Kapitel 59

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Mario's Sicht:

Marco hatte mir eine ordentliche Gehirnwäsche verpasst. Und meine Reaktion darauf sorgte anscheinend dafür, dass er mich verstand. Das war Marco. Bescheuert und gestört - im Positiven - aber in Situationen wie diesen verständnisvoll. Er hatte angefangen, seine eigene Sorge um Nell in den Hintergrund zu stellen und dafür jede freie Minute an mich zu verschwenden. Wobei man es nicht als verschwenden bezeichnen konnte. Er pushte mich so, dass ich selbst verwundert war, wie ich langsam wieder zurückfand. Und schaffen konnte er das nicht nur mit seiner Überzeugungskraft. Es klang absurd aber er lockte mich damit, dass ich je mehr ich mich ins Training hineinhängte, länger zu Nell durfte. Wollte ich aufgeben, schrie er mich an. Und ein Satz, den er immer wieder sagte, brachte mich dazu weiterzumachen. "Arbeite darauf hin, dass Nell am Spielfeldrand steht, wenn du im Finale ein Tor schießt!" Das Problem war nur, wenn ich dann mal neben Nell's Bett im Krankenhaus saß, oder ihr auch nur einen Gedanken außerhalb des Fußballs widmete, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich ertrug es kaum, sie nicht um mich zu haben. Ich vermisste einfach alles. Ihr Lachen, ihre Stimme, ihre Nähe. Manch einer würde jetzt sagen ich würde nur den Sex mit ihr vermissen, aber so war es nicht. Dann hätte ich längst eine Andere gehabt. Und bis auf die bescheuerte Aktion als ich betrunken war, interessierte mich die Frauenwelt nicht. Ich wollte nur Nell zurück. Ich wunderte mich oft über mich selbst. Früher hatte ich nie etwas Festes. Konnte nicht verstehen, was Liebe auf den ersten Blick oder unendliche Liebe sein sollte. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht einmal, was Liebe überhaupt war. Es war nicht das selbe seine Familie, seine Freunde zu lieben. Die Tatsache, dass sich weltweit zwei Menschen fanden, die sich bedingungslos liebten und blind verstanden, war für mich unglaublich. Ich hatte das Gefühl, wirklich nicht ohne sie leben zu können. Gäbe es nicht die Hoffnung, dass sie irgendwann aufwachte, hätte ich mich längst vor das nächstbeste Auto geworfen. Doch insbesondere Marco brachte mich dazu, diese kleine Hoffnung nicht aufzugeben. Mein Elan drohte wieder etwas zu kippen, weil wir gerade im Flugzeug nach Rio de Janeiro saßen und ich so noch weiter von Nell entfernt war. Marco konnte als meine Stütze auch nicht mit, was das Ganze noch erschwerte. Anders als sonst war es vollkommen ruhig im Flieger. Wenn jemand sprach, dann nur über Nell. Ich bemerkte jetzt erst, wie müde ich war, weil ich dauerhaft auf den Beinen war. Und schon schlief ich ein. Ein traumloser Schlaf, wie ich ihn seit längerem nicht mehr hatte. Doch bald schon wurde ich wieder geweckt, weil wir landeten. Dann stiegen wir in den Bus und fuhren in das für uns vorgesehene Hotel.
-Zeitsprung-

Ich war nicht in der Startelf. Nach meiner Leistung gegen Algerien war das Löw auch nicht zu verdenken. Ich hatte es einfach verkackt. Löw hatte angedeutet, mich später noch reinzubringen und diesmal wollte ich mich wieder anstrengen. Die Artikel in den Medien ließen mich meistens kalt, aber ich las sie trotzdem oft. Zu oft. Ich hätte 'lustlos den Ball umhergekickt' stand überall. Bis auf die Tatsache, dass es nichts mit Lustlosigkeit zu tun hatte, stimmte das ja auch. Ich musste mich endgültig zusammenreißen, schließlich ging es nicht nur um die Weltmeisterschaft. Vor der WM hatte ich mir vorgenommen, für Marco zu spielen. Jetzt wollte und musste ich umso mehr für Nell spielen. Weil ich mir selbst ständig einflüsterte, ich müsse kämpfen, wäre ich auf dem Weg zur Ersatzbank beinahe die Treppe hinuntergestürzt. Mats' Gewicht fing mich unten ab. "Sorry." murmelte ich abwesend. Er lächelte mich an. "Mach dir keine Sorgen, das klappt schon." meinte er und wuschelte mir durch die Haare. "Okay und jetzt verrätst du mir bitte noch welche Drogen du nimmst dann kauf ich dir diese gute Laune sogar ab." erwiderte ich sarkastisch. Er zuckte mit den Schultern. "Irgendetwas sagt mir, dass es für mich heute super läuft." "Super dann frag doch dieses etwas noch, wann Nell aufwacht." sagte ich. Mats' Blick verfinsterte sich etwas. Ohne ein weiteres Wort ging ich weiter. "Einigkeit und Recht und Freiheit..." nach diesen ersten Worten stockte ich bei der Nationalhymne. Warum verstand dieser liebe Gott denn nicht, dass Nell das RECHT darauf hatte, aufzuwachen und wieder in FREIHEIT zu leben. Sie hatte es nicht verdient, um ihr Leben bangen zu müssen. Jetzt war ich schon wieder abgelenkt, denn als ich in die Realität zurückkehrte, hatte die Hymne geendet und der Schiri war kurz davor anzupfeifen. Und Mats sollte Recht behalten. In der 13. Minute köpfte er das 1 zu 0. Ich konnte mich sogar etwas mitfreuen. Irgendwie schienen heute alle besser drauf zu sein als sonst, seitdem Nell im Koma lag. Die Franzosen wurden besser, aber dank Manu kamen sie nie zum endgültigen Abschluss. Halbzeit.
Zeitgleich bei Marco

Ich hatte mich durchgesetzt und saß in der Klinik neben Nell's Bett, hielt ihre Hand und starrte währenddessen auf den kleinen Fernseher. Beim 1:0 durch Mats musste ich mich beherrschen, nicht die komplette Station zusammenzuschreien. Stattdessen küsste ich Nell auf die Wange und drückte ihre Hand. Gerade war es extrem nervenaufreibend, da bildete ich mir ein kleines Zucken von Nell's Finger ein. Trotzdem sprang ich sofort auf. Wie blöd starrte ich weiter auf ihre Hand. Gerade wollte ich mich wieder hinsetzen, weil es sich als Irrtum herausgestellt hatte, da drückte sie meine Hand. Nur ganz leicht, aber deutlich spürbar. Ich erhob mich also erneut von meinem Stuhl und beugte mich über sie. Auf dem Monitor konnte ich sehen, dass ihr Blutdruck anstieg. Ich wollte nichts falsch machen, also humpelte ich sofort zum Notfallknopf. Dann wieder zurück zu Nell. Bildete ich mir das ein oder hatten ihre Wangen eine leichte Farbe angenommen? Ein Arzt kam herein und kurz bevor er mich nach draußen schickte, hatte sie geblinzelt...
Mario's Sicht:

Ich war mit den Anderen in der Kabine und hörte mir Löws Taktikänderungen und so weiter an. Plötzlich klingelte ein Handy. Mein Handy. Löw warf einen bösen Blick auf mich. Es war strengstens verboten, das Handy anzuhaben, vor Allem während eines Spiels. Mit einem entschuldigenden Blick holte ich es heraus. Auf dem Display stand Marco. Ich überlegte kurz und ging dann ran. "Marco, es ist gerade sehr schlecht wie du vielleicht weißt." begrüßte ich ihn. "Mario... Oh man..." begann er. "Was? Was ist los? Ist was passiert?" Es blieb kurz still. Das machte mir ein wenig Angst. Also wiederholte ich meine Frage nochmal. "Nell ist aufgewacht!" sagte er. Mir fiel das Handy aus der Hand und schepperte auf den Boden nieder. Die Anderen hatte sich jetzt zu mir umgedreht. Fragende Blicke stachen auf mich ein. "Ist was?" wollte Thomas wissen. "N-Ne-Nell... sie... ist aus dem Koma aufgewacht." stotterte ich. Jetzt war es totenstill in der Kabine. "Wenn du uns gerade verarschen willst, das ist nicht lustig!" meinte Manu. Ich schüttelte langsam den Kopf und hob mit tauben Fingern das Handy auf. "Ma-Marco?" sagte ich. "Ja, ich bin noch dran!" erwiderte er. Manu riss mir das Telefon aus der Hand. "Wo ist sie? Wie geht es ihr?" rief er. Dann stellte er auf Lautsprecher und man hörte Marco's Stimme. "Ich hab in ihrem Zimmer das Spiel angeschaut und dann hat sie ihre Hand bewegt. Ich wusste nicht, ob es nur Einbildung war, habe aber zur Sicherheit einen Arzt geholt. Der hat mich rausgeschickt, aber ich hab noch gesehen, dass sie geblinzelt hat! Die lassen mich nicht zu ihr." erzählte er. Ich sprang auf und stolperte zur Tür. Löw versperrte mir den Weg. "Du kannst jetzt nicht einfach gehen!" sagte er. "Aber..." setzte ich an, doch Löw schüttelte entschieden den Kopf. "Ihr bleibt ruhig, und zwar alle. Das Spiel ist noch nicht vorbei!" meinte er. Total hibbelig ging ich also wieder nach oben. Irgendwann schickte mich Löw dann tatsächlich auf den Platz. Ich konnte mich wieder nicht auf meine Leistung konzentrieren, machte aber zum Glück keine großen Fehler und so standen wir nach Spielende im Halbfinale. So sehr ich mich auch freute, ich konnte es kaum erwarten, mich selbst davon zu überzeugen, dass sie wieder da war. Und in welchem Zustand. Aber daran wollte ich vorerst garnicht denken. Da es den Anderen nicht anders ging, flogen Manu und ich kurzerhand direkt nach dem Duschen zurück und fuhren sofort zum Krankenhaus. Wir rannten förmlich durch die Gänge. "Und?" rief ich Marco schon von Weitem zu. "Ich durfte bis jetzt nicht zu ihr!" antwortete er, als wir bei ihm ankamen. Wir mussten 10 endlos lange Minuten warten, da kam ein Arzt aus dem Vorraum. "Was ist mit ihr?" fragte Manu aufgebracht. "Frau Neuer ist tatsächlich aufgewacht. Allerdings ist sie sehr schwach und reagiert nicht auf Fragen oder Anweisungen. Wir wissen nicht, in welchem Zustand sie geistig ist, also bitte überfordern Sie sie nicht." meinte der Arzt. "Geben Sie ihr etwas Zeit. Am besten geht Morgen nur eine Person hinein." fügte er noch hinzu. Ich ließ mich auf den nächsten Stuhl fallen. Noch eine Nacht warten? Meine Nerven lagen jetzt schon blank. Ich hätte sowieso nicht schlafen können, also blieb ich genau wie Manu und Marco über Nacht in der Klinik. Wir saßen die ganze Nacht auf dem Gang und redeten fast gar nicht. Im Morgengrauen erhob Manu sich wortlos. "Was machst du?" fragte Marco. "Ich hol einen Arzt und dann geh ich zu Nell." erwiderte Manu und ging zum nächsten Zimmer. "Marco und ich wollen aber auch zu ihr!" rief ich ihm hinterher und stand ebenfalls auf. Seufzend drehte Manu sich um. "Ich rede mit dem okay?" meinte er. Ich nickte nur. Während Manu also weg war, tigerte ich aufgeregt vor Marco hin und her. Das brachte ihn anscheinend auf die Palme. "Mensch Mario, kannst du vielleicht mal damit aufhören?!" beschwerte er sich. Ich wollte gerade etwas erwidern, da kehrte Manu mit einem Arzt zurück. Er nickte mir nur zu, was ich als Aufforderung deutete, ihnen zu folgen. Und dann war es so weit, wir betraten den Raum...

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt