Peetas Sicht Kapitel 3: Übertragung

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Ich gehe mit Gale zur Kommandozentrale. Wir laufen schweigend nebeneinander her. Schon die ganze Zeit, seit ich aus Distrikt 12 zurück bin, schweigen wir nur noch und das ist uns beiden nur recht. Wir können nicht miteinander über Katniss reden und über etwas anderes können wir auch nicht reden, sodass schweigen die beste Wahl ist.
Wir wurden beide in die Kommandozentrale bestellt, nur mit dem Wissen, dass es etwas mit den Propos zutun hat. Nur was?
„Ah, Soldat Hawthorne, Soldat Mellark! Da seid ihr ja!", ruft Beetee uns zu. Obwohl die Sätze an sich fröhlich wirken, lässt seine alles andere als gelassene Stimme auf den Ernst der Lage schließen. Beetee ist angespannt.
„Ist etwas passiert?", frage ich deshalb.
„Nein.", antwortet Haymitch. „Wir werden nur heute etwas Kapitols Fernsehen gucken."
„Wieso?", fragen Gale und ich misstrauisch. Was sollte uns das interessieren? Vielleicht ist Katniss dort zu sehen? Was ist da bloß los?
„Nun, ich habe eine Möglichkeit gefunden, in ihr Fernsehnetz einzudringen. Dort können wir dann ganz viel Chaos veranstalten. Wollen wir dann anfangen, die Sendung fängt gleich an?", erklärt Beetee.
Der Bildschirm geht an und ich sehe Katniss und Caesar. Es ist der selbe Studio vom letzten Mal: Caesar sitzt auf einem gepolsterten Sessel, Katniss hingegen auf einem schlichten Holzstuhl. Sie sieht furchtbar aus, viel schlimmer, als das letzte Mal.
Beim letzten Interview war Katniss körperlich unverletzt. Ihre glatten, braunen Haare waren ein winziges bisschen kürzer als in der Arena, aber das merkte man kaum. Ihr Gesicht war unverletzt und leuchtete, sie trug dezent Make-Up. Durch das bodenlange, hellblaue Kleid konnte man kaum was von ihrem Körper sehen, denn es wurde größtenteils von dem blauen Stoff überdeckt. Sie zuckte beim Wort ,,Flammen" merklich zusammen und eine Träne rollte über ihre Wange. Sie zitterte und weinte. Sie flüsterte, nuschelte und stotterte. Angst stand in ihrem Blick. Trotz allem konnte man damals keine körperlichen Schäden ausmachen.
Jetzt ist es ganz anders.
Sie hat deutlich sichtbar abgenommen. Ihre früher langen, braunen Haare sind jetzt nur noch kleine Stoppeln auf ihren Kopf, nur ein leichter Flaum. Die Haare scheinen weggebrannt zu sein, zumindest sind sie nicht mehr braun und glatt und glänzend, sondern rußschwarz und brüchig. Durch das schneeweiße Kleid, das an den Knien endet und weder Arme noch Schultern bedeckt, kann man die Wunden auf ihrem Körper sehen. Branntblasen und Kratzer und Striemen, wie damals die von Gale, als er ausgepeitscht wurde, blaue Flecke, so groß wie meine Handfläche, lassen keinen Platz für Haut ohne Wunden. Ihr ganzer Körper scheint nur aus Wunden zu bestehen, die ein großes Muster bilden. Viele der Wunden bluten noch. Nur ihr Gesicht ist fast unverletzt. Es scheint, als hätte jemand mit Mühe, aber erfolglos, versucht die Wunden mit tausenden Schichten Make-Up zu überdecken. Das weiße Kleid lässt jede Wunde genau herausstechen und irgendein goldenes Muster ist darüber verteilt.
Oh, meine arme Katniss!
Ich höre ein Schluchzen hinter mir, sehe mich aber nicht danach um. Ich kann meine kleine Katniss einfach nicht aus den Augen lassen.
Nun fängt Caesar an zu reden: „Guten Abend, liebe Zuschauer! Heute haben wir wieder unsere reizende Katniss Everdeen zu Gast. Herzlich Willkommen!"
Katniss antwortet nicht, sie starrt sturr geradeaus, sie reagiert nicht im geringsten.
„Nun, Katniss. Der Krieg ist ja im vollen Gange und hat schon viele Opfer gefordert. Was hältst du davon?", fragt Caesar sie.
Katniss holt tief Luft, als Beetee seinen ersten Angriff startet.
Ich stehe mit meiner schwarzen Spotttölpel-Uniform mit einer Flagge in der Hand da. Um mich herum liegen Tote und Schutt und es raucht. Ich blicke direkt zur Kamera und sage meinen Text: „Volk von Panem, wir kämpfen, wir wagen, wir wollen endlich Gerechtigkeit!"
Ich erinnere mich an diesen Tag. Meine allererste Aufnahme als Spotttölpel. Ich musste bloß diesen idiotischen Text aufsagen und durfte dann gehen. Es ging damals ganz schnell.
Finnick hat damals mit seiner Rede nach dem letzten Interview anscheinend alle tief getroffen, denn keiner freut sich, dass Beetee es geschafft hat. Keiner spricht, keiner jubelt, keiner lächelt auch nur. Alle wirken ziemlich bedrückt.
Ich kann wieder Katniss sehen. Sie zittert auf ihrem Stuhl und schreit.
„Nein! Peeta! Peeta, bitte!", schreit sie. Ich spüre die Tränen fließen. Meine arme kleine Katniss! Wie gerne ich sie beschützen würde! Warum kann ich nicht an ihrer Stelle dort sein? Mir ist alles egal, solange sie in Sicherheit ist!
Sie ist wieder verschwunden und stattdessen bin ich zu sehen, vor dem Strand aus der Arena, die die Filmcrew hinter mir projiziert hat. Ich wusste nicht, dass sie dieses Bild genommen haben. Es erinnert mich an den Kuss damals am Strand. Und als ich sie überzeugen wollte, am Leben zu bleiben, und doch nur das Gegenteil erreicht habe. Sie wollte sich für mich opfern. Ich sehe direkt in die Kamera. Damals wollte ich ihr direkt in die Augen schauen.
„Katniss, ich liebe dich! Wir werden das Kapitol stürzen, für dich, für Annie, für uns alle!", habe ich leise, aber deutlich, gesagt.
Wieder sehe ich Katniss. Sie steht, sie sitzt nicht mehr. Sie muss vorhin aufgestanden sein, als ich sie nicht gesehen habe. Als ich gezeigt wurde.
„Peeta! PEETA! Ich liebe dich auch! Bitte, geh nicht!", schreit Katniss. Sie scheint wirklich verzweifelt zu sein.
Erneut ist Katniss verschwunden. Ich stehe in Distrikt 12 vor dem Ofen von Katniss.
„Volk von Panem! Ich bin in Distrikt 12 ... oder das, was nach den Branntbomben davon übrig ist. Sie haben unseren Heimatdistrikt zerstört, wie ihr alle gesehen habt. Wir dürfen das nicht ungestraft lassen!", rufe ich in die Kamera.
Und schon bin ich wieder verschwunden und Katniss ist im Bild.
Die Menschen im Kapitol versuchen ständig, wieder die Kontrolle über ihren Sender zu bekommen.
„Peeta?", flüstert sie.
„Katniss? Was hältst du vom Krieg?", wiederholt Caesar, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht die Verwirrung in Katniss' Augen. Doch ich tauche sofort wieder auf dem Bildschirm auf. Anscheinend hat Beetee wieder die Kontrolle über den Sender. Es geht einfach mit meiner Rede weiter.
„Wir sind ein Volk, wir alle! Jeder von uns, überall in Panem sind wir alle dasselbe. Menschen. Ob in Distrikt 2, in 5 oder 13. Selbst im Kapitol.", sage ich.
Und wieder sehe ich nur Katniss. Sie versucht, nach vorne zu laufen, auf den Bildschirm zu, doch irgendetwas hindert sie daran. Sie rührt sich nicht von der Stelle, obwohl sie es mit aller Kraft zu versuchen scheint.
Ich sehe mich wieder auf dem Bildschirm zu ihr sprechen.
„Sollten wir dann nicht alle gleichwertig sein? Sollten wir dann nicht gleichberechtigt sein? Die momentane Situation ist falsch. Unser Geburtsort sollte nicht darüber entscheiden, ob wir unser ganzes Leben lang um unser Überleben und das unserer Familien kämpfen, oder verwöhnt im Kapitol hocken mit mehr Kleidung, als wir in unserem Leben tragen können, mit mehr..."
Mitten im Satz stoppt die Übertragung.
„PEEEEEEETAAAA!", brüllt Katniss verzweifelt den Bildschirm an. Tränen fließen ihr über das Gesicht. Und auch ich weine. Ich weiß nicht, wie lange ich schon weine. Ich liebe sie. Ich will sie beschützen. Sie so zu sehen, da komme ich mir so hilflos vor, denn ich kann ihr nicht helfen. Wird sie überleben, bis wir sie retten können? Wird sie sterben? Bei dem Gedanken sinke ich auf die Knie, sehe nur noch in ihre Augen. Bis ich wieder auf dem Bildschirm zu sehen bin.
„...Essen, als wir essen können, mit mehr Luxus, als wir gebrauchen können, während andere für deren Herstellung sterben! Mit der Rebellion gehört Hunger der Vergangenheit an! Mit der Rebellion gehören Ungerechtigkeiten der Vergangenheit an! Mit der Rebellion gehören Todesstrafen der Vergangenheit an! Niemand sollte entscheiden, wer das Leben und wer den Tod verdient hat! Wir sind ein Volk und wir wollen Gerechtigkeit!"
Ich verschwinde vom Bildschirm, der Bildschirm scheint Feuer zu fangen und dann taucht Katniss' Brosche auf. Der Bildschirm wird schwarz und in großen, rot leuchtenden Buchstaben leuchten die Worte auf:
„WIR SIND EIN VOLK UND WIR WOLLEN GERECHTIGKEIT!"
Die Buchstaben fangen feuer, leuchten immer greller, der Bildschirm fängt dann auch Feuer und alles verbrennt. Dann sehe ich erneut Katniss. Ich habe die geschnittenen Propos nie gesehen, weshalb ich mich wundere, dass Katniss auf dem Bildschirm ist und sich freiwillig für Prim meldet.
„Peeta?", fragt Katniss verwirrt, als sie wieder auftaucht.
Ich bin wieder auf den Bildschirm.
„Katniss, ... Das hier war dein Zuhause. Jetzt ist nichts mehr davon übrig. Gale hat deine Familie gerade noch daraus geholt, doch es war knapp. Meine Familie ... meine Familie ist tot. Sie haben es nicht mehr geschafft.", spreche ich zu Katniss, meiner kleinen Katniss.
„Snow hat alles zerstört, er zerstört Leben. Er verletzt jeden. Und du willst ihn einfach so davon kommen lassen?"
Das Bild wird schwarz. Ich sehe mich an der Bäckerei. In dem Haufen Schutt und Asche, mit dem geschmolzenen Metallofen. Ich schaue nicht in die Kamera, sondern auf den Boden. Wieder steigen Tränen in meine Augen, als ich mich dort sehe. Genau wie dem Peeta auf dem Bildschirm. Dieser eigentlich private Moment, schamlos für die Propos ausgenutzt. So stehe ich dort noch eine Weile da und schaue mir den Schrott auf den Boden an, bovor ich mich bücke und den Schutt durchwühle. Immer mehr Tränen sammeln sich in meinen Augen. Dann drehe ich mich endlich zur Kamera um. Ich schaue direkt hinein, bis der Bildschirm dunkel wird.
Schon bin ich wieder vor Katniss' Haus.
„Gerade du solltest ihn für alles bezahlen lassen wollen. Jeder in Panem hat einen Grund, ihn zu hassen. Du erst recht! Katniss, du kannst ihm nicht vertrauen! Hör auf, für ihn zu lügen."
Ich mache eine kurze Pause und gehe einen Schritt auf die Kamera zu. Ich kann mich nicht erinnern, darauf zu gegangen zu sein. Dann sage ich laut und deutlich: „Katniss, vergiss nicht, wer der wahre Feind ist. Vergiss nicht, wer dir all das antut. Vergiss nicht, ich liebe dich!"
Ich bleibe noch ein paar Sekunden stehen, bevor die Kamera mich ausblendet.
Katniss ist erstarrt, schaut einfach auf den Bildschirm.
„Lasst mich mit ihr sprechen, bitte!", flehe ich.
„Was? Wieso?", fragt Haymitch mich.
„Ich weiß es nicht. Ich muss es einfach."
Stumm nickt er. Ich blicke mich im Raum um. Die meisten schauen noch auf Katniss, nur Haymitch, Beetee und Präsidentin Coin blicken zu mir. Und Coin nickt.
„Gut. Beetee, kannst du eine Verbindung aufbauen?", fragt sie.
„Die leichteste Übung!", ruft er und macht sich ans Werk.
Ich sehe wieder zu Katniss und kann gerade noch beobachten, wie ihre Knie auf dem Boden aufschlagen. Sie wickelt ihre Arme fest um den Körper und versteckt ihr Gesicht darin. Ich höre sie laut schluchzen.
„Peeta... Oh, Peeta! ... Ich vermisse dich!", schluchzt sie.
Wie verzweifelt meine kleine Katniss in diesem Moment wirkt! Wie schwach und verletzlich! So schwach wirkte sie noch nie vorher, nicht an einer einzigen Sekunde seit ich sie kenne. Nicht einmal in den ungefähr zwölf Jahren und auch keine Sekunde vorher in diesem Interview.
„Ich vermisse euch alle!", schreit sie in einem verzweifelten Ton.
„Kann ich jetzt mit ihr sprechen?", flehe ich Beetee an. Ich kann nicht mehr warten.
„Noch fünf Sekunden, dann müsste die Verbindung stehen.", antwortet dieser. Im Kopf zähle ich bis fünf und spreche dann.
„Katniss? Katniss, kannst du mich hören? Katniss? Alles wird gut, Katniss!", sage ich und sehe, wie sie ihr Gesicht von ihren Augen hebt und mich ansieht. Ich weiß, dass sie mich gehört hat.
„Peeta? ... Peeta. Peeta!", flüstert sie und ruft sie abwechselnd in einem ungläubigen Ton.
„Katniss, ich verspreche dir, alles wird gut.", verspreche ich.
„Peeta, bist du das wirklich? Kannst du mich hören und sehen?", fragt sie noch immer ungläubig, während ihr weiterhin die Tränen über die Wange fließen.
Ich sehe die Friedenswächter auf sie zukommen und sie an den Armen packen. Verzweifelt sehe ich sie an und versuche, zu überlegen, was ich ihr noch dringend sagen muss.
„Peeta!", schreit sie, während ein Friedenswächter sich bückt und irgendwas an ihren Beinen macht. Ist sie an den Stuhl gekettet? Waren es Fesseln, die verhindert haben, dass sie auf den Bildschirm zu lief?
„Peeta! PEETA!", schreit sie unkontrolliert weiter und wehrt sich gegen die Friedenswächter, die sie wegzuzerren versuchen. Gegen die Kraft der drei Friedenswächter hat sie keine Chance und sie wird langsam weitergezogen, aus meinen Sichtfeld raus.
„Katniss! KATNISS!", rufe ich ihr hinterher.
„PEETA! BITTE, PEETA!", brüllt sie. „PEEEEEEETAAAA!!"
Nur an diesen Schreien weiß ich noch, dass sie mich noch hören kann.
Eines muss sie noch wissen, bevor sie veschwindet. Ein Versprechen, dass ich mir selbst immer wieder gebe.
„Katniss, ich verspreche dir, wir werden uns wieder sehen! Ich verspreche es! KATNISS!", schreie ich ihr zu. Hoffentlich gat sie es gehört.
„PEETA!", kommt der letzte Ruf, bevor ich eine Tür zufallen höre und ich weiß, dass sie mich nicht mehr hören kann.
Katniss ist weg. Sie wird mich nicht mehr hören. Ich klammere mich mit letzter Kraft an das Versprechen, dass ich ihr gegeben habe, während die Welt aus den Fugen fliegt.
Alle im Raum wirken genauso geschockt wie ich, außer Beetee, der das Programm noch immer kontrolliert und verschiedene Momentaufnahmen von Katniss' größten Momenten als Spotttölpel einbringt: wie sie auf der Bühne steht und in die Ferne schaut, wie sie Rue bestattet, wie sie ihren Arm hebt und die Abschieds-Geste macht, wie sie sich bereit macht, die giftigen Beeren zu schlucken, ...
Immer mehr dieser Momente prasseln auf mich ein und lassen die Welt flackern. Die Ränder werden schwarz und dunkel und dann ist alles schwarz.

Pausiert gefangener SpotttölpelWhere stories live. Discover now