Kapitel 2: Verwirrung

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Schmerz. Seit Wochen ist das alles, was ich spüre. Schmerz. Es gibt keinen Weg hinaus. Schmerz, der von meinem Körper zerrt. Schmerz, der mich zum Tod bringen will. Ein Ende, den ich willkommen heißen würde, den ich akzeptieren würde. Doch eine gemeine Kraft zieht mich immer wieder zurück, zieht mich in diesen unüberwindbaren Schmerz zurück. Lässt mich nicht gehen.
Zeit? Eine uninteressante Sache. Raum? Unwirklich. Personen? Nicht existent. Für mich existiert nur dieser Schmerz, der mich seit Wochen gefangen hält.
Snow hatte recht.
Jetzt werden Sie lernen, dass es nichts gutes ist, der Spotttölpel zu sein. Dass es nichts gutes ist, das Mädchen, dass in Flammen stand, zu sein.
Ich musste lernen, dass diese mir auferlegte Rolle nichts ist, dass man haben möchte. Flammen, die an meinem Körper zerren, sind meine gesamte Wirklichkeit. Die Welt um mich herum ist unwirklich, Erinnerungen nur noch wie ein ferner Wunschtraum. Wie gerne ich in die Vergangenheit flüchten würde! Wie gerne ich in Distrikt 12 wäre und kurz davor wäre, vor Hunger zu sterben! Wie gerne ich in der Arena wäre, mit dem Tod vor Augen! Wie angenehm der Tod jetzt wäre! Wie ein weiches Bett, in dass ich mich zum schlafen lege. Jetzt, ohne die Möglichkeit des Todes vor Augen, wirkt es wie etwas schönes. Etwas wunderbares. Ich weiß, dass ich für meine Schwester, meine Mutter, für Gale, für Peeta, für Rory, für Posy und für Vick durchhalten muss. Doch es ist schwer, bei den Schmerz, der meine Sinne benebelt, an etwas anderes als diesen zu denken, es ist schwer, sich daran zu erinnern, stark zu sein. All meine Lieben sind mir in diesen Augenblicken so fern. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Ich wünsche mir, bei ihnen zu sein, doch nicht sie bei mir. Ich könnte es nicht ertragen, sie in Snows grausamen Händen zu wissen.
,,Ich frage dich schon zum hundertsten Mal: Was weißt du über die Rebellion?", fragt mich Snow erneut. Eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich weiß gar nichts über die Rebellion.
,,Ich schwöre, ich weiß nichts!", rufe ich verzweifelt und erneut flammt der Schmerz, wortwörtlich, über meinen kompletten Körper. Ich werde bestraft dafür, etwas nicht zu erzählen, von dem ich nichts weiß. Auch Johanna wird gefoltert.
Doch nicht Annie, die sie nach meinem Interview hergebracht haben. Sie ist in der Zelle neben meiner und drückt sich schreiend die Ohren zu. Sie möchte diese grausamen Schreie nicht hören, die ich immer wieder vor Schmerz ausstoße. Langgezogene, qualvolle Schreie.
Wir Sieger sind unwichtig für das Kapitol geworden. Nur die nicht vorhandenen Informationen zum ,,Dank", sind wir noch am Leben. Wann werden sie merken, dass wir nichts wissen? Wann werden sie merken, dass wir nichts sagen? Wann werden sie so gnädig sein und uns umbringen?
Wahrscheinlich werden sie uns nie glauben. Für immer hängen wir hier fest.
Werden uns diese Rebellen irgendwann befreien? Werden wir irgendwann einmal hier rausgeholt?
,,Vielleicht bist du ja bereit, etwas anderes zu sagen, dass ich gerne hören möchte?", flüstert mir Snow zu und die Angst steigt in einer erneuten Welle über mir an und versucht mich zu ertränken. Was hat dieser grausame Mann jetzt wieder vor?
,,Bringt sie nach oben!", sagt er noch den Friedenswächtern und verschwindet dann.
Brutal öffnen die Friedenswächter meine Ketten, fesseln mich und schleppen meinen zerschundenen Körper hinfort. Die Wunden meines Körpers protestieren gegen jede Bewegung, Panik verteilt sich in meinem Körper und verstärkt sich mit jeden einzelnen Schlag meines zu schnellen Herzens. Die Angst lässt mich nicht atmen. Wie soll ich diese Tortur nur überleben? Will ich es überhaupt noch überleben?
Ich höre ein erschrockenen Laut, wie ein schnappen nach Luft. Es ist komisch, dass ich schon durch dieses Geräusch weiß, wo ich bin. Ich bin in dem Badezimmer, indem ich für das Interview fertig gemacht wurde. Cinna ist hier. Und Flavius. Octavia. Auch Venia.
Ich spüre, wie die Friedenswächter meine Fesseln entfernen und es ist wieder wie vor dem letzten Interview. Ich schaue abwechselnd in die Augen von Cinna, Venia, Octavia und Flavius und ich kann nicht glauben, dass diese vier Menschen immernoch am Leben sind. Sie alle wirken genauso, wie letztes Mal.
,,Schätzchen, was ist denn mit dir passiert?", fragt Octavia entsetzt. Ich antworte nicht. Ich kann darüber nicht reden. Viel zu viel schlimmes ist in den letzten Wochen passiert.
Cinna steht aud und kommt zu mir. Er bückt sich und flüstert in mein Ohr: ,,Nicht die Hoffnung aufgeben. Sie kommen und retten dich. Halte durch."
Ich starre ihn ungläubig an. Das ist alles? Ich soll noch hoffen, dass Peeta kommt? Mehr hat er nicht zu sagen? Ich halte nicht mehr durch! Das ist zu viel!
Die vier machen mich fertig, versuchen mich gut aussehen zu lassen, doch so einfach ist das nicht. Meine Haare sind bis zur Hälfte abgebrannt und sie schaffen meine Flechtfrisur so nicht mit den zu kurzen Haaren. Zum Schluss entscheiden sie sich für einen kleinen Dutt. Mein ganzer Körper ist mit Branntwunden übersehen, nur mein Gesicht wurde verschont. Bei dem Kleid vom letzten Interview, den hellblauen mit den Kapitol-Logos, wäre das nicht so schlimm, da eh alles von Stoff überdeckt wäre, doch jetzt ist das ein echtes Problem:
Das heutige Kleid ist Weinrot mit goldenen Stickereien. Darunter sind wieder in regelmäßigen Abständen überall Kapitol-Logos verteilt. Vermischt mit Blumen und Vögeln, alle verschiedenen Vogelarten außer Schnattertölpel und Spotttölpel, Bäume sind ebenfalls aufs Kleid gestickt.
Das Kleid endet an der Mitte des Unterschenkels und fällt weit. Es hat einen V-Ausschnitt und keine Ärmel. Mein Rücken, die am schlimmsten verbrannte Stelle, ist aber vollständig bedeckt. Alle Zuschauer werden sofort sehen, dass ich gefoltert wurde.
Venia, Octavia und Flavius kleistern mich mit sehr viel Make-Up an Armen, Beinen, Dekolleté und Hals zu, nur mein Gesicht schminken sie nur schlicht. Doch irgendwann stellen sie mich vor den Spiegel und ich kann sehen, dass all das Make-Up nichts gebracht hat. Ich sehe noch genauso schlimm aus wie vorher. Eine Mutation aus Branntblasen. Die gesamte Haut ist rot. Doch vielmehr wundert es mich, dass ich überhaupt noch Haut habe. Müsste sie nicht vollständig abgebrannt sein nach zwei oder drei Wochen in Gefangenschaft? Snow foltert mich doch die ganze Zeit damit!
Ich werde weggeschleppt und ins Studio gebracht. Es ist wie beim letzten Interview: Die Friedenswächter bringen mich gefesselt dorthin und lösen dort die Fesseln. Dann werden meine Füße an den harten Holzstuhl gekettet, auf dem ich schon letztes Mal saß und die Friedenswächter gehen aus dem Bild.
Ich warte auf Caesar und überlege, was ich dieses Mal sagen soll. Beim letzten Interview wusste ich nicht, dass ich sowieso gefoltert werde, egal was ich sage. Dieses Wissen könnte ich nutzen und Peeta sagen, dass ich gegen das Kapitol bin. Bei dem bloßen Gedanken stellen sich meine Haare allerdings bereits vor Angst auf. Ich bin dazu zu schwach. Ich traue mich das nicht. Ein toller Spotttölpel bin ich! Selbst mit dem Wissen, dass es nicht schlimmer werden kann, bin ich zu feige, auf der richtigen Seite zu stehen! Wie konnte es mit mir als Spotttölpel bloß zu einer Rebellion kommen?
Caesar kommt und macht es sich auf seinem Sessel gemütlich, während ich zu ihm hin schaue. Er wirkt gelassen und fröhlich, als würde ihn das ganze nicht kümmern. Für die Menschen im Kapitol ist das gar nichts. Für sie sind die Hungerspiele einfach nur Spiele. Nur ein Sportereigniss im Fernsehen, kein brutaler Massenmord. Wie ich diese Menschen hasse! Ihnen ist ihr eigener Vorteil wichtiger als andere Menschen!
,,Bist du bereit, Katniss?", fragt mich Caesar.
Bereit... Ich bin nicht bereit. Ich kann nicht die Dinge sagen, die Snow hören will. Doch genauso wenig kann ich der Spotttölpel sein. Was soll ich sagen? Ich bin nicht bereit für dieses Interview. Ich bin für nichts bereit. Ich will nach Hause. Zurück in die Zeit, in der meine einzige Sorge meiner Schwester galt. Zurück in die Zeit, in der ich jeden Tag mit Gale jagen ging. Doch diese Zeit ist lange vorbei. Vieles dieser Dinge gibt es nicht mehr. Mein Zuhause existiert nicht mehr. Gale und Prim sind vielleicht tot. Ich bin allein. Meine Liebsten sind vielleicht alle tot. Ich kann mir nur noch Sorgen um mich machen. Ich will weg. Ich hätte meine Familie schnappen sollen und mit Gale flüchten sollen, wie er es vorgeschlagen hatte. Doch es ist zu spät. So lange ist das her. Es ist in einer ganz anderen Zeit geschehen. An einem ganz anderen Ort. Alles hat sich verändert. Wir existiert nicht mehr. Nur noch Snow und ich sind da.
Tränen rollen über meine Wange. Ich habe alles verloren. Ich hätte mich in der Arena töten können und Peeta hätte gewonnen. Meine Familie wäre noch da.
,,Katniss?", fragt Caesar erneut. Ich antworte ihm nicht.
,,Katniss, gleich fängt es an.", sagt Caesar. Ich sehe ihn bloß stumm an. Die Tränen rollen noch immer über meine Wange.
Ich muss Peeta erneut anlügen.
Eine Stimme halt, genau wie letztes Mal, in dem Raum: ,,Kamera läuft in fünf, vier, drei, zwei ..."
,,Guten Abend, meine lieben Zuschauer! In den vergangenen Wochen ist sehr viel passiert. Doch wie sollen wir diese Geschehnisse verstehen, wenn wir das Ereigniss nicht verstehen, durch das alles anfing? Genau aus diesem Grund haben wir wieder eine ganz spezielle Person zu Gast! Willkommen, Katniss!", sagt Caesar fröhlich. ,,Nun, Katniss. Erzähl uns doch von dem letzten Tag in der Arena. Erkläre uns, warum du den Pfeil ins Kraftfeld abgeschossen hast. Erkläre uns, was damals wirklich geschah."
Ich soll von der Arena erzählen? Wieso? Und was soll ich sagen? Ich weiß doch selbst kaum, was geschehen ist! Alles scheint nur noch ein wirres Durcheinander!
,,Ich ... kann mich selbst kaum erinnern ... Alles ist ... wirr ... unecht ... als wäre es bloß ein Traum ... ich weiß nicht, wie ich das erklären kann ...", antworte ich wahrheitsgemäß.
,,Wegen des Schlags auf deinen Kopf?", fragt Caesar.
Schlag auf meinen Kopf? Meint er das, als Johanna mir mit der Drahtrolle auf den Kopf geschlagen hat? Als sie mich angegriffen hat?
,,Nicht nur ... es ist schwer zu erklären ... es ging einfach plötzlich alles drunter und drüber ... es ging alles so schnell ... es blieb keine Zeit, nachzudenken.", sage ich, immer noch wahrheitsgemäß. ,,Wissen Sie, was ich meine?"
,,Ich denke, schon.", antwortet Caesar.
,,Das kommt alles zusammen. Ich erinnere mich nur noch an wenige Bruchstücke, doch ich kann nicht sagen, ob es wirklich so geschehen ist.", erkläre ich.
Warum sage ich ihnen die Wahrheit? Warum erkläre ich ihnen meine Lage? Warum versuche ich ihnen meine Gefühle nahezubringen? Sie halten mich gefangen und foltern mich! Sie versuchen, mich zu brechen! Ich bin ihnen egal. Meine Gefühle sind ihnen egal. Sie wollen mich brechen, so viel nutzen aus mir schlagen, wie sie bekommen können. Und anschließend töten sie mich. Ich müsste sie angreifen. Ich müsste mich dagegen wehren. Ich müsste wollen, dass sie fallen. Ich müsste Peeta sagen, er soll die Rebellion unterstützen. Warum mache ich das nicht? Warum beantworte ich ihre Fragen, wenn ich kann? Warum tue ich so, als wäre ich auf ihrer Seite?
Ich bin schwach. Ich kann nicht kämpfen. Ich bin zu schwach, bin bloß ein kleines Kind. Mehr nicht. Ich bin ein Kind, das in einem hilflosen Versuch, meine Schwester zu retten, ganz Panem zerstört. Ich habe nicht mit Absicht zerstört. Ich habe zerstört, aber ohne es zu wollen. Es war nie meine Absicht, diesen Krieg anzuzetteln, doch habe ich es getan. Und deshalb bestrafen sie mich.
,,Woran kannst du dich noch erinnern?", fragt Caesar.
Ich muss überlegen. Mein Kopf ist wirr, fast wie ein Schwindelgefühl. Alles dreht sich.
,,Ich habe mit Johanna den Draht ausgerollt. Sie hat mich angegriffen. Die Kanone hat geknallt. Ich stand am Baum und da waren Finnick und Enobaria. Peeta hat nach mir gerufen. Das Kraftfeld flog in die Luft. Alles durcheinander. Ich weiß nicht, was zuerst geschehen ist.", flüstere ich.
,,Doch warum hast du den Pfeil abgeschossen? Was ist da passiert?", bohrt Caesar weiter.
,,Ich weiß es nicht. Es gab keine Zeit, nachzudenken, wie bereits gesagt. Es war alles bloß Impuls, was da passiert ist. So funktionieren die Hungerspiele nunmal. Wer keinen guten Impuls hat, überlebt den ersten Tag nicht.", erkläre ich.
,,Danke, Katniss. Das war sehr interessant. Damit können wir das für heute beenden. Vielen Dank und bis zum nächsten mal!", sagt Caesar.
Die Kameras schalten sich sofort aus und die Friedenswächter kommen auf mich zu, sie schleifen mich fort. Zurück in die Hölle...

Pausiert gefangener SpotttölpelNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ