1 1 | t i e f k ü h l t h e k e

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DAS GERÄUSCH DER Kreide, die unter meinen Fingern über die dunkelgrüne Tafelfläche glitt, vermischte sich mit dem Geflüster von Teenagern, Kugelschreiber, deren Spitzen gegen das billige Holz der Tische tippten und Mrs. Davis, die einen Monolog über die Motive der Hauptfigur in „Der Fänger im Roggen" führte.

„Holdens Aussage gegenüber Mr. Spencer, sich auf der ‚anderen Seite' des Lebens gefangen zu fühlen, verbunden mit der Annahme, dass seine eigene Isolation zu bedeuten hat, dass er sich seinem Umfeld überlegen fühlt, lässt auf eine Art Entfremdung als Selbstschutz schließen."

Ich notierte in Stichpunkten ihre Aussagen, wobei ich etwa zwanzig Augenpaare in meinem Rücken spürte. Um etwas reifer und weniger zu wirken, als würde ich eher in die Reihen der Highschool Schüler gehören als ins Lehrerzimmer, steckte ich heute in einem Blazer und einer gerade geschnittenen Stoffhose, die mir wenigstens eine Illusion von Professionalität gab. Und die eher züchtige Kleidung verhinderte zumindest, dass die Jungs in der letzten Reihe einen ausgiebigen Blick auf meinen Hintern bekamen.

„Das verstärkt sich durch den roten Jagdhut, der als Sinnbild immer wieder auftaucht und damit mit als bekanntestes Symbol der amerikanischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert gilt." Miss Davis griff nach einem Stapel Papier, den sie mit einem Lächeln an mich weiterreichte. Vermutlich war ihr Lächeln deshalb so freundlich, weil ich als einzige wirklich zuzuhören schien. „Der Fänger im Roggen" war nicht unbedingt meine Lieblingsliteratur dieser Zeitperiode, doch es gab auch sehr viel langweiligere Alternativen. „Auf den Arbeitsblättern findet ihr ein paar Zitate, die ihr in Gruppen erarbeiten sollt. Wenn es Fragen gibt, wendet euch gerne an Miss West oder mich."

Es war merkwürdig, so bezeichnet zu werden – Miss West. Als wäre ich in einem Bankgespräch und würde mich über die steigenden Zinsen erkundigen. Doch ich konnte den Schülern schlecht das Du anbieten, besonders wenn ich aufgrund meines Alters sowieso schon in Gefahr geriet, mit ihnen verwechselt zu werden. Ich wollte diesen besonderen Draht zu den Schülern, die Fähigkeit über die Schulunterlagen hinaus mit ihnen zu kommunizieren und ihnen wichtige Lektionen im Leben zu erteilen, doch langsam fragte ich mich, wie sich das gestalten sollte, wenn ich auch nur einen Funken Professionalität behalten wollte.

Ich verteilte die Arbeitsblätter unter den Schülern, die aussahen, als könnten sie das Läuten der Schulklingel kaum mehr abwarten. Ich hatte bereits einen Morgenkurs auf dem Campus hinter mir, woraufhin ich im Stechschritt zu unserer Wohnung zurückgehechtet war, nachdem ich mich selbst überschätzt hatte und zu Fuß zu meiner Vorlesung gegangen war. Ich hatte mich beeilen müssen, um noch rechtzeitig zur fünften Stunde hier zu sein, wenn Miss Davis ihre Abschlussklasse ein letztes Jahr über englische Literatur belehrte.

Einen Vorteil hatte es jedoch, die Assistenz der Lehrerin zu sein. Während die Schüler arbeiteten und Miss Davis das Quiz für nächste Woche vorbereitete, konnte ich mich in meinem Stuhl zurücklehnen und die Klasse in Ruhe beobachten.

In den zwei Wochen, die ich bereits an der Dexter Highschool dem Englischunterricht beiwohnen durfte, hatte ich bereits so viel Tratsch aufgefangen, wie seit meinen eigenen Highschool Jahren nicht mehr. Besonders beliebte Themen waren getrennte Eltern, Teenie-Schwärme und beste Freundinnen, die auf einmal kein Wort mehr miteinander wechselten. Das Cheerleading-Team schien für diese Art von Konflikten ganz besonders anfällig zu sein.

Die Grüppchenbildung schien auch in dieser Stunde wieder vorbildlich klischeehaft zu sein. Meist fanden sich gleichgeschlechtliche Gruppen, die ähnliche Hormonspiegel besaßen und in ein Gruppendenken ausbrachen, sobald man sie für fünf Minuten allein ließ.

Eine besondere Ausnahme – das Dreier-Geflecht, das eine interessante Dynamik besaß. Zwei Jungs und ein Mädchen, das des einen besten Freundin und des anderen schlimmste Feindin zu sein schien. Während Ezra und Jack sich wie Brüder verhielten, schienen zwischen Jack und Olivia nur schnippische Bemerkungen und eisige Stille zu herrschen. Ezra, der Ärmste, schien gänzlich zwischen den Stühlen zu stehen.

all night long | ongoingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt