4 2 | k l e i n e s b i s s c h e n

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l o l a

DIE MEISTE ZEIT über fühlte ich mich, als würde ich an der Wasseroberfläche treiben. Als wäre ich den Wellen ausgeliefert, die mich zu jedem Zeitpunkt verschlucken konnten. Immer wieder wurde ich von ihnen übermannt, versuchte mich wieder nach oben zu kämpfen, auch wenn ich nicht wusste, wo oben oder unten war. Jeglicher Frieden zwischen diesen Momenten schien wie eine Finte, der ich nicht vertrauen durfte.

Einige Professoren nahmen Kontakt auf, boten mir an, die Prüfungen im Frühjahr nachzuholen oder durch eine andere Zusatzleistung zu ersetzen. Würde ich mich nicht die meiste Zeit über so taub fühlen, wäre ich vermutlich vor Dankbarkeit zusammengebrochen.

Die einzigen Male, die ich wirklich das Haus verließ, waren meine Termine mit Dr. Singh und die Spaziergänge, zu denen meine Mutter mich zwang. Entgegen meiner Erwartung war sie es gewesen, die mich dazu ermutigt hatte, Kennedy anzurufen. Es war ein kurzes Telefonat gewesen, und doch hatte mein Herz sich bei jedem ihrer Worte schmerzhaft zusammengezogen. Ich vermisste sie fürchterlich. Sie und ihre dreckigen Laufschuhe, ihren viel zu lauten Mixer, ihre Angewohnheit vor Sonnenaufgang bereits einen ganzen Marathon zu laufen. Es wirkte wie ein Einblick in die Zukunft nach unserem Abschluss, wenn unsere Wohnung nicht länger unser Dreh- und Angelpunkt sein würde, der uns jeden Tag zusammenbrachte.

Bei Blake hatte ich es gar nicht erst versucht, auch wenn mein Herz sich so sehr nach ihm sehnte. Er war mittlerweile vermutlich wieder bei seinem Vater und würde anschließend nach Georgia aufbrechen, wo sie im Halbfinale gegen Alabama antreten würden. Ich wollte ihm nicht dazwischenfunken, wenn gerade die wichtigsten Spiele seiner bisherigen Karriere anstanden. Nicht, wenn ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Stattdessen beobachtete ich von meinem Platz auf der Couch aus, wie meine Mutter sich in eine übertrieben dicke Winterjacke einpackte, dazu Schneestiefel anzog und aussah, als wäre sie auf einer Expedition in der Antarktis.

„Ich fahre dann mal", kommentierte sie, während sie sich ihre Handtasche über die Schulter schlang. „Bevor die Geschäfte zu voll werden und ich den Pinot Noir für deine Grandma nicht mehr bekomme."

Ein stetiges Schuldgefühl gemischt mit ewiger Dankbarkeit knabberte an meinen Organen. Es schien, als würde sich momentan jeder verbiegen, um meinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Meine Mom, die bereits seit fast zwei Wochen in diesem Bungalow mit mir festsaß und im Krankenhaus meinen Vater ertragen hatte, bevor er seinen Heimweg angetreten hatte. Kennedy, die meiner Mutter meine Sachen zur Verfügung stellte, ohne zu verlangen, mich endlich zu Gesicht zu bekommen, obwohl ich wusste, dass sie das wollte. Und nun meine Tante und meine Großeltern, die dieses Jahr nicht nach Phoenix kamen, sondern nach Michigan, um hier mit uns Weihnachten zu feiern.

Meine Mutter hatte die Frage, ob ich mich bereit fühlte, einen Flughafen zu betreten gar nicht aussprechen müssen, um zu wissen, dass das eine rhetorische Frage gewesen wäre. Nicht, wenn allein der Gedanke an einen Besuch in einem Supermarkt mich momentan in Kaltschweiß versetzte.

Dr. Singh war der Meinung, dass ich nur etwas Zeit brauchte. Ich wollte ihren Worten Glauben schenken – in Momenten wie diesen fiel es mir allerdings schwer.

„In Ordnung", erwiderte ich deshalb mit einem schwachen Lächeln. „Bis nachher."

Während sie im Flur verschwand, richtete ich meinen Blick wieder auf die Fensterfront, hinter der die Schneeflocken gen Boden segelten. Dieses Jahr würde wohl das erste werden, das wir klassisch mit weißer Weihnacht feiern würden. Unsere Pläne für den heutigen Abend beinhalteten heiße Schokolade und eine Weihnachtskomödie, die uns daran erinnerte, dass wir übermorgen bereits feiern würden. Wir hatten keinen Weihnachtsbaum und nur wenig Dekoration, aber so, wie ich meine Mutter kannte, würde sie sich auch kurzfristig noch etwas einfallen lassen.

all night long | ongoingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt