[03] Taruns List

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NACH KURZER ZEIT sah er sie – alt, narbig und hager. Eine wahrhaft unheimliche Erscheinung, vor allem im bleichen Licht der langsam aufgehenden Sonne.

Doch Tarun schlich unaufhaltsam weiter auf Shiva zu. Er unterdrückte seine Angst und war fest entschlossen, ihr die Stirn zu bieten. Bald erkannte er, dass die alte Elefantenkuh ein anderes Tier angriff. Das tat sie nur zu oft und nicht selten zogen ihre deutlich kleineren Gegenspieler dabei den Kürzeren. Tarun konnte nicht erkennen, um welches Tier es sich dieses Mal handelte. Dennoch war er sich sicher, dass Shiva sich erneut einen Gegner ausgesucht hatte, der schwächer war, als sie selbst.

Tarun blieb im schützenden Dickicht, schlich jedoch so nah an diese beängstigende Szene heran, wie möglich. Er war immerhin der Sohn des Königs und fühlte sich verantwortlich für die Sicherheit der Tiere in diesem Dschungel. Das war vermutlich das Einzige, was ihn im Gegensatz zu Najuk zu einem besseren König machen würde. Sein Bruder wäre einfach davongerannt.

Aus dem hohen Gras unterhalb der säulenartigen Beine des Dickhäuters hörte Tarun auf einmal das wütende Fauchen eines Tigers. Daraufhin ging er wieder etwas weiter in Deckung. Es könnte sich schließlich um ein fremdes Männchen handeln und ruckzuck würde es für ihn selbst ungemütlich werden.

»Wenn es ein Eindringling ist, der meinem Vater den Thron streitig machen will, ist es gut, dass die alte Shiva ihn vertreibt, ehe er Ärger machen kann«, dachte Tarun und wendete sich von dem Geschehen ab. Ein Tiger, der so dreist ist, in ein fremdes Revier einzudringen, soll zusehen, wie er mit dem wütenden Rüsseltier zurechtkommt.

Als er den Rückzug antrat, erkannte Tarun allerdings, dass es sich bei dem unbekannten Tiger um ein junges Weibchen handeln musste. Ihr Fauchen klang immer ängstlicher, während Shiva triumphierend trompetete und mit den Vorderbeinen auf den Boden aufstampfte. Tarun konnte beobachten, dass die Elefantenkuh die fremde Tigerin mit einem kräftigen Rüsselschlag an ihrer Flucht hinderte, woraufhin sie einen schmerzerfüllten Schrei von sich gab.

Auf einmal spürte Tarun das Verlangen, dem Tigerweibchen helfen zu wollen. Er wusste, dass es fast unmöglich war, gegen Shiva anzukommen, aber er musste es versuchen. Wenn nicht mit körperlicher Stärke, so wollte er die Alte mit List an ihren Untaten hindern.

»Hey, Shiva du alte Schnepfe!«, rief er dem cholerischen Elefanten zu und stellte sich deutlich sichtbar vor ihr hin. »Warum suchst du dir nicht jemanden in deiner Größe? Du hast wohl Angst zu verlieren, oder weshalb ärgerst du stets Leute, die sich nicht wehren können?«

Wenn das seine Mutter sehen könnte! Tarun stand ungeschützt auf der Lichtung. Nichts lag zwischen ihm und Shiva. Wütend schnaubend drehte der Dickhäuter sich zu ihm um.

»Was bist du denn für ein Würmchen? Wenn du nur halb so schlau wärst, wie du gerade tust, dann würdest du dich jetzt umdrehen und so schnell du kannst davon laufen!«, schrie sie ihn an und gab ein tiefes Brummen ab, woraufhin sich Taruns Fell entlang seines Rückens aufrichtete.

»Ach, ich soll wegrennen?«, antwortete Tarun keck. »Du hast wohl Angst vor mir, was? Na, komm doch her und zeig mir, warum ich weglaufen sollte!«

Ob er sich nicht ein bisschen übernommen hat?

Shiva näherte sich langsam. Sie starrte Tarun tief in die Augen. Dann stand sie genau vor ihn und schleuderte mit ihrem Rüssel ein wenig Erdreich in Taruns Richtung. »Du willst dich also mit mir messen, du Insekt?«, schnaubte Shiva kopfschüttelnd. »Ich habe noch nie zuvor einen derart dummen Tiger getroffen. Aber du wirst keine Zeit mehr haben, das zu bereuen. Verabschiede dich von dieser Welt, du kleiner Narr!«

Shiva bäumte sich vor ihm auf, genau wie es Tarun in seinem Traum gesehen hatte. Sie hatte vor, ihm einen kräftigen Tritt zu verpassen. Einen solchen würde kein Tiger überleben. Aber der junge Prinz war ja nicht von schlechten Eltern und hatte längst mitgedacht. Tarun stand nämlich die ganze Zeit auf einem Felsen mit vielen spitzen Steinvorsprüngen. Er brauchte bloß im richtigen Moment zur Seite zu springen und ...

Ja! Sein Plan ging auf. Kurz bevor die kräftigen Beine des Elefanten ihn zertreten konnten, machte Tarun einen Satz zur Seite und Shiva prallte mit voller Wucht mit den empfindlichen Füßen genau auf die spitzen Steine. Diese bohrten sich tief in ihre Fußsohlen. Ein schallender Schmerzschrei ließ daraufhin den Urwald erzittern. Mit wildem Geflatter stoben Dutzende Vögel aus den Baumwipfeln. Einige kleinere Tiere flitzten panisch aus dem Dickicht, nur um kurz darauf wieder darin zu verschwinden, als sie sahen, das die alte Shiva für diese Unruhe gesorgt hat.

Tarun kümmerte sich nicht weiter um den Elefanten. Er rannte schnurstracks zu der jungen Tigerin, die das ganze Szenario aus dem hohen Gras heraus beobachtet hatte.

»Los, schnell! Wir müssen uns beeilen, sonst sind wir verloren«, rief Tarun der zitternden Katze zu und eilte voraus in den Wald zurück, ohne die junge Tigerin genauer betrachtet zu haben. Er wusste, dass er Shivas Hass auf sich gezogen hatte. Sobald die Alte sich von den Schmerzen erholt hatte, würde sie zurückschlagen und dann würde sie sich nicht erneut austricksen lassen.

Der Prinz lief vorn weg, die fremde Tigerin rannte ihm nach, hatte jedoch Mühe, mit ihrem Retter Schritt zu halten. Zu sehr steckten ihr noch der Schrecken und die Angst in den Knochen. Sie atmete schwer und ihre Sicht war verschwommen. Allmählich lichtete sich die Welt um sie herum wieder und sie erkannte die Gegend, in die sie der junge Kater geführt hatte. Daraufhin blieb sie kurz stehen und rief ihrem Lebensretter etwas zu. »Komm hier lang. Ich weiß, wo wir vor ihr sicher sind.«

Die Tigerin wartete nicht auf eine Antwort. Sie bog nach rechts ab und Tarun folgte ihr, ohne ihren Vorschlag zu hinterfragen. Erst jetzt sah er, wen oder besser gesagt, was er gerettet hatte, und Tarun hielt einen Moment lang inne, um wieder klare Gedanken zu fassen.

Er hatte sich nicht geirrt, dass die alte Shiva eine junge Tigerin bedroht hat, wie er anhand ihrer Stimme richtig vermutete. Dennoch sie war keine gewöhnliche Tigerin, wie Tarun sie bisher kannte. Sie sah anders aus. An Stelle von goldbraunem, hatte diese Tigerin blütenweißes Fell. Sie war rein weiß, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze. Nur bei genauem Hinsehen erkannte man die typischen Streifenmuster, die sie eindeutig als Tiger auswiesen. Doch diese waren extrem hell, wie ein verblasstes Beige und lediglich an Teilen des Gesichts und des Schwanzes blassbraun gefärbt.

Nun durchfuhr Tarun ein Beben, welches er noch nie in seinem Leben gespürt hatte. Die fremde Tigerin sah genauso aus, wie die Tigergestalt aus seinem Traum in dieser Nacht! Er konnte seinen Augen nicht trauen, doch er sprach sie nicht darauf an. Er lief ihr einfach weiter nach, wohin auch immer sie ihn führte.

Endlich erreichten die beiden eine Höhle mitten im Wald. Die weiße Tigerin schlüpfte hinein, ohne sich zu vergewissern, ob sie unbewohnt war. Tarun zögerte und sah ihr nach, wie sie in dem Loch verschwand. Ihm umschlich ein sonderbares Kribbeln im ganzen Körper, bei dem Gedanken ihr zu folgen, und er konnte sich nicht erklären, warum. Offenbar war sie sich sicher, dass keine Gefahr dort drin lauerte. Dennoch schien er einen neuerlichen Angriff zu erwarten und streckte seine Krallen aus.

»Los, komm rein! Hier sind wir in Sicherheit«, rief die Tigerin zu ihm heraus und ging tiefer hinein.

Tarun legte die Ohren an und schluckte kräftig. Er setzte sein rechtes Vorderbein vor und wieder zurück und kam dennoch nicht von der Stelle. Sein Schwanz schwang von einer Seite zur anderen und er zuckte zusammen, als er das Flattern eines Vogels über ihm hörte.

Diese Tigerin konnte kaum eine Gefahr für ihn bedeuten. Im Falle eines Kampfes wäre er ihr überlegen. Sie schien etwa in seinem Alter zu sein. Jedoch war sie sehr zierlich und um einiges kleiner als er. »Ich habe ihr das Leben gerettet. Wieso sollte sie mir etwas antun wollen?« Doch Taruns Herz raste weiter wie verrückt und hörte einfach nicht auf, zudem war ihm ein bisschen übel. »Könnte es sein, dass sie ein Geist ist?« Tarun wollte aber auch nicht vor der Höhle stehen bleiben. Die Neugier war eine ebenso starke Kraft wie die Furcht. Und so ging er langsam hinein. Seine Pfoten zitterten leicht und er hatte das Gefühl, nicht mehr zu atmen.

Was war nur mit dem tapferen Krieger passiert, der es eben noch mit der wilden Shiva aufgenommen hatte? Er fand keine Antwort auf diese Frage, so sehr er auch danach suchte. Ob er in dieser Höhle wirklich einem Geist gegenüberstehen wird?

Tarun und der Fluch der NagasWhere stories live. Discover now