Kapitel 2

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Nachdem ich mich beruhigt und ihn in die hinterste Ecke meines Gehirns verbannt hatte, ging ich in mein kleines Badezimmer. Ich legte meine Klamotten ab und betrachtete mich im Spiegel. Was ich sah, erschrak mich schon lange nicht mehr. Meine hellbraunen, relativ langen Haare fielen mir wie immer als lockige Strähnen ins Gesicht und ich starrte mich selbst aus hellblauen, müden Augen an. Als ich meinen Blick weiterwandern ließ erkannte ich erst das gesamte Ausmaß des Schlafmangels der vergangenen Wochen; unter meinen Augen zeichneten tiefe Augenringe ab, meine Wangen waren eingefallen, wodurch meine hohen Wangenknochen nur noch deutlicher zu sehen waren, als es sowieso schon immer der Fall gewesen war. Obwohl ich fand, dass ich nicht ganz gesund aussah, hatte mich bisher gottseidank niemand auf mein Wohlergehen angesprochen.

Ich seufzte, bevor ich mich endgültig von meinem Spiegelbild abwendete, mich meiner Kleidung entledigte und in die Dusche stieg. Während das warme Wasser über meine Haut lief, betrachtete ich nun auch den Rest meines Körpers. Die Albträume hatten meinen Hunger in den letzten Wochen sehr erfolgreich vertrieben, ich aß so gut wie nichts mehr und hatte deshalb relativ drastisch abgenommen. Ich war nie sonderlich breit gebaut gewesen, im Gegenteil, ich hatte vielmehr den dünnen, drahtigen Körperbau meiner Mutter geerbt, doch langsam wurde es extrem. Wenn ich noch einige Wochen so weiter machen würde wie die letzten paar, dann würde man bald jede einzelne meiner Rippen sehr deutlich erkennen. Mein Blick wanderte weiter, zu der Innenseite meines linken Unterarms, dort konnte man mit ein wenig Fantasie noch die Narben erkennen. Feine Narben, die sich leicht rötlich von meiner normalen, eher blassen Haut abhoben. Narben, die ich mir vor gut einem Monat selbst zugefügt hatte, weil ich einfach mit nichts mehr klarkam. Es war nicht so, dass ich die Intention hatte mich umzubringen, aber die Schmerzen hatten mir extrem geholfen. Ich hatte für kurze Zeit wieder etwas fühlen können. Gut, es war nicht meine beste Entscheidung gewesen und im Nachhinein hatte ich es auch bereut, aber mein Verhalten war ohne Konsequenzen geblieben. Es war nichts geschehen. Niemand hatte etwas bemerkt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es niemanden interessieren würde, wenn ich einfach verschwinden würde.

Ich blieb noch einige Minuten unter dem heißen Wasserstrahl und philosophierte weiter über die letzten Monate, doch irgendwann quälte ich mich aus der Dusche, ich musste schließlich zur Schule. Also trocknete ich meine Haare halbherzig mit einem Handtuch ab, schlüpfte in die Jeans und den Hoodie, den ich mir mitgenommen hatte und verließ das Badezimmer, ging zurück in mein Zimmer. Es war stockdunkel, da ich die Vorhänge noch nicht aufgemacht hatte. Schnell schob ich sie beiseite, um trübes, winterliches Licht in mein Zimmer zu lassen. Es war bewölkt, die grauen Wolken, die eilig über den Himmel zogen, schienen meine Stimmung perfekt imitieren zu wollen.

Nachdem ich mich schließlich endgültig fertig gemacht hatte, lief ich schnell in die Küche, hauptsächlich, um zu sehen, ob meine Mutter da war. Das Zimmer, in dem meine Schwester lag, ignorierte ich gekonnt. Ich konnte den Gedanken, dass ich ihr Leben zerstört hatte einfach nicht mehr ertragen. Es wurde immer schlimmer, am Anfang hatte ich ihr immer von meinem Tag erzählt, was in der Schule vorgefallen war, wie es mir ging und einfach alles Mögliche. Aber mit der Zeit waren meine Besuche in ihrem Zimmer immer seltener geworden, inzwischen war ich so weit, dass ich mich nicht mal mehr in ihrem Zimmer blicken ließ, denn die Gefahr, dass er meine Gedanken dann für den restlichen Tag beanspruchte, war übermächtig. Ich konnte nicht zu ihr gehen.

Erst als die laute Klingel durch das Haus schallte, wurde ich aus meinen düsteren Gedanken gerissen. "Taylor? Kannst du Kian bitte mal die Tür aufmachen?", konnte ich meine Mutter gedämpft aus einem anderen Teil unseres Hauses rufen hören. "Ja mach ich, Mom!", rief ich noch schnell, bevor ich mich auf den Weg zur Tür machte. Kian war der Pfleger meiner Schwester. Er unterstützte meine Mutter bei allem, was mit ihr zu tun hatte. Als ich die Tür öffnete, stand mir der junge Mann mit einem Grinsen gegenüber. "Guten Morgen!", brachte er mir fröhlich entgegen. Er war noch recht jung, erst 25 Jahre alt, aber er war trotzdem einer der Besten seines Gebietes. Ein Überflieger eben. Schwach lächelte ich ihm entgegen, zu mehr war ich dank der düsteren Gedanken an ihn nicht fähig. Kian blickte mich aus seinen dunkelbraunen Augen an und das Grinsen verschwand schnell aus seinem Gesicht "Alles in Ordnung? Du siehst abartig müde aus. Bist du krank?" Ich schüttelte den Kopf, obwohl Kian ja eigentlich recht hatte. Er war gefühlt der einzige, der immer eine Ahnung hatte, wie es mir ging. Er war eben ein sehr guter Beobachter und Menschenkenner. Da ich ihm allerdings keinesfalls Sorgen machen wollte, stritt ich es ab. Wie immer, denn er war schließlich für meine Schwester da und nicht für mich. "Ja klar, alles in Ordnung. Ich habe nur ein bisschen schlecht geschlafen, sonst nichts." Kian nickte, sah allerdings nicht gerade überzeugt aus.

Gottseidank konnte er nicht weiter nachbohren, da in diesem Moment meine Mutter erschien und Kians Aufmerksamkeit damit auf sich zog. "Guten Morgen Mrs. O'Harris. Soll ich gleich zu Amira schauen?", fragte Kian, wie immer betont höflich. "Guten Morgen Kian. Willst du vielleicht noch etwas essen?" Kian lehnte dankend ab, weswegen meine Mutter fortfuhr. "Ja, gut. Dann kannst du wirklich gleich zu Amira gehen. Die Nacht war ruhig, alles so wie immer." Ein leicht resignierter Ton schwang in ihrer Stimme mit. Nicht verwunderlich: "Alles so wie immer" war der Dauerzustand, in dem meine Schwester sich seit eineinhalb Jahren befand.

Ich wand mich von den Beiden ab und ging in die Küche. Dort angekommen wurde mir allerdings übel, als ich nur den Kühlschrank ansah und daran dachte, etwas zu essen. Unmöglich. Ich konnte mich jetzt einfach nicht dazu bringen, etwas zu essen, weswegen ich mir nur einen Apfel und eine Wasserflasche nahm und dann wieder in mein Zimmer verschwand.

Dort angekommen ging ich direkt zu meinem Laptop, um ihm anzuschalten. Während er hochfuhr packte ich schnell meine Schulsachen. Deutsch, Chemie, Geschichte. Was für eine großartige Fächerkombination, auf die ich heute auch definitiv Bock hatte. Grob zerrte ich den Reißverschluss meines Rucksacks zu und seufzte tief. Was wollte ich den schon gegen Schule tun? Ich konnte schlecht aufgeben, denn ich wollte unbedingt mein Abitur schaffen. Immerhin war mein Laptop inzwischen hochgefahren, sodass ich ihn schnell entsperrte, Google öffnete und den Namen des Chatrooms eingab, auf dem ich mich vor einigen Monaten aus purer Langeweile angemeldet hatte. Ungeduldig wartete ich darauf, dass die Seite lud und mir alle neuen Nachrichten angezeigt werden würden und tatsächlich hatte ich eine neue Nachrichte von Phoenix. Endlich, ich hatte schon seit gestern darauf gewartet.

Phoenix hatte ich durch Zufall in einer Diskussion auf dem Chatroom kennengelernt. Irgendwann hatte er mich privat angeschrieben und wir waren ins Gespräch gekommen. Mit der Zeit hatte ich mich ihm immer mehr geöffnet, ich hatte ihm von meinen Problemen erzählt und er mir von seinen. Phoenix vertraute ich inzwischen mehr als vielen meiner Freunde. Ich hatte keine Ahnung, wie er aussah und andersherum war es genauso. Aber es war nicht schlimm, denn dadurch hatten wir keine Vorurteile aufgrund des Aussehens des anderen und konnten uns so aufgrund unserer Persönlichkeit kennenlernen. Wir teilten viele Gemeinsamkeiten und Interessen, durch ihn war ich auch ein Star Wars-Fan geworden. Er motivierte mich, wenn es mir schlecht ging und ich versuchte ihm auch zu helfen, wann immer es ging. Ich hatte keine Ahnung, wie alt er war, aber es störte mich nicht. Vermutlich war er aber im selben Alter wie ich, oder nur unwesentlich älter. Das hatte ich einfach im Gefühl. Erst jetzt wandte ich mich dem Text der Nachricht zu.

Hi...
Entschuldigung, dass ich mich gestern nicht mehr gemeldet habe, aber ich war ziemlich müde und bin einfach nur ins früh ins Bett gegangen. Wie geht es dir? Hattest du wieder Albträume und Schuldgefühle? Wenn ja, Taylor sprich mit jemandem darüber! Du kannst deine Probleme nicht für immer in dich reinfressen, das ist nicht gesund. Ich muss jetzt leider los, die Schule ruft. Aber wir können gerne heute Abend wieder schreiben, dann habe ich Zeit. Bis später!

Ich seufzte. Phoenix beharrte schon seit längerem darauf, dass ich mich jemandem anvertrauen sollte, aber ich konnte das nicht. Allein schon, weil ich niemanden kannte, dem ich so etwas sagen könnte. Außerdem waren meine Probleme so unbedeutend, dass sie niemanden interessieren würden. Zurecht. Im Vergleich zu meiner Schwester ging es mir gut. Im Vergleich zu ihr ging es mir ausgezeichnet. Also würde ich weiterhin niemandem auf den Keks gehen mit meinen Problemchen. Ich las mir die Nachricht noch einmal durch und mein Blick fiel auf die Uhrzeit, zu der die Nachricht abgeschickt worden war. 06:15. Nichts ungewöhnliches für Phoenix. Er hatte mal erwähnt, dass er Frühaufsteher war und es genoss, am Morgen allein joggen zu gehen. So war es mir früher auch gegangen.

Hi...
Alles gut, ich antworte ja auch oft nicht sofort, du musst dich nicht entschuldigen. Mir geht es ganz gut, danke. Wie geht's dir? Und ja ich hatte einen Albtraum, den gleichen wie immer, aber ich habe sogar relativ viel Schlaf abbekommen. Und Phoenix... du weißt, dass ich nicht mit jemandem reden werde, ich habe dir doch schon erklärt, wie ich zu dem Thema stehe. Außerdem rede ich doch mit dir darüber, du bist nun mal der einzige, bei dem ich mich wohl genug fühle, so etwas zu erzählen. Naja, wir können ja heute Abend nochmal darüber reden, jetzt muss ich auf jeden Fall auch mal los in die Schule.
Bis später!

Nachdem ich die Nachricht verschickt und meinen Laptop wieder runtergefahren hatte, machte ich mich mit einem kurzen Blick auf die Uhr auf den Weg in die Schule, um nicht zu spät zu kommen. Wie ich mich schon freute. Schule war ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab. Und trotzdem machte ich mich auf den Weg. Auf den Weg in die Gefangenschaft, auf den Weg in meine persönliche Hölle.

Because of you....Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt