wuschelte mir durch die Haare. "Ach Schatz, das war bei uns auch schon so. Wir müssen da alle durch. Aber du schaffst das doch mit links." Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen nickte ich kurz, bevor ich mich innerlich ohrfeigte. Ich hatte total vergessen, dass meine Mum den Lerndruck noch viel besser kannte als ich. Schließlich war sie bis zum Unfall meiner Schwester Oberärztin im Krankenhaus der Stadt gewesen. Sie hatte ein Medizinstudium geschafft, also sollte ich mich echt nicht beschweren. Nochmals nickte ich geistesabwesend, bevor meine Mutter wieder zum Reden ansetzte: "Du kannst übrigens morgen früh länger schlafen." Na toll. "Cool, wieso denn?", fragte ich auch sofort neugierig. "Dein Vater kommt früher zurück als erwartet und ich möchte ihn gerne vom Flughafen abholen. Und da die Schule ja auf dem Weg liegt, dachte ich mir, ich könnte dich mitnehmen", gab sie mir die Erklärung. "Cool! Das heißt ja, dass ich Dad morgen Mittag schon wieder sehe!", rief ich beinahe aus.

Die Müdigkeit von vorhin war verflogen, denn ich und mein Vater hatten eine ganz besondere Bindung zueinander. Meine Mutter war mit mir schwanger, als sie gerade ihren Doktor gemacht hatte. Sie war extrem ehrgeizig gewesen und hatte auch relativ früh nach meiner Geburt wieder angefangen zu arbeiten. Dementsprechend trat mein Vater kürzer und hatte sich mehr um mich gekümmert, während Mum das Geld verdiente. Deshalb war ich schon immer mehr ein Papakind gewesen, aber in den letzten Jahren musste er immer wieder auf mehrtägige Geschäftsreisen und ich sah ihn dann meiner Meinung nach viel zu selten. Auch meine Mum lachte über meinen Enthusiasmus und nickte zustimmend. "Ja, du kannst ihn morgen Mittag wieder sehen." Sie streckte sich und drückte mir einen Kuss auf die Wange. "Gute Nacht Schatz. Und mach nicht mehr allzu lange, ja?" "Ja, Mum. Schlaf schön“, meinte ich und nahm mir vor, ihrem Rat folge zu leisten. Danach verließ sie mein Zimmer und ich blieb alleine zurück.

Ich stand auf und ging tatsächlich ins Bad, um mich bettfertig zu machen. Während ich mir die Zähne putzte ging mir so einiges durch den Kopf. Auch die Frage, warum sich Kian eigentlich nicht von mir verabschiedet hatte. War es ihm peinlich gewesen, dass er mich weinend gesehen hatte? Ich konnte es nicht sagen. Zehn Minuten später lag ich im Bett. Jetzt wo ich entspannen konnte, spürte ich endgültig die vollkommene Erschöpfung meines Körpers. Ich war ausgelaugt. Müde. Kraftlos. Das alles heute hatte mir endgültig den letzten Nerv geraubt, den ich noch gehabt hatte. Das Gespräch mit Mr. Benett, der Traum, einfach alles.
Überrascht spürte ich, wie mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtige Müdigkeit packte, die mir das Bedürfnis gab, mich einfach in die Bettdecke zu kuscheln und zu schlafen. Ich hatte zwar noch immer Bedenken, dass ich erneut einen der schrecklichen Träume haben könnte, doch bevor die Angst mich vom Schlafen abhalten konnte, fielen mir die Augen zu. Mein Körper holte sich etwas Schlaf zurück, Schlaf den ich jetzt dringend benötigte. Und zum ersten Mal seit langer Zeit schlief ich ohne Träume.

Because of you....Where stories live. Discover now