23 - Phil

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PHIL

„Guten Morgen“, sagt meine Mutter sanft, als sie mein Zimmer betritt.

Natürlich kann sie nicht wissen, dass ich schon seit einer Stunde wach in meinem Bett liege und die Decke anstarre. Ohne den Kopf zur Tür zu drehen, murre ich ein „Morgen“ zurück.

„Bereit für die Schule?“ Ich höre, dass sie näher ans Bett herankommt. „Na komm. Auf mit dir.“

Eigentlich will ich es ihr nicht so schwer machen. Aber was ist schon leicht seit dem Unfall?

„Kann ich nicht einfach hier liegen bleiben?“, bitte ich sie. Verdammt, ich klinge viel verzweifelter als ich will. Aber es fühlt sich so schwer an, diesen Raum zu verlassen. Hier ist mein Bunker. Die Höhle, in der niemand den neuen Phil zu Gesicht bekommt. Die Zone, in der ich selbst verdrängen kann, was ich verloren habe.

„Phil“, ermahnt sie mich. Das ist neu. Wo ist das Mitleid hin verschwunden? „Du warst jetzt mehr als zwei Monate zu Hause. Es lief gestern doch gut, oder? Und letzte Woche?“

„Klar. So super, dass ich am liebsten Räder schlagen würde.“ Der Blick meiner Mutter vermittelt mir einmal mehr, dass ich so nutzlos bin, wie ich mich fühle. Auch wenn Mum es nie zugeben würde, bin ich ziemlich sicher, dass auch sie so von mir denkt. Wozu bin ich schon noch zu gebrauchen? Mein wundervolles Gewissen brüllt mich an, nicht so ein zynischer Teenager zu sein. „Tut mir leid, Mum.“

Schließlich krieche ich an den Rand des Bettes und mit ihrer Hilfe schaffe ich es irgendwie in den fremden, komischen Kasten, der sich Rollstuhl nennt. Eigentlich soll er mir einiges erleichtern. Verrückt, dass er mir dabei wie ein Käfig vorkommt.

Seitdem sie mir das linke Bein amputieren mussten, fühle ich mich immer mehr wie ein Baby. Ich bin bei den einfachsten Dingen und Angelegenheiten, die früher nicht einmal der Rede wert waren, auf andere Menschen angewiesen. Wir müssen nur diesen wundervollen Dienstagmorgen betrachten, um das genauer zu erkennen:

Wenn die Bremsen meines Rollstuhles angezogen sind, gelingt es mir eigentlich selbst, mich vom Bett auf die Kunststofffläche zu hieven, aber es besteht jedes Mal das Risiko, dass ich abrutsche oder der dumme Stuhl nicht im richtigen Winkel zum Bett steht, was es um einiges schwieriger macht. Deswegen hilft Mum mir. Es ist erbärmlich, aber als nächstes hilft sie mir auch noch dabei, aufs Klo zu gehen. Dad hat neulich davon gesprochen, bei uns zuhause solche Metallstangendinger anzubringen, damit ich mich selbst von dem Rollstuhl auf den Toilettensitz stemmen kann. Klingt cool, oder? Jeder achtzehnjährige Junge träumt doch davon, dass er so ein Klo bekommt wie seine Oma.

„Sag Bescheid, wenn’s weh tut“, fordert meine Mum. Sie presst die Lippen zusammen und löst den Verband von meinem Stumpf, um ihn zu wechseln.

„Mhm“, mache ich. Aber Tatsache ist, dass es schon seit circa einer Stunde weh tut. Was verrückt ist. Ich spüre ein Brennen und Jucken in meinem linken Fuß – am liebsten würde ich mir die gesamte Haut abziehen.

Du verlierst den Verstand, Phil. Das sind nur Phantomschmerzen.

Richtig. Ich blicke an mir herab, aber es gibt nichts mehr zu sehen. Mein linker Fuß ist Gott weiß wo. Was stellen die Ärzte nach einer Amputation wohl damit an?

Meine Mum hilft mir beim Anziehen – noch so eine Kleinigkeit, die jetzt unvorstellbar schwierig geworden ist, wenn ich nicht von meinem Rollstuhl fallen möchte. Dann schiebe ich mich ins Esszimmer und würge die trockensten Cornflakes der Welt mit entsprechend viel Milch hinunter.

Das Geräusch der Türklingel lässt mich kurz zusammenzucken. Scheiße, ist das etwa schon Dex? Schnell strecke ich mich nach meinem Rucksack, der am Boden liegt und ziehe ihn auf meinen Schoß, während ich mich mit einer Hand an den Seitengriffen des Rollstuhls festklammere, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Dex! Du bist aber früh dran, heute.“

„Ja, ich hab gedacht, Phil und ich könnten zu Fuß gehen, statt den Bus zu nehmen? Gar so weit ist es ja nicht und wenn wir früh genug losgehen...“

Zu Fuß gehen? Wirklich, Dex? Wirklich?

Meine Mutter strahlt ihn an und wenig später beginnt der lustigste Teil des Morgens. Ich weiß, dass Mum Dex dafür liebt, dass er sich so um mich sorgt und jeden Morgen, wenn Dad schon früh zur Arbeit muss, vorbeikommt. Auch heute greift er voller Elan nach mir und meinem ständigen Begleiter, während Mum von hinten mitanpackt. Irgendwie gelingt es ihnen immer wieder, mich die Treppen hinunterzutragen und mich vor unserem Haus abzusetzen, ohne dass wir drei mit dem Gesicht voraus auf den asphaltierten Weg donnern.

„Danke.“ Erschöpft lehnt Mum sich an der Tür an. Ist sie schon immer so alt? „Hab einen guten Tag, Phil.“ Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange, den ich ignoriere. Ich sage nichts, ich tue nichts, ich starre nur auf die graue Asphaltstraße und frage mich, ob jetzt wirklich jeder Morgen so ablaufen muss.

„Bis morgen, Mrs McKinley!“, ruft Dex ihr viel zu gut gelaunt zu, als er bereits dabei ist, mich wegzuschieben.

„Ich kann das selbst“, gebe ich trotzig von mir und halte die Reifen fest, sodass Dex mich nicht mehr vor sich herführen kann wie ein Baby im Kinderwagen. Er seufzt, sagt aber nichts.

Heute ist ein schlechter Tag. Nein, ein beschissener. Das Brennen in meinem linken Fuß, der ja eigentlich kein Teil von mir mehr ist, hat immer noch nicht aufgehört.

„Ich hab darüber nachgedacht, was Palma und du wegen Clem gesagt haben...“, beginnt er.

„Mhm.“ Glaubt er denn wirklich, dass ich das jetzt hören will? Dass ich gerne darüber nachdenke, wie leicht die beiden ihre Probleme lösen können, während es für mich keine einzige Möglichkeit gibt, irgendwas an dieser Situation zu verbessern? An guten Tagen ist es eine angenehme Ablenkung, mal nicht nur an mich selbst zu denken. Aber heute, wo ich am liebsten umdrehen und in mein Zimmer zurückrollen will, geht mir Dex Gelaber gewaltig auf die Nerven.

„Ich werde mit ihr reden.“ Er grinst in sich hinein. „Vielleicht beschimpfen wir uns auch nur. Aber das ist immer noch besser als zu schweigen.“

Ich sage nichts.

Endlich kommen wir bei dem Schulgebäude an. Obwohl mir die Arme schon wehtun, schiebe ich mich die Rampe zum Eingang hoch. Wenigstens das muss ich allein machen. Den Weg zur Schule fahren und mich hier hoch schieben. Zu viel mehr bin ich nicht in der Lage.

„Philip!“, schreit eine rundliche Frau mir zu. Ich hatte eigentlich gehofft, Mrs Ribar nie wieder zu begegnen. Dieser Tag kann ja nur besser werden.

„Phil“, bessere ich sie aus. „Was ist denn, Mrs Ribar?“ Ich atme tief durch.

„Das Stück. In zwei Wochen ist die erste Aufführung und ich wollte dich fragen... nun... das fällt mir nicht leicht.“ Peinlich berührt starrt sie mich an. Sieht auf mich herab. Sie starren immer. „Ich finde es so schade, dass du nicht mitspielen kannst. Die Hauptrolle von Peter Pan war perfekt für dich.“

„Danke.“

„Jedenfalls... Ich hatte gehofft, dass du trotzdem noch Teil vom Team sein möchtest? Du warst letzte Woche nicht bei der Probe... Denk bitte nicht, dass wir dich nicht mehr dabei haben wollen. Wir finden bestimmt einen Platz für dich. Licht- und Tontechnik können immer Unterstützung gebrauchen.“ Ihre blauen Augen funkeln und ein herzliches, ehrliches Lächeln umspielt ihre Lippen. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, wenn du jemanden zum Reden brauchst...“

„Danke.“ Zuerst will ich es dabei belassen, aber dann kehrt ein Funke des alten Phils zurück. „Das ist sehr lieb von Ihnen. Wir wissen natürlich beide, dass niemand ein so umwerfender Peter ist wie ich.” Kurz vergesse ich mich und mein Bein und grinse meine Lehrerin spitzbübisch an. Dann holt mich die Realität wieder ein und drückt mich mit all ihrem Gewicht in den Kunststoffsitz. „Trotzdem wird das Stück auch ohne mich ein Erfolg sein.“

Ich war vielleicht einmal der beste Schauspieler an dieser Schule. Doch mittlerweile bin ich nur noch der Junge, der Hilfe von seiner Mama braucht, um aufs Klo zu gehen.

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So... nun wisst ihr, was passiert ist (auch wenn es ziemlich vorhersehbar war).
Was denkt ihr denn über den "neuen" Phil? :')

- liljaxxx & knownastheunknown -

FeuerwerkWhere stories live. Discover now