Kapitel 136

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Mario's Sicht:

Fünf Tage durften wir das gesamte Gebäude nicht mehr betreten und wurden alle kurzfristig nach Hause geschickt. Doch schon nach drei Tagen wurde ich angerufen und gefragt, ob ich nochmal reinwollte, um Überbleibsel zu finden. Direkt danach hatte Marco mich angerufen. Anfangs wollten wir es beide nicht - unter anderem weil wir wie blöd für den perfekten Antrag schufteten-, aber noch am selben Abend erfuhren wir, dass Nell auch dazu kommen durfte. Und das änderte die ganze Situation. Jetzt waren wir also alle drei parallel unterwegs zum Quartier, um nach Erinnerungsstücken zu suchen. Als ich die Autotür zuschlug, kamen mir Marco und Nell bereits entgegen. Nell hielt Marco dabei auf Sicherheitsabstand und versteckte die Hände in der Tasche ihres dunkelgrauen Hoodies. Wobei mir bei genauerem Hinsehen auffiel, dass dieser normalerweise an jemand anderem aufzufinden war. Marcel... Marco und ich begrüßten uns mit einem kurzen Handschlag, wobei er mir fast starrend in die Augen sah. Wir hatten uns die letzten Tage sowieso jeden Tag gesehen, weil wir die ganze Zeit den Antrag geplant hatten. Und zwar für Übermorgen. Sollte ich Nell umarmen? Ja? Nein? Gerade als ich mich für ersteres entschied, begann sie zu reden. "Ich soll dir von Sarah ganz liebe Grüße ausrichten. Und mich bedanken wegen Marah. Naja eigentlich hat sie auch noch gesagt, ich soll dir einen dicken Schmatzer dafür verpassen, aber..." Sie brach ab. Ich musterte sie intensiv und wartete ab. Sie senkte den Blick und ihre Haare fielen ihr ins Gesicht. Ich sah Marco an, der nur eine schnelle Handbewegung machte und mit dem Mund ein 'Nutz die Chance!' formte. Bevor Nell also reagieren konnte, schob ich meine Hand an ihre Wange. Ruckartig hob sie den Kopf, da beugte ich mich bereits vor und legte sanft meine Lippen auf ihre andere Wange. "Ich würde es jederzeit wieder tun." sagte ich sanft. Konnte man Gänsehaut im Gesicht bekommen? Wenn ja, dann bekam ich diese gerade. Und sie auch. Ich spürte, wie es sich wie eine Welle von ihrem Wangenknochen zum Ohr ausbreitete. In dieser Zeit löste ich mich längst wieder von ihr und ließ auch langsam meine Hand sinken. "Wollen wir rein?" fragte ich. Marco nickte und grinste mich dabei an. Die Idee war voll aufgegangen. Nell fasste sich wieder etwas, nickte ebenfalls knapp und lief langsam vorraus. Als wir an der Tür ankamen, zögerte sie kurz. "Willst du echt rein?" hakte Marco nochmal nach. "Wieso nicht?" gab sie etwas schroff zurück. "Das letzte Mal als du hier durch gerannt bist hat die Bude gebrannt und danach wurde Mario bewusstlos rausgetragen." band er es ihr unüberlegt ein weiteres Mal auf die Nase. Ich funkelte Marco kurz an und legte dann eine Hand auf Nell's Schulter. "Du bist diesmal nicht allein und ich bin bei vollem Bewusstsein, das kannst du mir glauben." scherzte ich. Ohne eine Antwort stieg sie die ersten Stufen hoch und wir folgten. Langsam arbeiteten wir uns durch die angekokelten Trümmer ehemaliger Möbel vor. Bis wir schließlich vor der Tür der WG standen. Auch diese Wurde von etlichen Holzsplittern blockiert, deshalb stemmte sich Marco erst einmal dagegen, bis sie mit einem Ruck aufging. "Ich schau im Bad." meldete Marco sich dann auch direkt ab und ließ uns allein. Nell beachtete dies nicht weiter. Schweigend erkundeten wir den Raum, bis mir etwas auffiel. "Nell!" rief ich, worauf sie sich mir überrascht zuwandte. "Nicht bewegen." fuhr ich fort. Ihr linker Fuß war kurz vor dem Absetzen. Sie gehorchte mir und stand vollkommen regungslos da. Ich lief auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke. Zwischen der dunklen Asche fischte ich etwas hervor. Nell ging neben mir in die Hocke. Zwischen meinen Fingern drehte ich die leicht von der Belastung des Feuers angelaufene Silberkette, die Nell immer getragen hatte, mit dem Verlobungsring. "Ich versteh das nicht. Wie kommt die hierher?" fragte ich und sah zu ihr auf.  Sie zuckte mit den Schultern. "Ich muss sie verloren haben, als ich während dem Brannt hier drin war." meinte sie und griff nach der Kette, doch ich schloss meine Finger darum, um sie ihr vorzuenthalten. "Du hast sie immernoch getragen? Trotz... trotz Marcel?" bohrte ich nach. Sie erhob sich seufzend. "Du meinst bevor du die Scheiße mit mir abgezogen hast?" stichelte sie. Ich schwieg und richtete mich ebenfalls wieder auf. Als wäre ihr die Kette nun völlig egal, wandte sie sich ab und wollte weglaufen. Ich hielt sie an den Schultern zurück. Von hinten legte ich ihr die Kette um und schloss sie in ihrem Nacken. Allerdings ließ ich nicht von ihr ab, sondern ließ meine Hände auf ihre Schultern gleiten. Ich verringerte den Abstand zwischen uns ein Wenig. "Hast du Marcel von dem Kuss erzählt?" fragte ich sanft, sodass es schon wieder provozierend wirkte, was es in gewisser Weise auch sollte. Noch bevor ich es komplett ausgesprochen hatte, versteifte sie sich. "Der Kuss war kein richtiger Kuss... wir waren beide in einer Ausnahmesituation." murmelte sie. Ich wurde leicht wütend, meine Finger an ihren Schultern packten leicht zu und sie zuckte daraufhin zusammen. "Was redest du da? Du weißt, dass ich dich liebe. Du weißt es. Und ich kann nicht glauben, dass du das nicht erwiderst." sagte ich energisch und versuchte von der Seite einen Blick auf ihren Gesichtsausdruck zu erhaschen. "Du wolltest doch diese Auszeit. Ich hab jetzt Marcel, damit musst du klarkommen!" gab sie zurück und schüttelte meine Hände ab. Heftig riss ich sie am Handgelenk herum. "Was findest du an dem Typen, hm?!" fragte ich grob. Sie wich zurück, doch ich folgte ihren Schritten. "Ich kauf dir die Liebe zu Marcel nicht ab. Also, was gefällt dir an ihm so?!" wiederholte ich. Hilfesuchend blickte sie sich nach einem Fluchtweg um. "Versuch es erst gar nicht nach Marco zu rufen. Der versteht es genauso wenig wie ich." sagte ich eindringlich. Mit dem letzten Schritt verringerte ich den Abstand zwischen uns so sehr, dass sie kaum wagen konnte zu atmen, weil ihre Brust dann meine berühren würde. "Was gibt er dir, was ich dir nie gegeben habe?" wiederholte ich. Bereits jetzt glitzerterten ihre Augen aufgrund der Tränen. Eigentlich wollte ich sie nicht so bedrängen, aber ich hielt es nicht mehr aus. Von ganz tief aus meinem Herzen schrie es nach ihr, verlangte nach ihrer Wärme. Als ich nun auch noch meine Hände an ihre Taille legte, erwiderte sie dies, indem sie ihre Hände auf meine Brust stemmte und den Kopf zur Seite drehte. "Ist er aufregender als ich? Sexspielchen? Oder behandelt er dich einfach von oben herab? Das kann ich nämlich auch." fauchte ich und drückte sie gegen die verdreckte Panorama-Fensterwand. "Herrisch, wenn du es so willst." raunte ich ihr zu und küsste ihren Hals, weil es sich gerade anbot. Die Gier und das Verlangen meinerseits war nicht gespielt. Dass Marcel seine Finger nicht von ihr lassen konnte, hatte alles aufgestaut. Ich presste meinen Körper gegen ihren, sie hatte absolut keine Chance sich zu wehren und wimmerte leise auf. Ich konnte genau spüren, wie sie mit sich selbst kämpfte. Ihre Tränen passten nicht mit der Gänsehaut an ihrem Hals zusammen. Meine Lippen wanderten wie automatisch über ihren Kieferknochen. Dann verschmolzen unsere Lippen zu einem Kuss. Verlangend drängte ich sie zu mehr und erreichte schließlich, dass wir in einen Zungenkuss verfielen. Zu meiner Überraschung entfuhr mir ein unterdrücktes Stöhnen. Ihr Widerstand ließ nach, ihre Finger auf meiner Brust krallten sich leicht in mein Oberteil. "Ähem." räusperte sich neben uns jemand. Mein Kopf fuhr herum. Marco stand da, mit verschränkten Armen und tadelndem Blick. Ich funkekte ihn wütend an. Warum tat er das? Ok, wenn er es so wollte. Ich sah wieder Nell an. "Ich überlass dich ihm nicht." knurrte ich und küsste sie erneut. Doch diesmal wies sie mich schnell ab. "Bitte, Mario. Hör auf. Marcel kommt jeden Moment." flehte sie heiser. "Dann sieht er wenigstens, dass du mich liebst." gab ich zurück. "Ich will ihn nicht verletzen." flüsterte sie. "Das heißt du gibst es zu?" bohrte ich nach und ließ von ihr ab. Doch sie nutzte dies und huschte an mir vorbei. "Nein, warte!" rief ich und machte Anstalten, ihr hinterher zu rennen, doch Marco, den ich völlig ausgeblendet hatte, riss mich zurück. "Mario es reicht jetzt." meinte er ernst. Im selben Moment tauchte Marcel im Türrahmen auf und Nell lief ihm direkt in die Arme. "Hey Baby, was ist denn los?" fragte er und schloss sie in eine Umarmung. Nell sagte nichts, sie schien so erschrocken. "Hat er dich bedrängt?" wollte er wissen, als er mich am anderen Ende des Raumes entdeckte. Nell löste sich ein Wenig von ihm und schüttelte schließlich den Kopf. "Es ist nur schrecklich, das hier zu sehen." schluchzte sie. Warum sagte sie ihm nicht die Wahrheit? Oder sie hätte behaupten können, ich würde sie tatsächlich belästigen, damit Marcel sie verteidigte. Marcel nickte verständnisvoll. "Geh schonmal runter, ich bin gleich bei dir." sagte er sanft, zog sie an sich und küsste sie. Sie nickte nur leicht. Er wartete, bis sie ganz verschwunden war und kam dann zu Marco und mir. "Was willst du? Hat dir die Abreibung letztes mal noch nicht gereicht?" fuhr ich ihn sogleich an. Er hob abwehrend die Hände. "Ich will keinen Streit." Ich hob nur die Augenbrauen. Er seufzte. "Ich weiß, dass sie mich anlügt."

Nell's Sicht:

Lieber Gott, wenn du je gewollt hast, dass ich auf der Stelle tot umfalle, dann bitte jetzt. Natürlich war das untypisch für Mario, dass er mich so behandelte, aber trotzdem war der Kuss... unglaublich. Sobald er mich berührte, vergaß ich alles um mich und wollte nur noch ihn. Wenn Marco uns nicht unterbrochen hätte und Marcel uns gesehen hätte, ich wäre im Erdboden versunken. Die letzten drei Tage hatte ich bei ihm gewohnt. Und jeden Tag hatte er es aufs Neue versucht. Weil das für ihn eben normal war, auch nach der kurzen Zeit schon mit mir zu schlafen. Immer wieder berührte er mich, schob seine Hände unter meine Kleidung, aber bevor es zum Sex kam, wimmelte ich ihn ab. Marcel war aufregend, ein Abenteuer. Aber im Vergleich zu Mario kam nicht dieses Gefühl auf. Dieses Gefühl der unendlichen Liebe. Marcel hatte sich kein einziges mal beschwert, aber er wollte es eben, das merkte ich. Sowas wie unter der Dusche vor dem Brand war nicht wieder passiert, nicht einmal annähernd. Ich hatte meine Arme auf Marcel's Auto abgestützt und den Kopf darauf gelegt, als sich seine Arme plötzlich um mich schlangen. Ich zuckte zusammen. "Hab ich dich erschreckt?" fragte er sanft. Ich drehte mich in seinen Armen um und legte die Hände in seinen Nacken. Dann schüttelte ich den Kopf. "Gehen wir?" fragte ich bittend. "Willst du nicht nochmal gucken, ob irgendwelche Sachen da sind, die du möchtest? Der Gebäudetrakt wird noch heute geräumt, dass ist es verloren." hielt er mir vor Augen. Erneut schüttelte ich den Kopf. "Ich wohne nichtmal mehr da. Und bis eben habe ich auch nichts gefunden." antwortete ich. Er atmete tief durch, streckte die Hand aus und Griff nach dem Ring, der mein Dekoltée schmückte. "Wirklich nichts?" fragte er und sah mir tief in die Augen. Ich senkte den Blick. "Du hast recht. Ich nehm sie ab." sagte ich schnell und tastete nach dem Verschluss in meinem Nacken. Er hielt meine Hände fest. Fragend sah ich ihn an. "Steig ein. Ich hab eine Überraschung für dich." meinte er nur. Ich musste lächeln und legte die Hände wieder in seinen Nacken. "Wirst du doch noch zum Romantiker?" neckte ich ihn. "Vielleicht hab ich ja was ganz wildes geplant Baby." grinste er und kniff mir in den Hintern. "Hmm...das glaub ich dir nicht." gab ich zurück und lehnte mich vor. Als würde er überhaupt nicht registrieren, dass ich ihn zu küssen versuchte, ließ er mich los und hielt die Autotür auf. "Einsteigen." befahl er erneut. "Ähm okay." sagte ich leicht verwirrt, lächelte aber und stieg ein. Er schlug die Tür zu. Gerade stieg er ein, da sah ich aus dem Augenwinkel, wie Mario und ihm folgend Marco das Gebäude verließen. Marco machte Mario Hasenohren, dieser merkte es aber, wirbelte herum und schlug Marco's Hand weg. Ich musste unwillkürlich lächeln, versteckte es aber hinter vorgehaltener Hand. Doch irgendwann fiel mir auf, dass wir in die komplett falsche Richtung fuhren. Trotzdem wusste ich sofort, wohin wir fuhren. "Marcel..." setzte ich an und drehte das Radio leiser. Er sah mich kurz an. "Ja?" - "Du willst aber nicht mit mir in das Restaurant am See, oder?" fragte ich verunsichert. "Doch, genau da will ich hin, wieso?" erwiderte er. Ich fuhr mir durch die Haare. "Muss das sein? Ich war da immer mit Mario." erklärte ich knapp. "Ich weiß." sagte er nur, als wir auch schon in den Parkplatz einfuhren. Perplex starrte ich ihn an. Er stellte den Motor aus und schnallte sich ab. "Wir müssen reden Nell." verkündete er.

Liebe stirbt nicht {Mario Götze u.A.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt