60 - Dex

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DEX

Es dauert gefühlt einige Jahrzehnte, bis Phil und ich schließlich im Bett liegen. Im Nachhinein verfluche ich mich dafür, Palma so früh weggeschickt zu haben. Zu zweit wäre vieles einfacher gewesen. Aber sie sah so fertig und niedergeschlagen aus, dass ich es nicht mehr mitansehen konnte.

Unsere Rettungsaktion ist nicht halb so gelungen gewesen, wie wir dachten, dass sie es wäre. Phil weigerte sich zunächst, mit uns zu kommen. Er beharrte darauf, dass die ganze Welt ihn hassen würde und er nur ein verdammter Krüppel wäre, der ruhig in der Ecke verrotten könnte. Ohne sein Bein wäre er ein Nichts, ein Niemand, und wir sollten uns gefälligst verpissen und ihn in Ruhe lassen.

Palma, die bekanntlich mit allem und jedem umgehen kann und immer die richtigen Worte findet, standen die Tränen in den Augen und die komplette Rückfahrt hat keiner von uns auch nur ein Wort gesprochen. Auch jetzt noch spüre ich die Wucht von Phils Worten, höre ihren Klang in mir widerhallen. Kein Mensch möchte von seinem besten Freund hören, dass er es leid ist, am Leben zu sein, und dass er so gut wie jeden Menschen hasst. Sich selbst an erster Stelle.

Erst heute habe ich begriffen, wie schlecht es Phil wirklich geht. Wie sehr er sich für all’ das hast, was er nicht mehr ist, nicht mehr sein kann. Er hat nicht nur die Hälfte seines Beines verloren, sondern auch sich selbst. Für mich ist es immer nur sein Bein gewesen, das ihm fehlt. Ich habe nicht verstanden, wie sich mein lebensfröhlicher Kumpel in einen depressiven Trauerkloß verwandeln konnte, aber ich habe ja auch noch beide Beine und kann das somit nicht so gut nachvollziehen. Was aber selbst ich nun verstanden habe, ist, dass ich Phil wieder aufpäppeln muss. Er muss wieder auf die Beine kommen, denn auch auf einem Bein kann man stehen. Ich kann ihm die Stütze sein, die sein anderes Bein ersetzt, aber erst einmal muss er selbst einsehen, dass das Leben es immer noch wert ist, angesehen zu werden.

Der Gedanke, dass diese Aktion eine scheiß Idee war, ist mir schon einige Male gekommen. Wenn ich ehrlich bin, wäre ich in jenem Moment in Phils Haus, als er alles zusammengeschrien hat, am liebsten umgekehrt und hätte ihn dort gelassen. Ich verurteile mich selbst dafür, dass ich so fühle, aber sobald Phil dabei ist, wird alles einfach so verdammt kompliziert. Trotzdem weiß ich mittlerweile, dass es das einzig Richtige war. Als ich Phil vorhin in unser Zimmer geschoben habe, war es das erste Mal, dass ich ihn schieben durfte. Normalerweise möchte er immer alles selbst machen, möchte keinen Behindertenbonus, wie er es nennt. Und ja, vielleicht war er heute einfach zu müde, um sich selbst in seinem Rollstuhl zu bewegen, aber das ist mir egal. Ich durfte ihm bei etwas helfen und allein das ist ein Fortschritt.

Meine Befürchtungen, ich müsse ihm helfen, aufs Klo zu gehen, haben sich rasch in Luft aufgelöst. „Pinkeln kann ich schon noch alleine“, meinte Phil mit einem leichten Grinsen im Gesicht, als ich unschlüssig vor der Toilettentür stehenblieb. Im Gegensatz zu sonst schwang auch kein Hauch von Bitterkeit in seiner Stimme mit, er nahm es mit Humor. Und dieser Satz, dieses Aufblitzen des alten Phils hat mir gezeigt, dass es richtig war, ihn zu holen. Er will vielleicht nicht, dass wir ihm helfen, aber manche Menschen muss man zu ihrem Glück zwingen. Wenn es jemanden gibt, der das Glück verdient, dann ist es Phil.

Ich verdiene zunächst nur eine gehörige Portion Schlaf, doch dieser Wunsch wird mir nicht erfüllt. Mittlerweile ist es halb sieben und ich habe kein Auge zugetan, obwohl ich nichts lieber tun würde, als in einen wohligen Schlaf zu fallen und von Tausenden von Schäfchen zu träumen. Einen Moment stelle ich mir vor, wie Phil jetzt unwillkürlich im Traum „mä-ä-ä-h“ macht, und kann mir ein leises Lachen nicht verkneifen. Alles Herumgewälze bringt ja doch nichts, also schlüpfe ich schlussendlich seufzend in meine Adiletten und schleiche leise aus dem Zimmer, um Phil nicht zu wecken.

Obwohl es bereits März ist, scheint die Welt außerhalb der Pension immer noch grau und düster zu sein. Ich öffne eines der Fenster im Flur und strecke meinen Kopf in die kühle Morgenluft. Mich überkommt das Verlangen, laufen zu gehen. So schnell zu rennen, dass die ganzen Gedanken aus meinem Kopf verschwinden und ich nichts mehr wahrnehme außer meinen keuchenden Atem. Ich bin schon das halbe Treppenhaus hinuntergesprungen, als ich beinahe in jemanden hineinlaufe.

„Dex? Wieso bist du bereits wach?“, fragt mich eine Miss O’Hara im kleinen Schwarzen, die genauso durchzecht aussieht wie ich mich fühle.

Ich mache eine vage Handbewegung, die als Antwort ausreicht. Miss O’Hara weist mir an, ihr zu folgen, und nebeneinander gehen wir nun die letzten Treppenstufen hinunter in Richtung des Aufenthaltsraums, wo sie uns beiden einen Kaffee holt und sich dann zu mir an einen der Tische setzt.

„Wie ist es gelaufen?“

Ich zucke mit den Schultern und verbrenne mir die Zunge, als ich einen großen Schluck aus der Tasse nehme.

„Zunächst wollte er nicht mit, aber seine Mutter hat ihn angewiesen, mit uns ins Auto zu steigen. Palma und ich wussten beide nicht, was wir sagen können und was nicht, also haben wir die ganze Autofahrt geschwiegen. Aber immerhin waren unsere Hintern schön warm“, versuche ich zu witzeln und ernte ein schwaches Lächeln von meiner Lehrerin.

„Und so war es doch viel besser, als wenn ihr ein Auto geklaut hättet. Hattet ihr das eigentlich wirklich vor?“ Miss O’Haras Augen funkeln amüsiert, obgleich die Augenringe darunter deutlich erkennbar sind. Für einen kurzen Moment frage ich mich, was sie wohl die ganze Nacht gemacht hat, wo und bei wem sie war, wenn sie jetzt erst wiederkommt, und was sie wohl unter ihrem Kleid anhat, aber der Gedanke geht so schnell, wie er gekommen ist. Stattdessen taucht ein Bild von Clem in meinem Kopf auf, die nur mit Unterwäsche bekleidet durch mein Zimmer stolziert und mich lasziv angrinst, sodass es mit einem Mal sehr eng in meiner Hose wird.

„Dex? Wovon träumst du denn gerade?“

„Von Ihnen in geklauten Autos“, meine ich reflexartig und bin wieder einmal über meine Schlagfertigkeit froh, die auch dann noch zu funktionieren scheint, wenn mein Gehirn einen Aussetzer hat. Miss O’Hara lacht und hebt ihre Tasse, als wolle sie mit mir anstoßen.

„Es ist schön, dass ihr das für Phil gemacht habt. Auch wenn ich wirklich nicht wissen will, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn ich euch nicht auf dem Parkplatz vor dem Literaturgebäude gesehen hätte. Aber ihr hattet ja nur gute Absichten.“

Zustimmend nicke ich und hebe ebenfalls meine Tasse. „Genau das habe ich zu Palma auch gesagt. Wir tun es für Phil. Für ihn darf man Autos klauen.“

Miss O’Haras Blick sagt mir, dass es jetzt wirklich genug ist, aber trotzdem stößt sie mit mir an. Wir trinken unseren Kaffee in einem Zug aus und sehen uns an.

„Ich hätte das Auto aber gerne zurück, ist das klar? Und noch einmal macht ihr mir das nicht. Einmal und nie wieder, sonst muss ich das dem Direktor melden. Ihr könnt sowieso froh sein, dass wir keine zweite Aufsichtsperson dabei haben und ich ein zu toleranter Mensch bin, sonst würdet ihr jetzt schon wieder im Zug nach Hause sitzen.“

Ich schenke ihr ein breites Grinsen und salutiere. „Aye aye, Ma’am.“

Mit einem Mal sieht sie unfassbar müde aus und ich merke, dass es Zeit ist, zu gehen. Man unterhält sich nicht in den frühen Morgenstunden mit seiner Lehrerin im knappen Kleidchen, schon gar nicht, wenn man einen ein Meter sechzig Pumuckl geküsst hat. „Ich bin dann mal ‘ne Runde laufen“, meine ich und bin schon fast aus der Tür, als sie mir hinterherruft, ich solle nicht zu lange weg sein. Diese Aussage verdränge ich jedoch gewissenhaft in die hinterste Ecke meines Kopfes und mache mich stattdessen daran, die ganzen Gefühle, die in mir herumschwirren und mich noch wahnsinnig werden lassen, in den Asphalt unter meinen Füßen abzutreten. Je schneller ich laufe, desto weniger fühle und denke ich. Je schneller ich laufe, desto freier bin ich.

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- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now