22 - Dex

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DEX

Vollkommen verblüfft schaue ich Clem an oder zumindest das, was ich von ihr sehe. Ihren schmalen Rücken, die unverwechselbaren roten Haare und ihre Gestik, während sie Maya für ihr Gedicht lobt. Träume ich? Ist das wirklich Clementine?

„Nicht zu glauben“, flüstert Phil neben mir und mit großen Augen sehen wir uns.

„Ich träume nicht, oder?“, frage ich ihn und kann nicht aufhören, meinen Kopf zu schütteln. „Das ist wirklich Clem, oder? Und sie ist nett.“

Phil nickt mit offenem Mund und so sehen wir uns einen Moment lang an. Hypnotisiert von diesem kleinen, rothaarigen Menschen vor uns, der uns einmal mehr bewiesen hat, ihn bloß nicht zu unterschätzen.

„Man denkt, man kennt einander. Aber eigentlich kennt man sich überhaupt nicht“, murmele ich und sehe, wie Phils Augen sich zusammenziehen, um ein Lachen zu unterdrücken.

„Bist du jetzt der neue Buddha und philosophierst über dein Leben oder wie.“ Er bemüht sich so sehr, nicht laut loszulachen, dass er fast kein anständiges Wort mehr herausbekommt. Ace, der sich neben uns in die Reihe gesetzt hat und nur stumm geradeaus schaut, zuckt kurz zusammen und wirft uns einen erschrockenen Blick zu. Komischer Kerl.

Aber auch ich bin ein wenig überrascht, was ich mir jedoch nicht anmerken lasse, um diesen Augenblick nicht zu zerstören. Für einen Moment ist es zwischen uns wie früher, wir sind die gleichen alten Kumpel, die die gleichen alten Witze reißen. Wie sehr habe ich es in den letzten drei Monaten vermisst, mit Phil so lachen zu können.

„Natürlich, du kennst mich doch. Immer spirituell unterwegs.“

Miss O’Hara beendet den Unterricht und Phil und ich packen in Ruhe unsere Sachen zusammen. Wir haben uns angewöhnt, den Raum immer erst dann zu verlassen, wenn alle anderen schon gegangen sind. So bekommen wir auch mit, wie Clem Ace wütend etwas hinterher brüllt und müssen leicht schmunzeln. Also ist sie doch noch dieselbe.

Irgendwie freut mich das, auch wenn ich nicht genau sagen kann, wieso. Es wäre gelogen, würde ich sagen, mir fehlen unsere Beleidigungen nicht. Ich vermisse es sogar irgendwie, mich mit irgendjemandem messen zu können und überschüssige Energie loszuwerden. Genauso wie ich es vermisse, keine Mädchen mehr abzuschleppen oder gar zu flirten. Mein Leben ist komplett anders seit einigen Monaten und ich denke, das von uns allen hat sich gewaltig verändert.

Ein gutes Beispiel dafür ist Palma, die mit Phil schon an der Cafeteria steht und ihm leicht durch die Haare wuschelt. Ich weiß genau, dass er nur so tut, als würde er das nicht mögen, denn in Wahrheit sehnt sich Phil genau danach. Nach Zuneigung und Liebe, obwohl er das niemals zugeben würde. Und genau deswegen bin ich auch nicht mehr der alte Dex, der alle paar Tage mit einer anderen Sex hat und sich über jeden lustig macht. Phil braucht mich jetzt und ich werde den Teufel tun und ihn verletzen, indem ich alten Gewohnheiten nachgehe.

Ein Mensch kann sich ändern. Man kann sich ändern.

Ich kann mich ändern, wenn ich es nur wirklich ernsthaft versuche. Und um mehr Augenblicke mit dem glücklichen Phil verbringen zu können, ist es mir alles auf der Welt wert. Fast schon kann ich seine Stimme hören, wie er mich auslacht und fragt, was nur mit mir passiert sei, dass ich so schnulzige Gedanken habe statt irgendwelche Bettgeschichten zum Besten zu geben. Und er hat ja recht, das ist zu schnulzig für mich.

Schnell mache ich mich auf den Weg zu Palma und Phil, um mir nicht eingestehen zu müssen, nun doch so ein Gefühlsmensch geworden zu sein, auf den ich früher so herabgeschaut habe.

„Danke, dass ihr gewartet habt“, meine ich und grinse verlegen. Es ist wirklich interessant, was man alles über sich selbst herausfindet, wenn man einmal anders ist als sonst. Dass ich so poetische Gedanken haben kann, ist mir noch nie aufgefallen. Ist Clem deswegen heute so freundlich gewesen, weil sie auch andere Seiten von sich selbst entdecken wollte?

„Es war schön, dich einmal in Gedanken versunken zu sehen. Das kennt man gar nicht von dir“, lacht Palma mich an und wie Phil kann ich einfach nicht anders, als zu grinsen. Palma ist schon ein echter Gewinn für unser Duo, das nun seit drei Monaten ein Trio ist. Manchmal fühle ich mich immer noch, als wäre ich in einem Paralleluniversum, wenn mir bewusst wird, dass ich mittlerweile wirklich mit Palma befreundet bin und sie Witze reißen kann wie kein anderer. Ich meine, wieso erkennt man immer erst so viel später, wie jemand wirklich ist? Stop. Genug Poesie für einen Tag.

Mit Phil in unserer Mitte betreten wir die Cafeteria und ich lasse meinen Blick schweifen auf der Suche nach einem geeigneten Platz. Kurz bleibt er bei Clem hängen, die mich irgendwie traurig anschaut und sich dann schnell abwendet, als wäre es ihr peinlich, gestarrt zu haben. Ob ihr unsere Sticheleien wohl auch fehlen?

„Du musst sie nicht für immer ignorieren, Dexter“, meint Palma leise, der natürlich sofort mein Blickwechsel mit Clem aufgefallen ist. Sie ist die Einzige, die mich jedes Mal Dexter nennt. Vielleicht, weil sie auch die Einzige ist, die erkannt hat, dass Dex einfach nicht mehr zu mir passt.

„Ich ignoriere sie doch gar nicht. Was habt ihr denn beide? “ Phil hat erst gestern etwas Ähnliches zu mir gesagt und sitzt nun mit den Händen im Schoß und einem selbstgefälligen Grinsen da. Egal, wie sehr ich mich über ihre Behauptungen ärgere, bei diesem Bild geht mir einfach das Herz auf. Heute ist wohl wirklich ein guter Tag. Und es hat nicht mehr viele gute Tage gegeben seit dem verhängnisvollen Unfall.

„Werd’ bloß nicht melancholisch“, weist Phil mich zurecht, weil er meinen Stimmungswechsel wahrgenommen hat. Seine Stimme klingt warnend und zittert ein wenig und das Lächeln aus seinem Gesicht ist verschwunden. Um diesen Moment wieder gutzumachen, seufze ich und setze mich neben ihn auf den Stuhl, während Palma losgeht und etwas zu essen besorgt. Sie überlässt uns unsere kleine-Jungs-Zeit, wie sie das immer neckisch nennt, um dem Ganzen ein wenig die Ernsthaftigkeit zu nehmen, die diesen Gesprächen oft anhaftet. Wobei es bei ihr auf Französisch viel schöner klingt.

„Ich vermisse es, mit Clem zu streiten.“ Ich spreche das Erste aus, das mir durch den Kopf geht und schaue Phil geschockt an, nachdem ich begriffen habe, was ich da eigentlich genau gesagt habe. Doch er lacht nicht, sondern nickt nur und ein leichtes Lächeln schleicht sich wieder auf sein Gesicht, genau wie ich es beabsichtigt hatte.

„Dann steh auf, schnapp sie dir und wirf ihr all deine Schimpfwörter an den Kopf. Ich glaube, sie muss auch mal wieder Dampf ablassen, so wie sie Ace vorhin angeschrien hat.“ Ich lache laut in der Erinnerung daran und bin unheimlich erleichtert, dass ich Phil davon abhalten konnte, wieder in seine Welt der dunklen Gedanken abzutauchen. Einfach nur, indem ich ehrlich zu ihm gewesen bin und ihm andere Sorgen vor die Nase gelegt habe als seine eigenen.

Ich glaube, Phil und ich haben noch nie so viel über Gefühle geredet wie in den letzten paar Monaten. Wir haben uns beide verändert und darauffolgend natürlich auch unsere Freundschaft, aber sie ist nicht weniger geworden. Eher inniger und ernster. Und auch, wenn mir das gefällt, fehlen mir doch die alten Zeiten, in denen wir einfach nur herumgealbert haben.

Doch ich muss daran glauben, dass auch etwas Neues Gutes mit sich bringen kann. Ich muss daran glauben, dass ich mich ändern kann und der Dex sein kann, den Phil jetzt gerade am meisten braucht. Dafür gebe ich alles auf, was mir davor etwas bedeutet hat. Alles bis auf das Rauchen, das kann ich mir einfach nicht mehr abgewöhnen. Mit irgendetwas muss ich mich ja dafür bestrafen, dass ich meine Mutter ganz alleine gegen ihren Krebs habe kämpfen lassen.

Der Rauch und der Geschmack von Nikotin auf meiner Zunge erinnert mich jeden Tag daran, diesen gleichen, verhängnisvollen Fehler nie wieder zu wiederholen. Ich werde nicht weglaufen, egal, wie schwer es wird. Ich bleibe, Phil.

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Und? Wisst ihr schon, was passiert ist? ;)
(unserer Meinung nach ist es nicht besonders schwer zu erraten xD)

Aber jetzt zu etwas ein bisschen anderem:

ALLES GUTE an den wundervollen, herzigen Sonnenblumenmenschen, der mit mir an diesem Werk schreibt!

liljaxxx - Ich bin wahnsinnig froh, dich hier gefunden zu haben :D und ich muss einfach DANKE sagen. Für deine Freundschaft (und alles andere) ❤🌻🍅
LG. Deine Paradeiser

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now