[13] Das Monster im Wasser

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»Nein, Tarun. Tu's nicht!«, versuchte Narami den wagemutigen Prinzen an seinem Vorhaben zu hindern. »Mir musst du nichts mehr beweisen. Ich weiß, dass du stark und mutig bist. Dieses Monster ist eine ganz andere Nummer, als die alte Elefantenkuh. Es wird dich fressen und was wird dann aus mir?«

»Hab keine Angst, meine Liebste. Dein tapferer Verlobter besiegt gleich ein blutrünstiges Scheusal. Bleib hier, bis ich dich rufe«, riet Tarun seiner Angetrauten und schlich weiter durch das Dickicht.

Mit einem todesmutigen Sprung überwand der Tiger einen letzten Busch und war dann verschwunden. Alles, was Narami noch hörte, war ein komisches Geräusch, das wie ein dumpfes Platschen klang. Sie war sich sicher, dass Tarun geradewegs in den Schlund des gefräßigen Untieres gesprungen war und zitterte am ganzen Leib.

»Tarun?«, rief sie zögerlich. »Tarun, bist du noch da? Geht es dir gut? Antworte doch!« Bis auf das immerwährende Rauschen und Vogelgezwitscher drang kein weiteres Geräusch an Naramis Ohren.

Sie malte sich das Schlimmste aus, war gleichsam aber misstrauisch, da außer dem Platschen keine weiteren Kampfgeräusche zu hören waren. Nachdem sie lange auf ein Rufen des Prinzen gewartet hatte, traute sie sich schließlich auf leisen Pfoten ihm hinterherzuschleichen.

Narami durchbrach die dichten Farnbüsche und bemerkte, dass der Boden dahinter viel steiniger war, als auf ihrem bisherigen Weg. Außerdem wurde das Rauschen, mit jedem Schritt, den sie ging, lauter. Die Tigerin atmete einmal tief ein, stellte sich in voller Größe auf und setzte ihren Weg fort. Sie konnte Tarun, nach allem, was er für sie getan hatte, nicht im Stich lassen.

Nach weiteren Schritten, die sie betont trittsicher setzte, erblickte sie einen See und das Rauschen war nun fast ohrenbetäubend laut.

»Tarun? Bist du hier? Antworte endlich! Tarun!« Narami rief sich die Kehle aus dem Leib, doch sie konnte weder Tarun noch ein tigerfressendes Monster finden.

Aber dann bewegte sich etwas unter der Wasseroberfläche genau auf sie zu. Narami trat zurück, spannte ihre Muskeln an und fuhr ihre Krallen aus. So plötzlich wie er aufgetaucht war, verschwand der Schatten im Wasser wieder. Die weiße Tigerin ging einen Schritt auf das Ufer zu und wurde völlig unvermittelt von etwas Großem ins Wasser gezogen.

Narami blieb beinahe das Herz stehen. Sie schaffte es dennoch, sich aus den Fängen des Ungetüms zu befreien, und keuchend paddelte sie zurück an Land, wo sie zunächst ihr pitschnasses Fell trocken schüttelte. Das unbekannte Wesen ließ aber nicht locker und näherte sich erneut.

Die Gerüchte um das tigerverschlingende Monster scheinen wahr zu sein, dachte sie bei sich. Narami legte ihr gefährliches Raubtiergebiss frei und erwartete den nächsten Angriff.

Dann sah sie etwas Grünes und Glitschiges aus dem Wasser herausragen. Es tauchte langsam immer weiter auf und schien die Form einer Katze zu haben. Soll das Monster etwa selbst ein Tiger sein? Ein Tiger der Tiger frisst? Narami zog sich der Magen zusammen, bei diesem Gedanken. Sie machte sich trotz allem auf einen bevorstehenden Kampf gefasst. Als das Monster langsam an Land kroch, kamen ihr ein paar Details an dessen Körper jedoch äußerst bekannt vor.

»Tarun? Bist ... bist du das?«, fragte sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Wut.

Das vermeintliche Ungeheuer schüttelte sich ebenfalls das Wasser und die Algen aus dem Fell und zum Vorschein kam ein hämisch grinsendes Tigerprinzchen.

»Du mieser Fiesling! Wie konntest du mir nur so einen Schrecken einjagen?«, fauchte Narami ihren schadenfrohen Verlobten an und drehte sich beleidigt um. »Mir wäre fast das Herz stehen geblieben! Mach das nie wieder oder unsere Hochzeit wird abgesagt. Jawohl!«

»Narami, es tut mir leid. Bitte sei mir nicht böse. Ich konnte einfach nicht widerstehen, dich ein wenig zu erschrecken«, versuchte sich Tarun nicht wirklich ehrlich zu entschuldigen.

»Ein wenig zu erschrecken?«, wiederholte Narami wütend seine Worte. »Ich dachte, das Monster hat dich gefressen und ich würde die Nächste sein!«

»Du hast die Geschichte mit dem Monster wirklich geglaubt? Ich dachte, dass du so einen Blödsinn sofort als Nonsens entlarvst«, schmunzelte Tarun.

»Gut, dann weißt du ja jetzt, dass ich nicht nur weiß, sondern auch dumm bin.« Narami ging beleidigt von dannen und ließ einen sichtbar betrübten Tarun zurück. Dieser Streich schien gehörig nach hinten losgegangen zu sein.

»Narami, bitte warte! Das war nicht bös gemeint, glaube mir. Ich weiß ganz sicher, dass du alles andere als dumm bist«, rief er ihr hinterher, aber seine Freundin zeigte ihm lediglich ihre Kehrseite. »Ich wollte dich in Wahrheit mit diesem Ort überraschen. Ehrlich! Du hast noch gar nicht gesehen, wie schön es hier ist. Narami! Bleib stehen, bitte«, flehte er sie an.

Narami blieb tatsächlich stehen, verdrehte aber bei den vergeblichen Bemühungen, sich bei ihr zu entschuldigen, nur die Augen. »Tarun, versuch es gar nicht erst. Für heute will ich nichts mehr von irgendwelchen Überraschungen wissen. Das ist nur wieder eine deiner miserablen Streiche.«

Tarun ergriff die kleine Chance, die er hatte, um Narami nachzulaufen und einen erneuten Versuch zu starten. »Nein, wirklich. Dieses Mal ist es kein Scherz. Schau mal da vorne, da ist die wahre Ursache für dieses komische Rauschen«, versuchte der Prinz die junge Tigerin aufs Neue zu überzeugen und deutete mit der Schnauze in Richtung des Lärms.

Narami drehte sich langsam um und traute ihren Augen nicht, als sich vor ihr ein wahres Wunder der Natur erstreckte. Das mysteriöse Rauschen kam wirklich nicht von einem Ungeheuer, sondern von mächtigen Wassermassen, die eine mehr als dreihundert Meter hohe Felswand herunterpreschen.

»Kein Monster, Narami. Wasserfälle sind für diese Geräusche verantwortlich. Man nennt sie die Jōga Jalapāt. Sind sie nicht wunderschön?«, erklärte Tarun. »Ich war oft hier, als ich allein in den Dschungel hinausging. Ein magischer Ort.«

Narami stand nach wie vor mit geöffnetem Maul da und nickte lediglich mit dem Kopf. Wie konnte sie diese Schönheit nur übersehen haben? Schließlich fand sie doch noch ein paar Worte an Tarun, ohne dabei den Blick von den Fällen zu lassen.

»Das hättest du mir aber auch zeigen können, ohne mich vorher in Todesangst zu versetzen«, fauchte sie.

»Ich mach's wieder gut, versprochen. Und jetzt komm mit, wir schauen uns die Wasserfälle aus der Nähe an.« Tarun stupste die Dame seines Herzens an und rannte voraus. Narami folgte ihm.

Die beiden Tiger blieben ganz nah an den Wasserfällen stehen und konnten bei deren Lärm kaum ihr eigenes Wort verstehen. Außerdem kitzelte ihnen das aufspritzende Wasser an den Nasen.

»Die Jog-Wasserfälle setzen sich aus vier einzelnen Kaskaden zusammen. Siehst du?«, beschrieb Tarun den Ort und ging mit seiner Pfote die einzelnen Fälle ab.

»Jede der Kaskaden hat einen Namen. Ganz links ist der Raja Fall, was der König bedeutet. Man nennt ihn so, weil ihm ein würdevoller und erhabener Charakter nachgesagt wird. Daneben siehst du den Roarer, der Tosende. Er macht von allen Kaskaden den meisten Lärm. Das Monster unter den Wasserfällen sozusagen«, konnte sich Tarun einen erneuten Seitenhieb auf seinen Streich nicht verkneifen. »Der Dritte wird Baaj, der Habicht genannt. Er besteht aus einer sehr großen Wassermasse, die in ungeheurer Geschwindigkeit durch eine winzige Öffnung geschossen kommt. Wie ein Raubvogel, der aus gewaltiger Höhe nach unten schießt. Die letzte Kaskade wird Rani, die Königin oder auch weiße Dame genannt«, schloss Tarun seine Erklärung ab und lächelte Narami am Ende liebevoll an.

»Der König und die weiße Dame. Das ist wundervoll, Tarun. Als ob sie nach uns benannt wurden«, staunte die Tigerin und bekam eine Gänsehaut.

Die zwei verliebten Tiger verbrachten die Nacht in der Nähe dieses romantischen Ortes und verschwendeten keinen Gedanken mehr an Taruns fiesen Streich. Am nächsten Morgen traten sie glückselig den Heimweg an, doch irgendetwas schien anders, als am Tag ihres Aufbruchs zu sein.

Tarun und der Fluch der NagasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt