3 7 | b e r u f u n g

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l o l a

ES WAR, ALS würde ich ein Schlachtfeld betreten. Mit Rauchschwaden, die mir das Atmen schwer machten und meine Augen brennen ließen, sich aber so weit lichteten, dass ich die Blutspuren an den Spinden erkennen konnte. Ich stolperte über etwas, nur um zu realisieren, dass es der Arm eines Mathelehrers war, der mir heute Morgen im Lehrerzimmer erst einen Kaffee angeboten hatte.

Ich robbte zur Seite und wich seinem starren Blick aus, erkannte, dass die Gläser an der Tür gegenüber ebenfalls gesplittert waren. Ich ahnte, dass es in diesem Klassenzimmer ähnlich schlimm aussah wie in dem, aus dem ich gerade gekommen war.

Dumpfe Schritte ertönten, die sich in mein Mark und Bein bohrten. Metall traf auf Metall. Als ich einen Blick über meine Schulter wagte, erkannte ich die hagere Gestalt hinter mir, die mit dem Lauf des Gewehrs gegen die Spinde trommelte.

Eine Gasmaske saß auf seinem Gesicht. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis ich ihn unter dem zu großen Shirt erkannte, aus dem seine knochigen Schultern herausragten.

Mein Atem stockte. „Malcolm?"

Sein Blick fiel auf mich. Ich ahnte, dass es das letzte Wort war, dass ich je ausgesprochen hatte.

Er griff sich ins Gesicht und ich zuckte zusammen, weil jede seiner Bewegungen in diesem Moment tödlich erschien. Doch statt seine Finger an den Auslöser des Gewehrs zu legen, zog er sich die Gasmaske beiseite.

„Was machst du denn?", brachte ich hervor, als er mir sein Gesicht entblößte. „Gott, Malcolm, was tust du hier?"

Zu meiner Überraschung verharrte er, wo er war. Nur zehn Meter vor mir. Nicht weit weg genug, als dass ich einen Fluchtversuch hätte starten können und immer noch nah genug, um mich innerhalb eines Sekundenbruchteils niederzustrecken. „Sehen Sie nicht so überrascht aus, Miss West. Sie waren es doch, die gesagt hat, dass wir Menschen nicht mögen müssen, um sie zu verstehen."

Mein Herz pochte so wild, dass ich Angst hatte, es würde jeden Moment versagen. „Was?"

Der Fänger im Roggen", erwiderte Malcolm, als würden wir ein völlig normales Gespräch über die Lektüre im Englischunterricht führen. „Sie haben zu mir gesagt, dass wir Menschen nicht mögen müssen, um sie zu verstehen. Dass wir etwas von ihnen lernen können–"

„Du solltest etwas von deinen Mitmenschen lernen", entgegnete ich verzweifelt. „Du solltest sie nicht umbringen."

Sein Gesicht verzog sich zu einer wütenden Maske. „Das sind alles Wichser! Sie alle haben es verdient zu sterben!"

Ich starrte ihn an und versuchte dieses Bild vor mir mit dem Jungen zu vereinen, den ich in der letzten Reihe im Unterricht hatte sitzen sehen. Doch es schien nicht zu funktionieren. Ich schien nicht realisieren zu können, dass dieser siebzehnjährige Junge eine so grauenvolle Tat begehen konnte.

„Warum?", fragte ich. „Was haben dir Alana und Ezra getan?"

Sein Blick wanderte über meine Schulter in Richtung des Klassenzimmers, in dem ihre Leichen lagen. Etwas wie Verunsicherung mischte sich zu seiner Wut. „Sie alle sind schuld. Sie sind alle gleich!"

„Niemand ist das", erwiderte ich und richtete mich vorsichtig, mit ausgestreckten Händen auf. „Und nichts rechtfertigt das, was du gerade tust."

Seine Hände wanderten blitzschnell an seine Waffe. Bevor ich blinzeln konnte, sah ich bereits in den Lauf des Gewehrs. „Seien Sie still!"

Ich schluckte heftig. Die Angst saß so tief in mir, dass ich meine Hände vor mir kaum stillhalten konnte. „Tu' das nicht, Malcolm."

„Ich kann Sie erschießen", mahnte er mich, die Waffe noch immer auf mich gerichtet. „Ich muss einfach nur abdrücken."

all night long | ongoingWhere stories live. Discover now