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l o l a

ICH HATTE DAS erste Mal seit drei Tagen eine Jeans an. Jeans-Tage bedeuteten in dieser neuen Lola-Realität einen Besuch in Dr. Singhs Büro. Sie waren mit einem ermutigenden Kaffee verbunden, den meine Mutter mir jedes Mal aufs Neue in einer Tasse bedruckt mit unzähligen kleinen Sonnenscheinen auf der Kücheninsel platzierte, die sie mir bei einem ihrer Trips in den Supermarkt Ann Arbors mitgenommen hatte. Außerdem mit einer fünfzehnminütigen Autofahrt zum Trinity, die mich vermutlich eher sieben gekostet hätte, hätte ich nicht den Umweg genommen, um auf keinen Fall an der Dexter High School vorbeizufahren.

„Gibt es etwas, über das du heute mit mir sprechen willst, Lola?"

Mein Blick glitt über Dr. Singhs spärliche Weihnachtsdekoration, die aus einem künstlichen Miniaturtannenbaum und einer Christmas Cookie-Duftkerze bestand, die ich noch nie brennen hatte sehen, deren Duft aber trotzdem immer in der Luft zu liegen schien, wenn ich den Raum betrat. Weihnachten war schon drei Tage her. Ich hatte kaum mitbekommen, wie die Feiertage vorbeigezogen waren, doch auf diesem Sessel kam ich selten umhin, mich Einsichten wie diesen zu entziehen.

„Meine Tante und meine Großeltern waren zu Besuch", gab ich schließlich zurück und zwang mich, ihr dabei ins Gesicht zu sehen. Das war eine der Sachen, in der ich in den letzten Wochen zunehmend schlecht gewesen war – den Leuten in die Augen zu schauen. Besonders wenn ich das Gefühl hatte, sie konnten meine errichtete Fassade der Normalität mit nur einem Blick durchschauen. Dr. Singh hatte dafür eine ganz besondere Begabung (aber vielleicht war es auch ihr Doktor in Psychologie). „Es war das erste Mal, dass wir Weihnachten nicht in Phoenix gefeiert haben."

Dr. Singhs Lippen verzogen sich zu dem professionellen Lächeln, das ich mittlerweile in- und auswendig kannte. „Das war nett von ihnen, nach Michigan zu kommen, oder nicht? Du musst dich gefreut haben, deine Familie bei dir zu haben."

Ich nickte, obwohl wir beide wussten, dass sie gar nicht erst hätten kommen müssen, wäre ich in der Lage gewesen, in einen Flieger zu steigen wie jeder andere Mensch auch. Dass man sich verbog und verbog, um mir gerecht zu werden, obwohl ich mir nichts mehr wünschte, als wieder zum Alten zurückzukehren.

„Hast du denn deine Freunde gesehen?", fragte sie, als sie bemerkte, dass ich das Thema selbstständig nicht weiter erkunden würde. „Sie angerufen oder Besuch bekommen?"

Mein Verstand zuckte zu Blake, zu seinen Worten, die mich bis heute noch immer durchrüttelten und jeden Gedanken ins Wanken brachten. An den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er verschwunden war. Die ohrenbetäubende Stille, die ganz allein meine Schuld gewesen war und in der ich noch gesessen hatte, bis meine Mutter mit unzähligen Einkaufstüten durch die Tür gestolpert war.

Ich überlegte einen Moment lang, ob ich lügen sollte. Ob ich ihr die Antwort geben sollte, die ich ihr bisher bei all unseren Treffen parat gehabt hatte. Vermutlich wäre es leichter gewesen. Nicht darüber zu sprechen, nicht darauf einzugehen, dass ich ein emotionaler Eisblock war, der nicht zur Ruhe kam.

Immer wieder redete ich mir ein, dass der einzige Grund, warum ich überhaupt noch zu meinen Terminen mit Dr. Singh ging, meine Mutter war, die mich mit Argusaugen beobachtete und deren Sorge ich schlichten wollte, indem ich alle paar Tage für eine Stunde in diesem Büro saß und die Diplome an ihrer Wand anstarrte.

Aber wenn ich ehrlich war, dann hatte ich diesen inneren Drang, von ihr geheilt zu werden. Jedes Mal trat ich über ihre Türschwelle und erwartete, dass ihr prüfender Blick und ihre analytischen Fragen von ganz allein die Albträume und dieses Gefühl der völligen Entfremdung in mir auflösen würde. Doch kein einziges Mal hatte ich mich anders gefühlt, wenn ich danach wieder in mein Auto gestiegen und zu dem Bungalow gefahren war, der nicht mein Zuhause war, obwohl ich nur fünfzehn Minuten von hier ein Zimmer besaß, auf das das zutraf.

all night long | ongoingWhere stories live. Discover now