[01] Der Plan

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DIE SONNE HATTE ihren Zenit überschritten und die Luft kühlte sich ab. Dennoch lag eine bedrückende Stimmung in der Luft. Die Vögel sangen nur verhalten, was den unheimlichen Eindruck verstärkte.

Tarun, der junge bengalische Tiger streifte einsam durch den dichten Wald. Die Äste und Zweige unter seinen großen und kräftigen Pranken verursachten kaum ein Geräusch, so sicher setzte er einen Schritt nach dem anderen. In seinem Kopf hörte er die mahnenden Worte seines Vaters, die er die ganze Zeit zu verdrängen versuchte.

Sein Vater Devesh war der König des Dschungels oder zumindest diesen Teil des Landes. Allein die Vögel konnten sagen, wie viele Herrscher es gab. Devesh regierte lange Zeit über sein Volk. Doch Alter und zahlreiche gewonnene Kämpfe mit Feinden seines Hauses zeichneten sich bereits in seinem Gesicht ab. Deveshs Weisheit und sein Sinn für Gerechtigkeit und Ehre machten ihn bis weit über die Grenzen seines Reiches bekannt und verhalfen ihm zu Ruhm und hohem Ansehen. Das vermochte ihm sein Sohn, Tarun auch gar nicht abzusprechen. Er achtete seinen Vater, hatte den höchsten Respekt vor ihm und liebte ihn dennoch genauso innig und bedingungslos, wie jeder andere Sohn seinen Vater liebte.

Doch Tarun liebte auch seine Freiheit und Unabhängigkeit. Diese ließ er sich bereits als Halbwüchsiger nicht nehmen. Er hatte in seinem Leben schon viele Abenteuer im Dschungel erlebt, von denen er seiner besorgten Mutter lieber nie etwas erzählen sollte. Sie sprach immer wieder diese uralte Legende an, über die sich sonst nur die Tiere in den abgelegenen Gegenden des Urwalds unterhielten.

Auch Tarun hatte seinen Großvater Rakesh vor dessen Tod vor zwei Jahren des Öfteren etwas in der Art sagen hören. Aber Devesh, sein Vater und König wollte nichts davon wissen und vertraute seinem Sohn und vor allem darauf, dass diese Legende lediglich albernes Geschwätz sei.

Ob er am Ende mehr darüber wusste, als er zugab, konnte Tarun nicht sagen. Doch sendete der König immer wieder die fliegenden Minister aus, das Land gründlich abzusuchen und auch, um den jungen Prinzen unauffällig auf seinen Abenteuern zu überwachen. Tarun sprach seinen Vater aber nie darauf an und meist gelang es ihm, die Minister an den Schnäbeln herumzuführen und ihren wachsamen Blicken zu entkommen.

Erst dann fühlte sich der sonst so wohlbehütete Prinz wirklich frei und auf sich selbst gestellt. Ohne Verpflichtungen und Hofprotokoll.

Doch an diesem Tag war es – so sagte sein Vater – an der Zeit für Tarun, sich Gedanken über die Thronfolge zu machen. Denn er war der rechtmäßige Erbe des Dschungels und König Devesh spürte bereits die ersten Anzeichen des Älterwerdens. Sein ältester Sohn sollte sich ab sofort auf seine königlichen Pflichten vorbereiten und sesshaft werden.

Sesshaft werden? Keine Abenteuer mehr auf eigener Pfote unternehmen? Ein furchtbarer Gedanke für den jungen Rebellen Tarun.

Das Allerschlimmste war für ihn jedoch, dass ein König zum Regieren eine kluge Königin an seiner Seite brauchte. So verlangte es das Protokoll. Keine Gemahlin – keine Krönung. Genau aus diesem Grund streifte Tarun an diesem sonnigen Frühlingstag durch die Weiten des Urwalds. Diesmal war er nicht, wie gewohnt heimlich weggeschlichen. Der König höchstpersönlich hat seinen Sohn hinausgeschickt. Nicht zum Abenteuer erleben, sondern um eine Partnerin zu finden. Denn er würde bald sein viertes Jahr vollenden und damit in den Stand eines erwachsenen Tigers eintreten.

»Partnerin. Was weiß mein Vater schon, was ich will? Ich will ein Leben in Freiheit verbringen und nicht ewig an einen Thron gefesselt sein und über andere Tiere bestimmen. Und eine Partnerin brauche ich nicht! Ich kann mein Leben auch selbst regeln. Das mache ich schon immer so und nie habe ich mir von jemanden etwas sagen lassen.«

Während Tarun laut vor sich hin fluchend durch den Wald tigerte, kam ihm ein Gedanke:

»Mein kleiner Bruder Najuk, der ewige Streber ist ohnehin viel besser für den Thron geeignet als ich. Er tut immer alles, was unsere Eltern für richtig erachten und handelt niemals gegen ihre Wünsche. Najuk würde gewiss auch eine angemessene Tigerin finden, die dem Volk eine gute Königin und ihm eine langweilige Partnerin sein würde. Soll mein Vater ihm alles vererben. Den Thron, die Regierungsgeschäfte. Ich hau ab! Sollen sie von mir aus denken, ich sei im Dschungel verschollen gegangen. Ja, so mach ich's! Das ich nicht früher auf diese Idee gekommen bin? Ich laufe so weit weg, dass niemand mich findet, und dann bin ich frei!«

Fest entschlossen, seinen Plan durchzuführen, rannte Tarun durch den Wald, immer weiter weg von seinem Zuhause.

Unter ihm raschelten die Blätter, welche von den dichtwachsenden Bäumen gefallen waren. Vögel und andere kleinere Tiere sprangen aus den Büschen auf und flüchteten vor der Raubkatze. Tarun rannte und drehte sich nicht um. Er preschte weiter und immer weiter geradeaus und merkte nicht, dass die Sonne begann, hinter dem Horizont zu versinken.

In der Zwischenzeit machte sich seine Mutter bereits Sorgen um ihn:

»Er ist sehr lange fort und es wird gleich dunkel. Wir sollten ihn suchen gehen, mein Gemahl«, sagte Veda zu ihrem Mann, den König.

Dieser versuchte sie zu beruhigen. »Keine Sorge, Veda. Unser Sohn ist nicht zum ersten Mal so lange fort. Erinnerst du dich, als er eine Woche nicht mehr aufgetaucht ist? Er kennt sich aus im Dschungel, besser als ich selbst es tue«, antwortete der König, ging zu seiner Frau, stupste sie zärtlich mit dem Kopf an und legte sich anschließend unter einem Felsvorsprung, der ihm als Schlafplatz diente. »Tarun wird bald wieder da sein und vielleicht eine Partnerin gefunden haben. Wir sollten ihm die Zeit geben, die er braucht. Ein guter König muss die Gefahren des Lebens kennenlernen, um klug regieren und entscheiden zu können.«

Bei all seiner Zuversicht konnte Devesh sich einen sehnsüchtigen Blick Richtung Dschungel dennoch nicht verkneifen. Im Gegensatz zu seiner Frau wusste der große Kater um die geheimnisvolle Prophezeiung. »Los, leg dich schlafen, Liebste. Unser Sohn ist eine Kämpfernatur, so wie ich«, sagte er und wollte seine Gemahlin weiter beruhigen.

»Wenn du das schon so sagst, bekomme ich noch mehr Angst. Du weißt, in welche tollkühnen Abenteuer du dich damals verstrickt hattest, als du ein junger Tiger warst, Devesh«, sagte Veda.

»Ich habe sie alle überlebt und hätte dich sonst nicht kennengelernt, Veda. Immerhin war es mir nicht gestattet, so weit in den Dschungel vorzudringen. Unser Sohn ist viel besser vorbereitet. Also fürchte nicht um ihn«, grinste der alte König zufrieden und schlief bald darauf ein.

Seine Frau aber fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Sie war zu nervös, um sich zu entspannen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht in Ordnung war und das Gefühl einer Mutter irrte sich nie.

Tarun und der Fluch der NagasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt