11 - Eleanor

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ELEANOR

Als Palma und ich die Mädchentoiletten verließen, kam es mir vor, als würde ich ein Portal in eine andere Dimension durchschreiten. Das, was da drinnen eben existiert hatte, diese Vertrautheit zwischen uns, wurde sofort von meiner Panik verdrängt. Erst jetzt wurde mir so richtig klar, wie viel Aufmerksamkeit ich auf uns gelenkt hatte, indem ich meine Hand gehoben hatte. Als wären plötzlich alle Lichter ausgegangen und ein einziger Scheinwerfer hätte sich auf uns gerichtet.

Den kurzen Weg zurück zum Klassenzimmer legte ich mit gefährlich hohem Puls zurück und ich traute mich nicht einmal, Palma aus dem Augenwinkel zu beobachten, während sie neben mir ging. Wieso machte sie mich in diesem Moment nur noch nervöser? Zu meiner Erleichterung wurde die Pause eingeläutet, bevor wir zurück auf die „Bühne“ mussten, wo uns alle anderen anstarren würden. Die Last fiel von mir ab, wurde davongetragen wie ein welkes Blatt im Wind und am liebsten hätte ich Palma nochmal umarmt, vor so viel  Glück.

Als sie die Tür zum Klassenraum aufzog, trafen sich unsere Blicke und sie lächelte mich an. Ich wollte nur schnell mein Zeug holen und dann die Mittagspause in Ruhe und Frieden verbringen. Doch ausgerechnet der zu allen so nette Noah wollte meinen Plan auf den Haufen werfen.

„Hey“, sagte er ruhig. Ich stopfte achtlos ein paar Stifte in meine Federschachtel und griff nach meinen Büchern, ohne aufzusehen.

„Hm?“, machte ich leise und sah ihn dann dennoch an. Alles andere wäre doch zu unhöflich gewesen. Es war merkwürdig, dass ich auf Noah herabsah. Ich war nicht außergewöhnlich groß, aber er nun mal recht klein.

Er rückte seine Brille zurecht und fragte dann: „Willst du dich in der Cafeteria zu Maya und mir setzen?“ Ich sah ihm an, dass er neugierig war. Wieso wäre er sonst ausgerechnet heute mit so einem Angebot gekommen? Genau genommen schuldete ich ihm inzwischen zwei Erklärungen. Nummer eins für die Umkleiden, Nummer zwei für meine Aktion mit Palma.

„Ich sollte noch was in der Bibliothek erledigen“, log ich beinahe automatisch. Meine Stimme klang nicht einmal so piepsig wie sonst, wenn ich mir eine Ausrede einfallen ließ.

„Oh, okay, klar.“ Noah nickte verständnisvoll und lächelte, ehe sein Blick zu Maya wanderte, die schon bei der Tür stand. „Tja dann... Vielleicht ja morgen.“

„Ja, vielleicht.“

Ich hatte keine Lust auf gezwungenen Smalltalk beim Essen und eigentlich schuldete ich Noah gar nichts. Mein kleiner Nervenzusammenbruch vorhin ging ihn nichts an, immerhin hatte ihn auch nicht um seine Gesellschaft gebeten oder so.

Zumindest redete ich mir all das ein, um mein schlechtes Gewissen zu übertönen.

Endlich mit meinem Literaturkram beladen ging ich letztendlich wirklich in die Bibliothek. Ich verbrachte gerne Zeit hier. Es war ruhig und eine Menge Bücher warteten darauf, entdeckt zu werden – viel mehr brauchte ich nicht. Ich holte einen Apfel aus meinem Rucksack und zückte mein Handy. Diesmal nahm ich mir vor, die Fassung zu bewahren, als ich auf das kleine Nachrichtensymbol am Display tippte.

Sie hat Ja gesagt! Wir werden heiraten!

Da stand es. Immer noch weiß auf blau. Mit einem Knoten im Magen schrieb ich Toll, löschte es dann aber wieder, ohne es abzuschicken. Was hatte sich mein Vater dabei gedacht, mir einfach nur eine SMS zu schreiben?

Als meine Mutter erfuhr, dass sie mit mir schwanger war, ließ mein Vater sie sitzen. Er meinte, er wäre nicht in der Lage, ein Kind großzuziehen und eine Familie zu gründen, war für ihn unvorstellbar. Also gab es, seit ich denken konnte, nur meine Mum und mich. Sie war meine beste Freundin, der Mensch, bei dem ich ganz ich sein konnte, ohne mir Gedanken darüber zu machen, verurteilt zu werden. Kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag suchte mein Vater dann doch irgendwie den Kontakt zu mir, sodass wir mittlerweile vereinbart hatten, dass ich jedes dritte Wochenende bei ihm verbrachte. Ein paar Monate nach unserer Annäherung – oder dem Beginn der anstrengendsten Wochenenden meines Lebens – fand er eine neue Freundin, Sara. Lange Rede, kurzer Sinn: Sara würde im kommenden Februar meinen Halbbruder zur Welt bringen.

Und anscheinend hatte mein Vater sich heute mit ihr verlobt.

Wieso ich geweint hatte, konnte ich nicht einmal richtig in Worte fassen. Wahrscheinlich, weil ich mir vorstellte, wie meine Mutter reagieren würde, wenn sie davon erfuhr. Sie würde versuchen zu lächeln, aber ihre Augen würden leer bleiben. Sie würde versuchen, ihren Schmerz zu verstecken, aber ich würde ihn dennoch sehen. Ich konnte ihn immer sehen.

Ich wurde aus meinen Erinnerungen gerissen, als Clem hinter einem Bücherregal hervorstürmte und ihren Blick zielstrebig über die vielen Titel schweifen ließ. „Aha!“, rief sie aus und ich zuckte bei dem ungewohnt lauten Geräusch zusammen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich soweit sie konnte, aber irgendwie hatte sie immer noch Probleme, das Buch zu erreichen, das sie haben wollte. Auf einmal drehte sie sich um und sah mich an. Sie wirkte nicht überrascht – hatte sie mich also schon die ganze Zeit wahrgenommen? Wusste sie, dass ich sie beobachtet hatte? Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Du machst dir zu viele Gedanken, El, sagte meine Mutter immer. Gott, wie sie recht hatte.

„Hilfst du mir mal?“, kam es schließlich von Clementine. „Meine verdammten Eltern haben mir eindeutig nicht die richtigen Gene gegeben.“

Ich nickte nur zurückhaltend, stand auf und nahm das Buch herunter. A Long Way Down stand darauf.

„Danke. Ich versteh echt nicht, wieso sie das Scheiß-Buch da ganz oben verstecken müssen.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch die dunkelroten Haare und schnaubte. „Sag mal. Was war das vorhin eigentlich bei Miss O’Hara?“

Braune Augen durchbohrten mich. Stand ich jetzt in Flammen? Nein. Vermutlich nicht. Leider. Dann hätte ich immerhin einen Grund gehabt, schreiend wegzurennen. Aber so musste ich mich den neugierigen Fragen stellen. War es wirklich so besonders, dass ich mich zu Wort gemeldet hatte?

„Also...“, murmelte ich. „Palma ging’s nicht so gut.“

„Ja, das dachte ich mir. Sie sah nachher, als ihr zurückgekommen seid, auch noch ziemlich beschissen aus. Ihre Augen waren ziemlich rot. Entweder ihr habt gekifft oder geheult. Nimy hat aufs Weinen gewettet, aber ich bin auf der Gras-Seite.“ Ich hatte keine Ahnung, dass sie so viel plappern konnte. Und womit ich noch weniger gerechnet hätte, war, dass sie mich aufrichtig anlächelte. Clem machte eigentlich den Eindruck, als wäre sie immer auf Streitereien aus. Obwohl sie so klein war, war sie sehr angriffslustig – zumindest wenn man beobachtete, wie sie mit Maya und Dex umging.

„Tut mir leid, wir haben nichts geraucht“, erklärte ich und klang sogar selbst etwas enttäuscht.

„Schade. Naja, dann schulde ich Nimy jetzt wohl einen Muffin.“ Sie bog das Buch in ihrer Hand und fuhr mit dem Finger über die Seiten, als wäre es ein Daumenkino. „Und dich lass ich jetzt besser in Ruhe. Ich hab ja jetzt, was ich wollte.“

Ohne noch ein Wort, drehte sie sich um und ging. War sie nur so nett gewesen, weil sie hören wollte, was mit Palma los war? Theoretisch hatte ich nicht zugegeben, dass sie geweint hatte, aber Clem hatte meine Antwort bestimmt gereicht, um diese Schlussfolgerung zu ziehen. Ob Palma sauer werden würde, wenn sie das erfuhr? Ich hatte wenigstens nichts über den Grund verraten. Als ich daran dachte, was Palma über ihre Mutter erzählt hatte, bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Ich hatte noch beide Elternteile – was gab mir also das Recht, mich über die Verlobung meines Vaters zu beschweren?

Verdammt. Du machst dir zu viele Gedanken, El.

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Eleanor und Clem - eine ziemlich gegensätzliche Kombination :D
In wem findet ihr euch selbst eher wieder?

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now