Kapitel 15

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Sie haben mich ausgeknocked, doch können sie mir meine Gedanken nicht nehmen. Ich bin fassungslos. Mein Verhalten lässt sich nicht beschreiben. Ich habe sie angegriffen. Ich habe Peeta und Gale angegriffen, obwohl sie mir helfen wollten. Obwohl ich sie liebe. Ich erkenne mich nicht wieder. Ich bin nicht mehr dieselbe, die Heymitch gebeten hat, Peeta zu retten. Ich blicke auf mein Ich, als wäre ich auf einer Küste und erkenne die andere Küste, die Küste auf der mein wahres Ich sich befindet, gerade noch als grauen Schatten in weiter Ferne. Nein. Dies ist nicht richtig. Mein jetziges Ich ist nicht auf einer Küste. Es ist ein Boot, den der Wind schnell in die falsche Richtung treibt. Sollte sich der Wind drehen, wird es schon zu spät sein und die Küste nichtmehr auffindbar. Keine Küste wird zu finden sein, das blaue Wasser treibt mich und gibt mich nicht her. Keine Insel, kein Strand. Meine Familie ist darauf und wartet auf meine Rückkehr , sieht mich am Horizont vorbeiziehen, doch ich halte nicht. Ich habe keine Kontrolle über dieses Schiff. Irgendwann wird es kentern. Irgendwann wird das Essen ausgehen. Irgendwas findet sich kein Wasser mehr. Irgendwann macht mich die Gleichförmigkeit verrückt. Irgendwann bin ich weg, sterbe. Und vorher komme ich nicht zurück. Meine Familie wird ein Wrack bergen, doch mich finden sie nicht. Ich bin weg.
Mein physischer Schmerz wurde von ihnen genommen, doch manche Schmerzen lassen sich nicht nehmen. Diese Pein geht nie weg. Und meine Familie wird dies nie akzeptieren und ich werde immer mehr hinein gedrückt. Ich liebe sie, sie lieben mich. Immer wäre dies genug gewesen, aber jetzt nicht. Wenn ich sie liebe, sollte ich sie ziehen lassen. Wenn sie mich lieben, sollten sie mich hinfort reißen, nicht versuchen, das Wrack zu bergen. Doch so läuft es nicht bei mir. Ich gehe in meiner alles vernichtenden Art herum und reiße andere mit hinein. Zu viele haben dank mir gelitten und noch immer ist es nicht vorbei. Es wird wohl nie vorbei sein. Ich sollte aufhören, ich sollte gehen. Ich sollte, doch ich kann nicht. Ich will nicht. Solange sie mich lieben, kann ich nicht gehen.
Ich weine. Ich weine einfach. Doch tränenlos. Kann ich doch ohne Körper nicht weinen und mein Körper liegt noch in der Krankenstation, während ich die unterirdischen Gänge begutachte. Um mich herum geht die Routine weiter, sodass ich genau weiß, dass ich schon eine Woche im Koma liege. Ich konnte die Menschen sehen , die den gewöhnlichen Betrieb aufnahmen. Ich kenne viele Türen und weiß, wann sie sich öffnen. Ich kenne die Präsidentin Coin und ihr Gefolge. Ich kenne die Passwörter, mit denen ich an die Oberfläche komme und ich kenne die Oberfläche. Ich weiß, wo Gale, Peeta, Haymitch, meine Mutter, Prim und ihr Kater Butterblume wohnen. Ich weiß, dass Finnick wieder mit Annie vereint ist. Da ich in diesem Zustand keinen Schlaf, keine Pausen, keine Ruhe und keine Nahrung brauche, sparre ich sehr viel Zeit, um alles zu ergründen. Momentan renne ich draußen im Wald und versuche vor mir zu fliehen. Sinnlos, da dieses ich mich hier nicht erreichen kann. Es ist wohl an meinen Körper gebunden. Doch es bringt nichts, das alles zu wissen, bin ich doch hier gefangen. Selbst, wenn ich wollte, fliehen könnte ich nicht. Und ich will nicht.
Ich merke, dass ich mich dem Eingang wieder nähere und weiß, dass ich zurückkehren muss. Die Flucht nach Draußen hat nichts gebracht, ich habe nachgedacht. Sämtliches Wissen zusammeln konnte dies nicht aufhalten. Ich kann nicht von meinen Gedanken fliehen. Im Moment bin ich doch nichts anderes. Eine Sammlung Gedanken, gebündelt auf einen Punkt, des Körpers beraubt.
Ich warte nicht vor der Tür, dass sie sich öffnet. Ich weiß bereits, dass ich durch diese gehen kann, wenn ich mich meinem Körper nähere. Entfernen kann ich mich allerdings nicht so einfach. Die ersten Tage habe ich mich davor gedrückt, durch etwas einfach hindurch zu gehen. Ich wollte und will nicht wieder in meinen Körper. Ich will den Schmerz nicht. Ich will mein zweites Ich nicht. Ich will meine Kontrolle nicht verlieren. Ich will das Schiff nicht weiter vom Hafen entfernen.
Ich gehe hinunter, soweit hinunter, wie ich mich auskenne. Vielleicht kann ich jetzt die unteren Stockwerke erkunden. Hauptsache ich muss nicht mehr zurück. Hauptsache, meine Lieben sind sicher vor mir. Ich will ihnen nicht mehr weh tun. Ich hätte sterben sollen, schon vor langer Zeit. Stattdessen hänge ich hier fest.
Ich gebe mir Mühe, nicht zu denken, doch kann ich nicht anders. Und ich realisiere, wo ich bin. Vor Gales Zimmer. Die Tür steht offen und Gale sitzt mit den Rücken zu mir an einen Tisch. Obwohl ich weiß, dass er mich nicht sehen kann, schleiche ich mich an, bemüht, nicht einen Ton zu machen. Gale sitzt über ein Buch gebeugt, die mit eimer kleinen Handschrift beschrieben wurde. Tränen tropfen auf die Tischplatte und auf das Buch. Die Tinte verschmiert nicht. Manche Wörter und Absätze fallen sofort ins Auge, andere sehe ich nicht an.
Experiment 1 ist geglückt, Experiment 2 nicht. Fangen bald mit der Strafe an.
K wehrt sich stärker. Es kann nicht fortgefahren werden. Suchen nach Methoden, sie zu brechen, damit wir weiter machen können.
Es wurde festgestellt, dass die Personenmenge Einfluss auf die Wirkung hat. Dauer muss verlängert werden. Übergabe kann nicht geplant verlaufen.
A und J sind hinderlich. Person K wurde entfernt.
K hat versucht zu sterben. Überwachung verstärkt.
Am Schlimmsten ist der letzte Eintrag: Sie ist soweit. Drei kleine Worte, doch verstehe ich sie automatisch. Sie haben mich gehen lassen. Sie wollten, dass ich zu Peeta und Gale zurückkomme. Alles war geplant. Ich schreie. Ich drücke mir die Ohren zu, doch geht nichts. Gale schließt das Buch und schaut über seine Schulter. Er blickt mir geradewegs in die Augen. Seine sind vor Schmerz und Schock geweitet. Ich schlucke und höre zu schreien auf. Erst da signalisiere ich, dass nicht ich der Grund für Gales Reaktion war. „Ich kann nicht mehr, Gale. Eine Woche ist sie schon ohne Bewusstsein. Ihr Puls wird immer schwächer." Ich drehe mich um und erblicke Peeta direkt hinter mir. Sein Blick ist unglaublich. Wie kann ein Mensch soviel Schmerz empfinden? Sein Blick ist zwischen brennendem Feuer und den Augen eines toten Tiers. Mein Magen krempelt sich um. „Der Arzt meint, sie ist tot, wenn sie bis übermorgen nicht aufwacht." Mein Herz wird herausgerissen. Es scheint, als fliegt es vor mir her. Es schlägt wie das eines Vogels. Ich kann nicht anders und renne hinterher. Jeder Schritt quält mich. Ich habe das Gefühl, es ist schon vorbei. Meine Beine beugen sich kaum. Doch ich kann es ihnen nicht antun. Nicht diesen Schmerz. Nicht ihnen. Ich konnte sehen, was ich tat. Ich wollte dies nicht.
Ich sprinnte durch die Tür, sehe die Personen um mich. Sehe Prim, die ungefähr den gleichen schmerzhaften Blick aufweist, wie Peeta. Deshalb habe ich mich die vergangene Woche vor ihnen versteckt. Nicht aus Angst, sie könnten mich sehen. Ich hatte Angst, sie zu sehen. Ich gehe auf mich zu, wundere mich, warum ich mich nicht mehr vereine. Ist es zu spät? Ich ergreife sanft meine Hand, fühle den schwachen Puls. Ich flehe mich an. „Komm schon, Katniss! Ich weiß, dass du das kannst! Komm zurück! Du lässt sie nicht allein zurück!"
Panik ergreift mich und ich höre mein rasendes Herz, doch mein Puls ist immer noch gefährlich niedrig.
Und dann sehe ich es. Es schwebt, flattert, über mir. Es ist unsichtbar, nicht durchsichtig. Doch irgendwie kann ich es sehen. Es sinkt hinab, berührt meine Brust. Diese hebt sich vom Bett hinauf, begrüßt das fehlende Herz. Ich spüre, wie sich beide Pulse angleichen und einen viel zu schnellen Puls bilden. Ich sinke wieder in meinen Körper. Ich bin plötzlich ganz bedösed, Schmerzen spüre ich keine. Ich weiß nicht, wo ich bin. Alles schwirrt.
„Katniss!", schreit eine Stimme mit einem komischen Laut. Ich höre dieses gurgelnde, tränige, freudige Geräusch und bin bloß verwirrt. „Oh, Gott! Katniss!" Mit Gewalt öffne ich meine Augen und erhasche den blauen Blick von Prim.
„Prim... ", bringe ich mühsam heraus. Wolken blockieren mich. „Prim... Du... Ich..." Ich versuche, hoch zu kommen, doch nichts bleibt mir.
„Schhh, Katniss, ruhig!", flüstert sie mir zu.
„Mu-... Mutation...", gurgele ich schwach.
„Katniss, nein! Niemand ist eine Mutation! Peeta und Gale lieben dich!"
„Nein! Geh weg! Du... Mutation!", keuche ich. Meine Stimme wird panischer.
Prim ist eine von ihnen. Sie will mich töten!
„Was redest du da, Katniss? Ich bin Prim, deine Schwester!" Ihre Stimme klingt verändert. Gleich wird sie zu einer Bestie des Todes. Ich kreische. Ich kreische wie verrückt. Nichts stoppt mich.

Endlich habe ich das auch mal geschafft.

Pausiert gefangener SpotttölpelWhere stories live. Discover now