68 - Noah

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NOAH

Die Menschen, die zu uns hochstarren, sehen nachdenklich aus. Ich wüsste zu gerne, was in ihren Köpfen vorgeht – vermutlich auch, um mich von dem grässlichen Kloß in meinem Hals abzulenken. Kaum hat Palma zu reden begonnen, muss ich an meinen Opa denken. Es ist verrückt, dass einen der Tod eines geliebten Menschen immer wieder einholen kann, auch wenn man denkt, das alles seit Jahren überwunden zu haben.

Ich weiß noch genau, wie ich vor dem Grab meines Opas stand und dabei zugesehen habe, wie sie seinen Sarg hinunterließen. Maya konnte nicht dabei sein, doch ich war mit meiner gesamten Familie dort und obwohl Clem meine Hand gehalten hat, hat es sich mit einem Mal angefühlt, als wäre ich der einzige Mensch auf diesem Planeten. Absolut allein.

Endlich ist Palma fertig und ich bekomme wieder etwas mehr Luft, aber das Gefühl hält an. Stehe ich tatsächlich gerade umringt von anderen Menschen auf dieser Bühne?

Als mein Blick den von Miss O'Hara trifft, fange ich mich wieder etwas. Sie lächelt mir aufmunternd aus der dritten Reihe zu. Vielleicht glaubt sie ja, ich sei einfach nur nervös. Aber von Nervosität kann keine Rede sein.

Während ich meinen Gedanken nachhänge und die komische Leere in mir definieren möchte, macht Ace einen Schritt nach vorne und beginnt zu sprechen.

Welten der Traurigkeit halten mich gefangen, während alle andern Emotionen der Vergangenheit gelten. Doch sie sind nicht ganz vergangen, sie wollen doch nur, dass ich das glaube; ich wurde hintergangen; unumgänglich ist, dass deine Sommersprossen mich heute ganz leicht machen, mich fliegen lassen.

Er ist schneller als alle vor ihm, will die Worte loswerden, damit sein Auftritt so bald wie möglich vorbei ist. Doch als ihm das übertriebene Tempo bewusst wird, bremst er sich ein wenig.

Ich glaub', ich schwebe, kann es gar nicht richtig fassen. Will den Moment einfangen, baue einen Zaun aus meinen Illusionen und hoffe, dass der Wind sich dreht, um mir zu zeigen, wohin wir eigentlich gehen. Denn wir sind nicht Vergangenheit - was mich jetzt vorantreibt, ist die Zukunft, die mir zuruft, dass zusammen alles leichter geht. Drum nehm' ich die Beine in die Hand und gewinne dieses verdammte Mensch-ärgere-dich-nicht. Meine Figur mag schwarz sein, aber sie ist nicht allein. Ich bin nicht der einzige verdammte Mensch, denn deine Sommersprossen sind ein Zeichen der Sonne, zeichnen Blumen in die Dunkelheit, zeigen Zusammenhalt statt Einsamkeit, zeugen von Vertrauen zwischen Ehebruch und Treulosigkeit. 

Kann schon sein, dass meine Flügel morgen brechen und sie meine Krallen stutzen, aber Fliegen geht auch ohne. Im Grunde brauch' ich doch nur Rot und ein paar weiße Punkte. Weiß' im Grunde aber gar nicht, was das heißt. Am Grund des schwarzen Ozeans verliert man den Überblick leicht."

Bei den letzten zwei Sätzen scheint es überhaupt so, als würde er mit jedem Wort langsamer und ruhiger werden. Ich bin ganz baff, weiß noch gar nicht, was er da gerade alles von sich gegeben hat, als Nimy auch schon dazu ansetzt, den Mund zu öffnen. Ihre Stimme klingt weich und ich bilde mir ein, der Duft ihres süßen Parfums würde mir in die Nase steigen. Es riecht nach Karamell.

Du sagst, jetzt schauen alle auf dich herab, aber ich werde immer zu dir aufblicken. Bist immerhin ein Blickfang, an dem jeder gerne hängen bleibt. Sei es auch nur, um dich mit einer großen Knuddelumarmung zu erdrücken, bis der Druck des Universums nachlässt." Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass Nimy grinst, obwohl ich nur ihren Hinterkopf sehen kann. Das Grinsen scheint lauter durch die Halle zu dringen als alles andere. „Ich weiß, du willst das alles gar nicht hören, aber bitte, lass dir sagen, dass die Welt keine Scheibe ist und auch wenn du mal traurig bist, du immer wieder an den Punkt des Glücks zurückkehren kannst. Denn am Ende des Tages wird dem Menschen bewusst, dass er sich eh nur im Kreis dreht, und dann ist es zu spät zu sagen, Morgen fängt mein neues Leben an. Denn das morgen von gestern ist bereits heute. Also hör auf zu träumen und sei endlich ein Mann. Fangen und Verstecken ist immerhin vorbei – wir sind ja keine Kinder mehr, aber hey, wenn du mal wieder eine Geburtstagsparty schmeißt, dann ruf mich an. Hab' ewig nicht mehr auf einer Hüpfburg meinen Kopf ausrauchen lassen und all die Feuer des Lebens zu Asche werden sehen. Sehen wir also zu, dass wir wieder dort angelangen, wo wir am Anfang standen, immerhin geht unser Kreis ja weiter. Aus der Asche steigt ein Phönix empor, während du – mein einzig wahrer Held – die Dämonen bekämpfst, die uns nachts nicht schlafen lassen. Also hör auf dich zu drehen, hör auf zu warten, fang an zu sehen und fang an zu machen."

Dank Nimys Vortrag fühlt es sich an, als könnte das ganze Publikum endlich wieder aufatmen – ich inklusive. Als Palma fertig war, hätte man meinen können, dass unsere Truppe sie alle zum Weinen bringen will, aber Nimy hat das Ganze wieder in andere, weniger deprimierende Bahnen gelenkt. Generell bekommen wir mittlerweile viel mehr Aufmerksamkeit als am Anfang. Schulklassen wurden von ihren Lehrern zum Zuhören verdonnert und einige Zuschauer scheinen sogar interessiert in unsere Richtung zu starren. Sofort tut es mir für Maya leid. Wir hätten die Reihenfolge doch anders festlegen sollen.

Als ich begreife, dass ich als nächstes dran bin, fühlt es sich an, als würde mir all mein Blut in den Kopf schießen. Aber irgendwie nehme ich meinen Mut zusammen und trete vor. Gedanklich spreche ich den Anfang durch, dabei habe ich ihn so oft geübt, dass ich meinen gesamten Beitrag wohl im Schlaf aufsagen könnte. Ich atme tief ein, atme aus und zucke zusammen, da man das Geräusch bereits vom Mikrofon verstärkt im ganzen Raum hört. Los jetzt.

Glaub mir, ich wär' so gern ein Held – einer, der die Welt zusammenhält. Doch ich bin kein Spinnenmensch mit Netz, bin nicht zuerst, viel mehr zuletzt, an dem Ort, an dem ich sein sollte, um sie alle zu retten. Kann nur dabei zusehen, wie sie einer nach dem anderen verblassen und verpasse den großen Knall am Ende doch. Doch knallhart kämpf' ich mich wieder auf die Füße, sage mir selbst, dass man sie mir eines Tages noch küssen wird, wenn sie alle in meiner Schuld stehen und wenn sie alle ihr verdammtes Happy End haben und wenn sie alle bis zum Ende ihrer Tage die Tage zählen, an denen sie denken, dass das Glück sie verlassen hat. Du sagst, man kann sie nicht alle retten. Will dir das Gegenteil beweisen, will mir diese riesengroße Last an die Füße ketten, denn selbst wenn sie mich hinunter zieht, versuchen muss ich es.

Muss versuchen, es sein zu lassen. Muss versuchen, den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Denn die Ketten werden enger, schnüren mir die Kehle ab. Muss mich beinahe übergeben wegen all der Spinnweben, die in mir drin leben. Peter Parker wär' wohl doch ein bisschen stolz auf mich. Seh' in den Spiegel, doch erkennen kann ich nichts. Da ist kein Held und auch kein Engel – bin höchstens ein kleiner Bengel, der sich vormacht, er könnte was verändern."

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- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now