21 - Clem

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CLEM

Heute bin ich nett. Denn wenn es eines gibt, das mir wirklich Spaß macht, dann ist es, unberechenbar zu sein. Und wer kann schon vorhersehen, wie ich mich verhalte, wenn ich mich ständig verändere? Okay, es gelingt mir so gut wie nie, denn am Ende besiegt mein Temperament fast jedes Mal die Gelassenheit oder Freundlichkeit, die ich eigentlich besitzen will.

Trotzdem will ich ihnen allen beweisen, dass ich mehr sein kann. Ein besserer Mensch.

Also melde ich mich, ohne die Hand zu heben und sage: „Wow. Das ist wirklich schön, Maya.“

Misstrauisch beäugt der braunhaarige Engel mich. Wieso sieht sie immer so perfekt aus? Viel zu perfekt. Und die Worte ihres Gedichts klingen mir eigentlich zu sehr nach schöne-heile-Welt. Glaubt sie tatsächlich daran, dass am Ende alles gut wird?

„Danke“, antwortet sie zögernd. Wahrscheinlich erwartet sie, dass ich jeden Moment zu lachen beginne und zugebe, dass ich sie verarscht habe.

Aber das werde ich nicht tun. Heute bin ich nett.

„Will sonst noch jemand etwas zu Mayas Gedicht sagen? Wir können gerne detaillierter auf deine Wortwahl eingehen. Schön ist nicht gerade präzise.“ Miss O’Hara mustert mich belustigt. Will sie mich provozieren? Meinetwegen. Soll sie ruhig.

„Naja. Mir gefällt besonders die Antithese mit dem Sonnenaufgang und der sternenklaren Nacht. In beidem liegt Hoffnung und Frieden. Obwohl sie so verschieden sind, ähneln sie einander“, füge ich also hinzu. Maya zieht ihre Augenbrauen zusammen. Dass ich sie so sehr verunsichern kann, indem ich ihr Komplimente mache, hätte ich nicht gedacht.

Miss O’Hara nickt lächelnd, als wäre sie ehrlich stolz auf mich und quält dann Eleanor, indem sie das schüchterne Ding auffordert, auch etwas dazu zu sagen. Doch ich blende ihr Gestotter aus, als Nimy mich mit dem Ellbogen anstößt. „Was war das denn?“, flüstert sie mit großen Augen.

„Ich bin jetzt nett.“ Ich grinse sie an und sie schüttelt den Kopf.

„Genauso gut könntest du behaupten, eine Hexe zu sein.“

„Vielleicht bin ich das ja? Manche Leute würde mich sicher als eine bezeichnen.“ Demonstrativ werfe ich meine roten Haare zurück und Nimy verdreht die Augen. Wir verstummen und ich bemerke, wie sie wieder in ihre eigene Welt abdriftet. Wie es dort wohl aussieht?

Als die Stunde zu Ende ist, bewegen wir uns alle in Richtung Ausgang. Mein neues, netteres Ich bemüht sich, nicht auf den Rollstuhl zu starren, der in unserer Gruppe so fehl am Platz wirkt, als würde er ein Loch in den Boden reißen. Irgendwie finde ich mich vor dem Klassenraum neben Nimy und dem Neuen wieder. Ace? Heißt er so? Achtsam hält er seine Kamera fest. Als würden sie ihm jeden Moment jemand klauen.

„Hey, Neuer“, spreche ich ihn lächelnd an. Das ist besser, als ihn Ace zu nennen, wenn ich mir nicht sicher bin, ob er wirklich so heißt. Nimy zuckt zusammen – anscheinend hab ich sie wieder aus ihren Gedanken gerissen. Er wirkt ähnlich überrascht. Los, sag was Nettes! „Mir gefällt, äh... dein T-Shirt.“

Es ist schwarz. Leer. Stinknormal.
Kein Wunder, dass er mich jetzt so ansieht, als hätte ich sie nicht alle. Hab ich wahrscheinlich auch nicht. Aber das ist mir egal. Nett zu sein ist so schon schwer genug – muss ich denn auch noch darauf achten, dass ich nicht wie ein hirnamputierter Teenager wirke?

Als er immer noch nichts erwidert, frage ich: „Willst du mit uns in die Cafeteria gehen? Der Kaffee dort schmeckt zwar scheiße, aber das Essen ist okay.“

„Ich hab keinen Hunger“, raunt er mit ungewöhnlich weicher Stimme, ohne die Miene zu verziehen.

Obwohl er nicht gerade höflich ist, sitzt mein Lächeln immer noch sattelfest in meinem Gesicht. „Du musst ja nichts essen. Aber willst du wirklich deine Mittagspause ganz allein verbringen wie der größte Versager?“

Ace mustert mich. Vermutlich muss er sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Ich merke, wie meine Nettigkeit sich immer mehr in Wut verwandelt, weil er kein einziges Wort von sich gibt. Kurz wandert sein Blick weiter und bleibt an Nimy hängen. Dann – als würde er nicht einmal bemerken, dass er mich ignoriert – dreht er sich einfach um und geht.

Was denkt er eigentlich, wer er ist?

„Hey!“, rufe ich ihm hinterher. „Was ist dein Problem? Ich rede doch ganz normal mit dir.“

Er reagiert immer noch nicht.
Nimy berührt meinen Arm, ehe ich Ace Schimpfwörter an den Kopf werfen kann oder auf andere blöde Ideen komme. „Clem! Beruhig dich, bitte.“

„Ich bin nicht dein Hund, also lass mich los!“, keife ich sie mit wutverzerrtem Gesicht an. Auch wenn ich bei weitem nicht so viel Zorn in mir trage, wie ich gern hätte.

Ich weiß, dass es nichts bringt, aber musste Ace sich gerade diesen Tag aussuchen, um mich zu ignorieren? Gerade an dem Tag, an dem ich der Welt zeigen will, dass ich ein guter, normaler Mensch sein kann? Vielleicht würde auch Dex normal mit mir reden, wenn ich keine vorlaute Furie wäre. Ich muss ihm nur zeigen, dass man sich mit mir auch wirklich unterhalten kann - so wie er es anscheinend seit Wochen mit Palma tut.

Meine beste Freundin seufzt und hält meinen düsteren Blicken stand. Ich habe so viel Energie in mir, dass ich irgendwas tun muss. Wieso ist das Basketballtraining erst wieder am Mittwoch?

„Vergiss den Typen einfach“, meint sie, aber ich merke, dass sie es nur sagt, um mich zu beruhigen.

Irgendetwas an ihrer Reaktion vorhin war seltsam. Normalerweise hätte Nimy auch versucht, ihn irgendwie miteinzubeziehen. Sie ist viel netter als ich und besser darin, auf Leute zuzugehen. Ich atme tief durch.

„Kennst du ihn?“, frage ich und bin schon viel ruhiger als vor ein paar Minuten.

An der Art, wie sie mich ansieht, weiß ich, dass ich ins Schwarze getroffen habe.

„Nicht gut“, gibt sie zu. „Ist ja auch egal. Lass uns gehen – ich sterbe bald vor Hunger!“

„Gut. Weil ich heute so nett bin, belasse ich es erst mal dabei“, sage ich schließlich und wir machen uns auf den Weg zur Cafeteria. Dort angekommen stellen wir uns bei der Essensausgabe an. „Aber irgendwann erklärst du mir noch, was es mit dem großen Unbekannten und dir auf sich hat.“

„Gar nichts, okay?  Ich kenne ihn kaum.“

„Ja ja.“ Ich grinse und setze zu einem weiteren Kommentar an, als mein Blick hinter sie fällt. Dex betritt die Cafeteria. Die Worte bleiben mir im Hals stecken, als er mich ansieht.

Er hat sich so verändert – und ich bekomme es einfach nicht hin, jemand anderes zu sein.

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Und weiter geht's ;) viel Spaß!

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now