Gales Sicht Kapitel 3: Kätzchen

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Ich gehe mit Peeta zur Kommandozentrale. Wir schweigen uns an, seit Peeta aus Distrikt 12 zurück ist. Ich kann nicht ertragen, meine zerstörte Heimat zu sehen, solange Katniss in Gefahr ist. Ich kann mir nur noch Sorgen um sie machen. Ich kann mir selber vorstellen, wie es in meiner Heimat aussieht, denn ich habe gesehen, wie alles in Flammen aufging. Und jetzt wird geht auch mein Kätzchen, meine Katniss in Flammen auf. Sie ist im Kapitol und wird gefoltert. Damit sie für das Kapitol arbeitet. Ich kann mir gut vorstellen, was sie durchmacht, denn ich wurde selbst einmal ausgepeitscht. Mit dem Wissen ist es für mich schwer zu glauben, dass sie das alles für das Kapitol tut. Ich hätte das nicht getan. Doch für mich ist das nicht wichtig. Sie ist im Kapitol in Gefahr, sie wird gefoltert. Das Mädchen, das ich liebe wird von Snow gefoltert.
Eine unglaublich starke Wut auf Snow und alle Menschen im Kapitol breitet sich in meinem Körper aus. Sie haben so viele Kinder getötet! Sie haben Katniss in die Arena geschickt! Zwei mal sogar! Sie haben meine Heimat zerstört! Sie verletzen Kätzchen immer wieder, foltern sie! Dafür wird Snow bezahlen! Ich werde Katniss da raus holen, ich werde meinen Kätzchen helfen, sie beschützen und dann wird jeder von ihnen dafür bezahlen! Ich werde dafür sorgen, dass jeder Bewohner des Kapitols stirbt! Ich werde ihre Peiniger eigenhändig umbringen und wenn es das letzte ist, was ich tue! Ich werde Snow töten! Er wird für alles bezahlen, was er getan hat!
Ich will Rache für alles und hoffe, dass wir deshalb in die Kommandozentrale bestellt wurden. Es geht um die Propos, das wissen wir, doch mehr wissen wir nicht. Vielleicht wird uns ja gezeigt, was die Propos für Auswirkungen haben? Vielleicht sehen wir die Distrikte kämpfen? Vielleicht können wir Katniss endlich befreien?
„Ah, Soldat Hawthorne, Soldat Mellark! Da seid ihr ja!", ruft Beetee uns zu. Seine Stimme klingt ernst und angespannt. Irgendwas ist los. Muss er etwas schwieriges machen, oder ist etwas passiert?
„Ist etwas passiert?", fragt Peeta besorgt.
„Nein.", antwortet Haymitch. „Wir werden nur heute etwas Kapitols Fernsehen gucken."
„Wieso?", fragen Peeta und ich mit Misstrauen in der Stimme. Warum sollten wir gucken, was die Monster im Kapitol schauen? Was Snow dreht, um alle vom Krieg abzuhalten?
„Nun, ich habe eine Möglichkeit gefunden, in ihr Fernsehnetz einzudringen. Dort können wir dann ganz viel Chaos veranstalten. Wollen wir dann anfangen, die Sendung fängt gleich an?", erklärt Beetee.
Beetee hat es geschafft? Wir können die Propos im Kapitol zeigen?
Mir kommt Katniss in den Sinn. Wird sie wieder interviewt? Beim letzten Mal sah sie schon schlimm aus, wie sieht sie jetzt wohl aus?
Letztes Mal sah sie furchtbar aus.
Ihre Haare waren zu einem kleinen Dutt frisiert und sahen nicht gut aus. Ihr ganzer Körper war damals mit Branntwunden übersehen, nur ihr Gesicht nicht. Sie trug ein weinrotes Kleid mit goldenen Stickereien. Darunter waren in regelmäßigen Abständen überall Kapitol-Logos verteilt, vermischt mit Blumen und Bäumen und Vögeln, alle verschiedenen Vogelarten außer Schnattertölpel und Spotttölpel.
Das Kleid endete an der Mitte des Unterschenkels und fiel weit. Es hatte einen V-Ausschnitt und keine Ärmel. Ihr ganzer Körper war dick mit Make-Up eingekleistert und man konnte trotzdem jede Branntblase auf ihrer roten Haut sehen. Schon damals sah sie wirklich schlimm aus, doch wie wird sie jetzt aussehen?
Ich setze mich mit allen anderen auf die Stühle an dem Tisch. Peeta bleibt vorne stehen.
Der Bildschirm geht an und ich sehe Katniss und Caesar. Katniss sieht grauenhaft aus, schlimmer als ich mir vorstellen konnte. Sie ist dünn, nur noch Haut und Knochen. Ihre schönen, glatten, braunen Haare sind nur noch wenige Zentimeter lang und rußschwarz und brüchig, als wären sie weggebrannt. Sie trägt ein schneeweißes Kleid, dass an den Knien endet. Es hat keine Träger. Ein goldenes Muster aus kleinen Stickereien, die man kaum erkennen kann. Vielleicht, wie auch sonst, das Logo des Kapitols? Von der Form würde es ungefähr passen.
Das Studio sieht genauso aus, wie die letzten Male. Caesar sitzt, wie immer, auf einem gepolsterten, bequemen Sessel, während Katniss auf einem hart aussehenden Stuhl sitzt. Ihr ganzer Körper vom Hals abwärts ist mit Wunden übersät: Branntblasen, Kratzer, Peitschenwunden, riesige blaue Flecken, die meisten wie Hände geformt. Man sieht ihre normale Haut nicht, nur Wunden, die sehr schmerzhaft aussehen. Blut läuft an manchen Stellen über ihren schwachen Körper. Kein Make-Up kann die grausamen Wunden verdecken, die ihren gesamten Körper durchziehen. Ihr Gesicht ist dagegen fast unverletzt, dafür sind ihre Augen verquollen, als hätte sie geweint.
Ein Schluchzer entfährt meinem Mund bei ihren Anblick. Sie sieht so schwach und hilflos aus, verletzt und klein. Sie starrt geradewegs in die Kamera, ihre Augen leer. Die Folter scheint ihr alle Gefühle genommen zu haben, nur noch Angst und Schmerz scheint schwach aus ihrem Blick. Dort kann man keine Stärke mehr sehen, keine Freude, keine Liebe, nichts mehr von dem Mädchen, dass ich liebe. Das einst so starke Mädchen wirkt so zerbrechlich, als wäre sie aus Glas.
Caesar fängt mit fröhlicher Stimme an zu reden, was bei dem Anblick, der sich den Zuschauern bietet, nicht im geringsten verständlich ist. Der Gesamteindruck ist so bizarr! Ein Mädchen, schwach, verletzt, kurz vorm Tod, in einem strahlenden, teuren Kleid, ein fröhlicher Mann daneben. Es ist einfach nur falsch.
„Guten Abend, liebe Zuschauer! Heute haben wir wieder unsere reizende Katniss Everdeen zu Gast. Herzlich Willkommen!"
Mein Kätzchen antwortet nicht, sie starrt weiter sturr geradeaus, gefühllos. Klein und zierlich, verletzt und verwundet. Mein Kätzchen wirkt wie ein echtes verletztes Kätzchen. Sie wirkt stark eingeschüchtert. Ängstlich.
„Nun, Katniss. Der Krieg ist ja im vollen Gange und hat schon viele Opfer gefordert. Was hältst du davon?", fragt Caesar sie.
Katniss holt tief Luft. Für ihre Lage ist das keine leichte Frage. Ich kann ihr ansehen, dass sie in einem inneren Zwiespalt ist. In dem Moment startet Beetee seinen ersten Angriff.
Peeta steht mit einer schwarzen Spotttölpel-Uniform mit einer Flagge in der Hand da. Um ihn herum liegen Tote und Schutt und es raucht. Peeta blickt direkt zur Kamera und sagt: „Volk von Panem, wir kämpfen, wir wagen, wir wollen endlich Gerechtigkeit!"
Stille legt sich über die Kommandozentrale. Keiner feiert Beetees Erfolg. Alle blicken mit traurigen Blick auf den Bildschirm. Genau wie letztes Mal. Es scheint, als begreifen alle, dank Finnick, wie sehr sie leidet.
Katniss ist wieder zusehen, genauso zitternd und schwach wie vorher. Sie schreit Peeta an.
„Nein! Peeta! Peeta, bitte!"
Schon ist sie weg und Peeta ist wieder zu sehen, am Strand der Arena der 75. Hungerspiele. Peeta hat dort versucht, sie zu überzeugen, dass sie am Leben bleiben soll. So oft hat er versucht, sie zu beschützen. Er wollte oft sein Leben für sie geben. Deswegen hat er meine Achtung erlangt. Er blickt die Kamera direkt an.
„Katniss, ich liebe dich! Wir werden das Kapitol stürzen, für dich, für Annie, für uns alle!", sagt er leise und deutlich.
Katniss steht da und blickt verzweifelt in die Kamera. Schon daran kann ich erkennen, dass ihr einziger Wunsch ist, bei uns zu sein. Frei. Weg von Snow. Zu ihrer Familie und ihren Freunden.
„Peeta! PEETA! Ich liebe dich auch! Bitte, geh nicht!", schreit mein Kätzchen.
Erneut ist sie weg, nur noch Peeta ist zu sehen. Ich sehe den Anblick, den ich immer gefürchtet habe: Distrikt 12, verbrannt, zerstört. Tote auf den Straßen, in der Ecke des Bildschirms zu sehen. Peeta steht vor dem verkohlten Kamin von Katniss Haus im Saum.
„Volk von Panem! Ich bin in Distrikt 12 ... oder das, was nach den Branntbomben davon übrig ist. Sie haben unseren Heimatdistrikt zerstört, wie ihr alle gesehen habt. Wir dürfen das nicht ungestraft lassen!", ruft Peeta der Kamera zu.
Und schon ist Peeta wieder verschwunden und Katniss ist im Bild.
Die Menschen im Kapitol versuchen,die Kontrolle über ihren Sender immer wieder zu bekommen, ohne Erfolg.
„Peeta?", flüstert sie. So schwach und verzweifelt und klein. Sie hat schon so viel durchgemacht und sie muss noch so viel durchmachen. Für sie scheint es keinen Weg in den Frieden zu geben. Für sie scheint es nur noch Schmerz und Angst zu geben.
„Katniss? Was hältst du vom Krieg?", wiederholt Caesar, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht die Verwirrung in Katniss' Augen. Es ist klar, dass sie sich fragt, ob das wirklich passiert ist. Sie fragt sich, ob sie das alles nur halluziniert hat.
Dann ist Peeta wieder dort, genauso wie er vorhin stand.
„Wir sind ein Volk, wir alle! Jeder von uns, überall in Panem sind wir alle dasselbe. Menschen. Ob in Distrikt 2, in 5 oder 13. Selbst im Kapitol.", sagt er.
Katniss versucht mit aller Kraft von der Stelle zu kommen, nach vorne zur Kamera, aber sie kommt nicht weg. Ihr schwacher Körper kämpft mit etwas, Ketten oder so etwas, doch er ist zu schwach, um sich von der Stelle zu bewegen. Sie will weg, sie will frei sein. Sie will den Schmerzen entkommen. Wie kann ich ihr helfen? Wie kann ich sie befreien? Sie vor dem Grauen schützen?
Peeta ist wieder da. Er spricht zum Volk von Panem, er spricht zu Katniss. Er ist immer noch in Distrikt 12, immer noch vor Katniss' Haus.
„Sollten wir dann nicht alle gleichwertig sein? Sollten wir dann nicht gleichberechtigt sein? Die momentane Situation ist falsch. Unser Geburtsort sollte nicht darüber entscheiden, ob wir unser ganzes Leben lang um unser Überleben und das unserer Familien kämpfen, oder verwöhnt im Kapitol hocken mit mehr Kleidung, als wir in unserem Leben tragen können, mit mehr..."
Mitten im Satz stoppt die Übertragung.
Katniss wirkt noch verzweifelter als vorher. Obwohl sie steht, sich zur vollen Größe aufbaut und den Bildschirm anschreit, wirkt sie wie ein kleines Häufchen Elend.
„PEEEEEEETAAAA!", brüllt Katniss verzweifelt den Bildschirm an. Tränen fließen ihr über das Gesicht fast unverletzte Gesicht. Angst glitzert mit ihnen in den Augen um die Wette. Und ich schluchze. Mein Kätzchen, klein und zerbrechlich, verletzt, weint und ich kann ihr nicht helfen. Ich liebe sie und ich will sie beschützen. Sie ist doch noch ein kleines Mädchen, ein Kind! Sie ist so hilflos, so schwach, so verängstigt. Sie glaubt wahrscheinlich, sie würde darin sterben. Ich kenne sie. Sie ist stark, sonst wäre sie längst tot. Doch selbst sie wird das nicht ewig überleben. Irgendwann macht ihr Körper schlapp und das scheint nicht mehr lange zu dauern.
Ich sehe sie an, so verzweifelt klammert sie sich an den Anblick von Peeta auf dem Bildschirm, ajs glaube sie, das wäre das letzte mal, dass sie ihn sieht. Ihre Hilflosigkeit lässt mich selber so hilflos fühlen. Sie ist klein, jung. Wie hat sie alles überlebt? Wird ihr Wille, zu leben, noch lange halten? Wird sie nich am Leben sein, wenn wir sie retten kommen?
Alles, was ich will, ist, dass sie in Sicherheit ist, bei mir und meiner und ihrer Familie. Endlich wieder vereint.
„...Essen, als wir essen können, mit mehr Luxus, als wir gebrauchen können, während andere für deren Herstellung sterben! Mit der Rebellion gehört Hunger der Vergangenheit an! Mit der Rebellion gehören Ungerechtigkeiten der Vergangenheit an! Mit der Rebellion gehören Todesstrafen der Vergangenheit an! Niemand sollte entscheiden, wer das Leben und wer den Tod verdient hat! Wir sind ein Volk und wir wollen Gerechtigkeit!", sagt Peeta auf dem Bildschirm.
Der Bildschirm scheint Feuer zu fangen und dann taucht Katniss' Brosche auf. Der Bildschirm wird schwarz und in großen, rot leuchtenden Buchstaben leuchten die Worte auf:

Pausiert gefangener SpotttölpelWhere stories live. Discover now