Kapitel 3

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Bevor ich das Haus verließ, ging ich noch kurz zu meiner Mutter, um mich zu verabschieden. Ich musste sie nicht lange suchen, es war fast klar, dass sie bei Amira war, weswegen ich nach kurzem Zögern an ihrer Tür klopfte. Nach einem gedämpften "Komm rein!" aus dem Zimmer öffnete ich die Tür, blieb aber im Türrahmen stehen, anstatt das Zimmer ganz zu betreten. "Mom, ich geh' jetzt. Bis heute Mittag." Ich wollte mich schon wieder abwenden, um mich endgültig auf den Weg zur Schule zu machen, doch Mom hielt mich auf. "Halt mein Schatz! Ich will mich doch noch richtig verabschieden!", rief sie mit einem warmen Lächeln im Gesicht. Kaum hatte sie das gesagt, zog sie mich in eine feste Umarmung, aus der ich mich nicht befreien konnte, weil meine Mutter einen unglaublich starken Griff für so eine schlanke Frau hatte. Also erwiderte ich notgedrungen und ließ es einfach über mich ergehen. Als sie mir allerdings einen Kuss auf die Wange drücken wollte, wand ich mich doch aus der Umarmung, da es mir zu peinlich wurde, auch mit einem Seitenblick zu Kian, der die Situation mit einem belustigten Grinsen, das seine weißen Zähne zeigte, verfolgte. "Also dann, tschüss", murmelte ich und hörte meine Mutter leise lachen. "Bis heute Mittag. Und viel Spaß in der Schule ", fügte sie noch hinzu. Ich erwiderte nichts, sondern schloss die Tür wieder und steuert die Haustür an. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass die Schule erst in einer Stunde beginnen würde, allerdings hatte ich mir heute mal wieder vorgenommen zur Schule laufen, um mal wieder etwas Zeit in der Natur zu verbringen. Vielleicht könnte ich den Kopf frei bekommen und mich für ein paar Minuten mit anderen Dingen beschäftigen als Amira.

Es dauerte gut 5 Minuten, bis ich mich von den Häusern entfernt hatte und mich auf dem offenen Feld befand. Von hier aus zog sich ein beinahe schnurgerader Weg durch die Felder, dem ich bis zur Schule folgen konnte. Die Landschaft war recht trostlos, nur hier und da von einigen kahlen Bäumen durchbrochen. Erst in einigen hundert Meter Entfernung befand sich ein Wald, der mir früher so vertraut gewesen war, wie meine eigene Westentasche. Ich atmete tief ein, genoss die kühle, salzige Luft, die meine Lungen füllte und mich mit neuer Energie versorgte. Natürlich war es ein Umweg zur Schule, doch es störte mich nicht. Ich hatte Kopfhörer in den Ohren, sodass ich für die nächste Dreiviertelstunde mit meiner Musik allein sein würde. Die letzten Takte eines Liedes endeten gerade und ließen mich für einige Sekunden mit meinen Gedanken allein, bevor das nächste Lied startete. Ich erkannte es sofort, der Sänger musste nicht einmal anfangen zu singen und ich erkannte das Lied. Es war eines meiner Lieblingslieder, da ich mich unglaublich angesprochen fühlte. Es hieß 'Unforgettable' und war von einer japanischen Band, die ich erst durch Phoenix kennen und lieben gelernt hatte. Fast wie automatisch stellte ich die Musik lauter, ließ mich ganz auf sie ein, blendete alles andere um mich herum aus und genoss einfach den Song. Den Text konnte ich quasi auswendig.

Who ist the person you see, when you look closer?

Who am I going to be when it's all over?

Sacrifice but it's worth the price for a moment that lives on

Bury me in a melody and remember when I'm gone

Who ist the person you see when you look closer, closer?

More than the face you see in the crowd

They know my name when you scream it loud

I don't need much, I just want it all

All I wanna be is unforgettable

...

Der Song ging noch weiter, doch ich schweifte mit meinen Gedanken ab. War es bei mir nicht genauso? Wer kannte mich denn schon? Wer schaute denn schon hinter die Mauern, die ich in den letzten Jahren um mich gebaut hatte? Bis auf einen kleinen Einblick in meine Persönlichkeit hatte niemand, nicht mal Phoenix eine Ahnung, wer ich war, wer ich wirklich war. Und das nicht erst seit Amiras Unfall, das Bauen meiner Mauern hatte schon viel früher begonnen. Wenn ich darüber nachdachte, wusste ich selbst inzwischen kaum mehr, wer ich war, ohne die Mauern, ohne die vielen Masken, die ich mir immer wieder aufsetzte. Während ich seit Jahren versuchte, mich selbst zu schützen, hatte ich mich wohl langsam, aber sicher selbst verloren. Als mir das allmählich bewusst wurde, ärgerte ich mich beinahe über mich selbst. So früh am Morgen auf dem Schulweg eine Existenzkrise zu beginnen war definitiv nicht meine beste Idee gewesen. Aber wenn ich schon dabei war – wer war ich denn? Gab es irgendwelche Attribute, die mich signifikant auszeichneten? Ich war Taylor O'Harris, siebzehn Jahre alt, ein guter Schüler – aber was war ich sonst? Nicht viel, wie mir jetzt bewusst wurde. Vielleicht konnte ich das einfach nicht. Vielleicht war ich kaputt, nach allem, was mir bisher geschehen war. Unwillkürlich musste ich an ein Ereignis denken, dass bereits drei Jahre zurücklag und dass ich eigentlich längst verdrängt hatte. Warum musste es mir denn ausgerechnet jetzt einfallen?

Ich war total nervös. Heute würde ich es ihnen allen endlich sagen. Ich würde ihnen allen sagen, dass ich schwul war. Natürlich hatte ich Angst, dass sie es nicht akzeptieren würden, aber selbst wenn hatte ich mit Jack, meinem besten Freund, eine Person, die mir immer den Rücken freihalten und mich unterstützen würde. Ihm hatte ich bereits vor einiger Zeit von meiner Sexualität erzählt und Jack hatte mir klargemacht, dass es für ihn keinen Unterschied machte, ob ich nun hetero, bi oder schwul war. Ich war ihm so dankbar dafür, er war der beste Freund, den man sich wünschen konnte. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren über die Jahre noch enger zusammengewachsen. Mein Geständnis hatte ihm wirklich nichts ausgemacht und er behandelte mich immer noch genauso wie vorher.
Da wir diese Woche ein Projekt zum Thema Vielfalt aller Art hatten, hatten wir uns unter anderem auch mit Sexualität beschäftigt und ich hatte extrem wenig abfällige Kommentare mitbekommen. Dadurch war ich in meiner Entscheidung, mich zu outen nochmal bestärkt worden. Heute war Freitag und ich hatte meinem Klassenlehrer in einem ausführlichen Gespräch von meiner Situation und meiner Idee erzählt. Er hatte meiner Idee zugestimmt und heute war es so weit. Wir waren gerade dabei, persönliche Ereignisse zu schildern, als Stille einkehrte. Niemand hatte noch etwas zu sagen, also erhob ich mich. Ich spürte Jacks überraschten Blick auf mir. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich etwas sagen würde. Ich atmete einmal tief durch, bevor ich begann zu erzählen. "A-also i-ich wollte euch allen was sagen und weil wir das Thema ja momentan haben -" Mein Blick wanderte durch die Klasse. Einige Leute begannen bereits zu tuscheln. Obwohl mir mein Herz bis zum Hals schlug, versuchte ich weiterhin Ruhe auszustrahlen und fuhr fort. "Ich wollte euch allen was sagen: Ich bin schwul!" Ich hatte es ausgesprochen. Ich konnte es kaum glauben. Es tat so gut, dass diese Last endlich von meinen Schultern genommen worden war. Ich war erst 14 Jahre alt, aber ich schleppte dieses Geheimnis schon eine ganze Weile mit mir herum. Erst jetzt schaute ich meine Klassenkameraden an. Die meisten musterten mich, nicht abschätzend, aber neugierig.

Der Rest des Schultages zog an mir vorbei, ohne dass ich davon noch viel mitbekam. Ich war zu sehr in meiner eigenen Welt, ein Gefühl der Freiheit hatte mich überkommen, eine Erleichterung, wie ich sie seit langem nicht mehr gespürt hatte. Erst am Ende der Stunde bekam ich wieder was mit, als unser Lehrer uns noch ermahnte: "Denkt daran, nächste Woche ist wieder normaler Unterricht! Ich erwarte, dass ihr alle Hausaufgaben ganz normal dabei habt! Und ein schönes Wochenende euch." Die meisten Schüler hörten gar nicht mehr zu, sondern packten schnellstmöglich ihre Sachen ein, um so pünktlich wie es nur ging aus dem Klassenzimmer zu kommen. Mir selbst ging es auch nicht anders, allerdings musste ich nochmal zu meinem Spind, deshalb hatteich es nicht ganz so eilig. Ich verließ das Klassenzimmer als Letzter, auch da ich nochmal kurz mit meinem Lehrer sprach.
Als ich dann schließlich auch aus dem Klassenzimmer ging, hörte ich eine mir bekannte Stimme. "Na, Schwuchtel, alles gut?" Ich drehte mich um. Da stand er. Jack. Mein bester Freund, umgeben von einigen anderen Jungs aus meiner Klasse. Sie drängten mich an eine Wand, sodass ich von ihnen in einem Halbkreis eingeschlossen wurde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, zu geschockt war ich von dem Verrat meines besten Freundes. Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Kopf war wie leergefegt, ich konnte einfach nicht verarbeiten, was geschah. Was war los? Warum machte Jack das? Er war doch mein bester Freund! Dass er mich jetzt auf übelste Weise beschimpfte passte doch einfach nicht zu ihm, aber ich konnte nichts sagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. An die folgenden paar Minuten konnte ich mich nur verschwommen erinnern. Nur an ihre Schläge konnte ich mich erinnern, der Schmerz hatte sich für immer in meine Gedanken eingebrannt. Selbst als ich weinend am Boden lag, selbst als ich vor Schmerzen begann mich zu übergeben, hörten sie nicht auf. Das letzte was ich sah, bevor ich in tiefer, schwarzer Dunkelheit versank, war das höhnisch lächelnde Gesicht meines ehemals besten Freundes. Erst dann glitt ich in die willkommene Dunkelheit, die mich kurzzeitig von den unglaublichen Schmerzen erlöste. Sowohl von den körperlichen, als auch den psychischen Schmerzen.

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