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"Ihr lernt nicht für Chemie, oder?", fragte Danny als wir wenig später auf dem Boden meines Zimmers saßen.
Nicht im Geringsten überrascht darüber, dass er mich bei meiner Notlüge ertappt hatte, nickte ich: "Dir ist klar, dass das ganz schön unheimlich ist, oder?".
Mein Bruder zuckte mit den Schultern: "Nicht unheimlich, nur offensichtlich und ungeheuer praktisch".
Ich verdrehte die Augen und nestelte an einer der Teppichfransen herum: "Du bist seltsam".
"Und du eine schlechte Lügnerin", entgegnete er grinsend.
"Also was macht ihr wirklich. Ich bin mir so sicher, dass ihr heute Chemie lernen werdet, sowie Mum sich bei Patty zum pokern trifft".
Ich seufzte: "Manchmal fühl ich mich echt gestraft mit dir". Trotzdem streckte ich meinen Arm nach meiner Nachttischschublade aus und fischte das schräg zusammen gefaltete Collegeblockblatt mit Henrys "letzten" Worten für seine Familie heraus. Das ganze sollte so aussehen, als hätte er den Brief irgendwann mal verfasst, einfach für den Fall. Und um ehrlich zu sein, war ich schon ziemlich stolz auf mich, ich hatte Henrys Handschrift (die ich an Hand alter Galgenmännchenpartien und Kritzeleien auf den Rändern meines Blockes rekonstruiert hatte) ziemlich gut getroffen. 

Ich wedelte mit dem Blatt vor Dannys Nase herum: "Eine Sache zu ende bringen".
Wissend nickte er: "ich frag besser gar nicht, wie ihr das anstellen wollt", winkte er ab. Ich grinste halb und legte den Brief zurück auf meinen Nachttisch.
"Und wann geht diese super geheime Mission los?", erkundigte Danny sich scheinheilig und spielte nun ebenfalls an den weißen Fransen meines Teppichs herum. Ich blickte auf die Uhr: "In zwanzig Minuten".

"Na dann", Danny erhob ich und klopfte sich den imaginären Staub von seiner Jeans.
"Will ich dich nicht aufhalten", damit verschwand er aus meinem Zimmer. Ich blieb noch auf dem Boden vor meinem Bett sitzen, wartete auf die vertrauten Geräusche. Wie er das Cello auf dem Boden setzte, er selbst auf dem knarzenden Stuhl Platz nahm und dann sanft den Bogen auf den Seiten platzierte, bevor er ihn federleicht darüber zog und eine Melodie, so vertraut wie mein Bruder selbst, sich einen Weg durch den Flur bereitete und von dort aus ins ganze Haus.
Mit einem seufzen richtete ich auf und sah nach draußen. Der Himmel war Regen verhangen und unsere Regentonne war im Begriff überzulaufen. 

Und ausgerechnet jetzt musste ich raus. Jetzt wo meine Haare gerade getrocknet waren. Manchmal würde ich echt gerne in der Südsee leben, irgendwo wo es nicht 75% des Jahres regnte. Aber nein, wo musste ich leben, da wo nur 25% des Jahres kein Wasser vom Himmel kam - von Sonne jetzt mal gar nicht zu reden.

Den Brief in meine hintere Hosentasche gestopft ( Henry wollte schließlich, das er authentisch aussah und wenn ich an seine alten Hefte denke, kann der Aufenthalt des Briefes in meiner Hosentasche nicht schaden schleppte ich mich die Treppe runter.
"Mum? Ich leih mir deinen Regenmantel", brüllte ich, da ich keine Ahnung hatte, wo Mum gerade war und auf Nummer sicher gehen wollte, dass sie mich hörte. Ich bekam keine Antwort. Schulter zuckend schlüpfte ich ein Paar Schuhe, in denen meine Füße nicht beim geringsten Kontakt mit Regen direkt nass waren und griff nach Mums roten Regenmantel mit den weißen Punkten. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen trat  ich aus der Tür und fühlte mich alles in allem wie ein wandelnder Fliegenpilz.

Mein Fahrrad stand kläglich in der Ecke vor der Garage, wenn ich so weiter machte, würde es garantiert bald durch gerostet sein. Ich vergrub die Hände in den Manteltaschen, senkte den Kopf gegen den Wind und machte mich auf den Weg zu der Adresse die Rebecca mir genannt hatte. Zur Wanderwallstreet waren es nur fünf Minuten, die man wunderbar zu Fuß zurück legen konnte. Außerdem würde mein Fahrrad vor dem Haus von Rebeccas Babysitterfamilie ziemlich seltsam, wenn nicht sogar verdächtig aussehen.

In der Einfahrt zu Nummer fünf stand kein Auto. Niemand zu hause. Ich spähte hinüber zu Nummer sieben. Kein Auto, kein Fahrrad. Offensichtlich niemand da. Sehr gut.

Ghosts of EleoOnde histórias criam vida. Descubra agora