Kapitel 39

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Er zittert so stark. Seine Augen gleiten durch mich hindurch, am liebsten würde ich ihn jetzt in den arm nehmen, mich an ihn drücken, sagen, dass alles gut wird, dass ich da bin.
Aber das bin ich nicht. Ich bin nicht da. Nicht wirklich.
Der Becher fällt zu Boden, als Franco die Hände vor die Augen hält.
Die Schwester sieht ihn mitleidig an.
Er ist gebrochen. Er hat Angst.
Was wird sein, wenn er erfährt, was ich getan habe?
Habe ich ihn enttäuscht?
Ich bleibe bei ihn. Der ganzen Zeit. Und wir warten.
"Weißt du Franco," wende ich mich an ihn. "Ich liebe dich. Auf eine gewisse weise tue ich das."
Er reagiert nicht.
"Ich wollte dir niemals wehtun. Glaub mir."
Betreten sehe ich auf den Boden. Wenn ich wieder am Fenster stehen würde, wieder nach unten sähe, würde ich erneut loslassen?
Andererseits... Zu spät.
Ein paar weißer Birkenstocks macht vor uns halt. Arztschuhe.
Jannik Pfeil im langweiligen Kittel steht vor uns. Oder vor ihn und der Schwester.
Ich ja nicht mehr da.
"Guten Tag."
Er hält Franco die Hand hin, der sie etwas aufgelöst ergreift.
"Was ist mit ihr?", seine Stimme mag ruhig und gefasst wirken, das verschüttete Wasser und der verzweifelte Ausdruck in seinen Augen sprechen jedoch für das exakte Gegenteil.
"Komm bitte mit in den Besprechungsraum. Wir wollen das nicht hier auf den Gang klären."
Schweigend erhebt er sich. Der Arzt legt ihn beruhigend einen Arm auf die Schulter.
Im Raum wird Franco direkt wieder hingesetzt, ich muss kein Arzt sein um festzustellen, dass er momentan komplett woanders ist.
Und er hat immer noch keine Schuhe an.
"Was ist jetzt mit ihr?"
"Franco. Jetzt erst mal kurz duchatmeten."
"Sie hat sich umgebracht. Ich hab gesehen, was sie auf den Tisch geschrieben hat. Sie ist tot, nicht wahr?!", zum Ende hin wird er lauter und immer verzweifelter.
Es schmerzt. So habe ich ihn noch nie gesehen. So hilflos.
Jannik stößt geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen.
"Sie lebt noch. Aber sie benötigt dringend intensivmedizinische Behandlung. Momentan ist sie im OP."
"Was hat sie getan?"
Genau. Was hab ich getan?
"Sie ist aus den Fenster gesprungen. Aus den vierten Stock. Polytrauma. Mehr weiß ich nicht."
Wie ein Stein. Bewegungslos. Starr.
So sieht er aus. In den Moment weiß ich nicht mal mehr, ob er atmet.
Wie ferngesteuert steht er auf.
Ich habe noch nie so einen Schmerz in den Augen eines Menschen gesehen.
Vor der Tür hält er inne. Sein Atem geht stoßweise.
"WARUM?!"
Sein unmenschlicher Schrei zerfetzt die Stille und lässt uns zusammenfahren.
Seine geballte Faust kracht knallend gegen die Wand. Tränen strömen ihn über die Wangen.
"Warum?", schluchzt er.
Langsam gleitet er die Wand hinunter.
Seine Knöchel sind aufgeplatzt und blutig. Aber das kümmert ihn nicht.
Er zu sehr mit sich beschäftigt.
Oder mit mir.
Doktor Pfeil gönnt ihn den Moment der Trauer, unterbricht seine Gedanken nicht.
Dennoch sucht er verbandszeug zusammen um sich die offenen Knöchel zu besehen.
"Wird sie es schaffe?", Francos Augen sind geschossen, sein Kopf zur Decke gewandt.
"Wir wissen es nicht. Kritisch."
"Will sie es schaffen?"
Keine Antwort.

Freiheit   (Auf streife die Spezialisten)Where stories live. Discover now