Kapitel 17: Eskalation

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»Wouh«, dachte sich Estella beim Vorbeilaufen. Brennen prüfte sich von Kopf bis Fuß im Spiegel. Estella dachte, das würde nur eine schlampige WG-Party werden!

»Ich dachte, das würde nur eine WG-Party werden? Muss ich mich dafür etwa aufbrezeln?« fragte sie nach.

»Aufbrezeln? Findest du ich sehe zu schick aus?«

»Neeeeeeieeen!« quäkte sie, »darum geht es doch gar nicht! Du kannst dich doch anziehen wie du willst, aber wie sollte ich mich denn anziehen?«

Brennen guckte sie halb im Scherz vorwurfsvoll an.

»So wie du willst.«

Fürchterlich, so eine Antwort! Diese Art von Antwort könnte er sich auch gerne in den A... Sie musste sich entscheiden, ein Kompromissoutfit finden. Sie wählte ihr orientalisch glitzerndes Chakra Oberteil, in Kombination zu einer roten Baskenmütze mit einer angesteckten Pfauenfeder und einer leichten, lila Sommerhose. Ihre Unterwäsche wechselte sie nicht extra. Heute würde es definitiv erstmal keinen Sex geben. Die WG lag nicht weit entfernt vom besetzten Haus, nur einige Backläden die Straße runter und dann rechts. Ein altes Gebäude, dessen oberstes Geschoss von der WG selbst eingenommen wurde. Gleich im Treppeneingang klebte ein dickes Absperrband, das den Fußweg nach oben versperrte. Sie hatten wohl das Treppenhaus der anderen Hausbewohnenden für Partygäste unbegehbar gemacht. Clever. Brennen drückte auf den Aufzugsknopf, der einen roten, quietschenden Kasten nach unten bewegte, und als die Türen aufbretterten sah Estella kleinwüchsig Bartendende in einem passenden, edlen Spionage-Tuxedo, auf einem winzigen Campingstuhl sitzend, mit einer weißen Plastikplatte um den Wanst geschnallt, auf dem sie Shotgläser balancierten.

»Bitte was?« hörte sie Kashas Reaktion vom Dschungel her hochhallen.

Die kleinwüchsig Spionierenden - Edelwesen, die sie waren - boten den beiden Neuankömmlingen einige Erfrischungen zur Auswahl an. Estella kam auf diesen Vergleich, da es in Brennens Freundschaftskreis aktuell sehr modisch war uralte Singlet-Filmklassiker in eigenen Kunstprojekten weiterzuverarbeiten. Meistens mit einem Touch von »Was wäre, wenn es damals schon eine plurale Gesellschaft gegeben hätte«. Im Aufzug der Minispionierenden gab es jedenfalls einen Pfirsich und einen Pfefferminz für insgesamt Zwei PW. Bei der Fahrt nach oben machte der Secret Service ein paar elegante Tanzbewegungen, die Estella beinahe zum laut loskichern gebracht hätten. Als sie angekommen waren und sich der Zugang zum obersten Stockwerk für sie öffnete, blieb Estella erst noch eine Weile stehen. Sie drehte sich hektisch zu den Doppelbartendenden um, kniete sich auf Augenhöhe neben sie hin, und flüsterte ihnen ins Ohr:

»Seid ihr okay? Ihr macht das doch gerne, oder?«

Sie hatte keine Ahnung, wie sie sonst ihre inneren Befürchtungen zum Ausdruck hätte bringen sollen, dass Kleinwüchsige bestimmt in solchen Momenten genauso von ihren inneren Zwangsgedanken belagert werden mussten, wie sie es wurde, wenn sie vorhatte in einem hautengen Kleid auf die Straße zu gehen. Obgleich es einfach keine »richtigen Formulierungen« in solchen Situationen zu geben schien, hasste sie es aber dann doch immer mehr gar nichts anzumerken. Sie konnte ja nicht wissen, ob irgendetwas in ihnen still und unterdrückt um Hilfe schrie, oder nicht. Zum Glück wurde ihr Anliegen dann doch meistens so verstanden, wie es gemeint war. Die britischen Geheimkräfte in ihrem schnieken Tuxedo kugelten sich nämlich jetzt fast vor Lachen.

»Schwester, wir SIND hier die Party! Ooooweeeeeyyyy!«

Sie wedelten wild mit dem Cocktailshaker als die Türen des Aufzugs langsam wieder um sie herum zugingen. Estella sah sich um. Das oberste Geschoss war weniger wie ein bewohnbares Stockwerk, und mehr wie eine Kunsthalle für Modernes und Abstraktes. Lange, rote Farbschliere waren an den Wänden entlanggepinselt worden. Licht kam nur abgeschwächt, in bunten Spektren von irgendwoher anders durch, und ein bassiges Dröhnen elektronischer Tanzmusik pochte entlang der Wände.

Plurale Welt - Ebene 01/03: GeburtDonde viven las historias. Descúbrelo ahora